Table Of ContentDetlef Horster 
Das Sokratische Gespräch 
in Theorie und Praxis
Detlef Horster 
Das Sokratische Gespräch 
in  Theorie und  Praxis 
Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
ISBN 978-3-8100-1152-7  ISBN 978-3-663-07685-8 (eBook) 
DOI 10.1007/978-3-663-07685-8 
© 1994 by Springer Fachmedien Wiesbaden 
Urspriinglich erschienen bei Leske + Budrich, Opladen 1994. 
Das Werk einschliefilich aHer seiner Teile ist urheberrechtiich geschiitzt. Jede Verwertung auBerhalb 
der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulăssig und 
stratbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfliltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die 
Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Für Gustav Heckmann, 
von dem ich die Sokratische Gesprächsführung 
lernte.
Inhalt 
Vorwort  .•.•.•.•.•.•.•.•.•.•.•.•.•.•.•.•.••••••••.•.•.•.•.•••.•.•.•.•.•.•.•••••.•.•.•.•.•••.•••.•.••••.•. 7 
I.  Zur geschichtlichen Entwicklung der Sokratischen Methode ........... 9 
1.  Der Sokratische Dialog in der Antike ................................................ 9 
a) Sokrates und Platon ........................................................................ 9 
aa) Ziel der Sokratischen Methode ............................................... 9 
bb) Die Ideen ............................................................................... 11 
cc) Das Verhältnis von Idee und Einzelding .............................. 15 
dd) Die dialektische Methode ..................................................... 17 
ee) Dialogisches Philosophieren und Kritik der Schriftform ...... 19 
ft)  Beispiele für dialektisch-dialogisches Philosophieren .......... 20 
b) Aristoteles .................................................................................... 23 
2.  Leonard Nelson ................................................................................ 26 
3.  Gustav Heckmann ............................................................................ 33 
11.  Theoretische Grundlagen des Sokratischen Gesprächs heute ......... 41 
1.  Paradigmenwechsel .......................................................................... 41 
2.  Wahrheit ........................................................................................... 44 
3.  Vernunftauffassung und Erfahrungsprozeß 
im Sokratischen Gespräch ................................................................ 48 
111. Die praktische Durchführung des Sokratischen Gesprächs ............. 55 
1.  Die Aufzeichnung eines Sokratischen Gesprächs 
als Einstieg in die Praxisanleitung ................................................... 55 
a) Regeln für die Leiterin oder den Leiter ....................................... 63 
b) Regeln für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ........................ 64 
2.  Die Abstraktion ................................................................................ 66 
a) Begriffsklärung ............................................................................ 67 
aa)  "Wir alle wollen sinnvoll leben. 
Was ist ein sinnvolles Leben?" ............................................. 67 
bb) "Alle Menschen sterben, was bedeutet der Tod 
für unser Leben? ................................................................... 70 
5
cc) "Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden" 
(Rosa Luxemburg) ................................................................ 72 
b) Welche Werte liegen einer Entscheidung zugrunde? .................. 73 
c) Durch Abwägen eine Frage beantworten .................................... 76 
aa) Bringt uns die Technik eine bessere Zukunft? ...................... 76 
bb) Können sich die einzelnen Menschen mit der Republik 
identifizieren? ....................................................................... 78 
d) Bestimmung der Abstraktionswege nach Diskurstypen .............. 79 
3.  Die Auswahl des Anfangsbeispiels im Sokratischen Gespräch ....... 82 
4.  Die Argumentation ........................................................................... 86 
5.  Die Wandtafelanschrift .................................................................... 92 
6.  Die Intervention der Leiterin oder des Leiters ................................. 94 
7.  Die Ironie als maieutische Technik im Sokratischen Gespräch ....... 97 
8.  Die Vorbereitung auf eine Leitung ................................................ 100 
9.  Die Supervision .............................................................................. 114 
10. Das Arrangement (Wochenplan, Namensspiel, 
Stimmungsbarometer, Steckbrief, Bewegungsübungen) ............... 120 
Anmerkungen ..................................................................................... 133 
6
Vorwort 
Was heute zu beklagen ist, ist die Distanz, die zwischen der Philosophie und 
dem Leben besteht. Das Sokratische Gespräch in der heutigen Form hat zum 
Ziel, diese Distanz zu verringern. Das Ziel ist demnach ein pragmatisches: 
die enge Anbindung der Theorie an die Praxis und umgekehrt. Darauf werde 
ich im zweiten Kapitel bei der Behandlung des Erfahrungsprozesses im So 
kratischen Gespräch ausführlicher eingehen. 
Ziel bei der Durchführung von Sokratischen Gesprächen ist die Klärung 
von Begriffen, die jeder Mensch im Alltag gebraucht, ohne sich darüber Re 
chenschaft zu geben. Sokrates nannte diese unbedacht gebrauchten Begriffe 
"Windeier".  Die  im  Sokratischen  Gespräch  neubestimmten  Begriffe  sind 
Maßstäbe für die Analyse realer Verhältnisse. Diese Maßstäbe können mehr 
Sicherheit bei alltäglichen Einschätzungen geben und ein besseres Zurecht 
finden im Alltag ermöglichen. 
Neben der sachlich-explikativen Klärung eines Begriffs hatte der sokrati 
sch-platonische Dialog ein weiteres Ziel, das ich im ersten Abschnitt des er 
sten Kapitels ausführlicher behandeln werde: Während die Sophisten - wie es 
Sokrates im Dialog "Gorgias" vorführte - ihre eigene Meinung durchzuset 
zen strebten, indem sie geschickt redeten und überredeten, kam es Sokrates 
auf die Bildung einer moralischen Haltung im theoretischen Dialog an. Die 
Menschen sollten fähig werden, mit anderen zu kommunizieren und ihre ei 
gene Meinung zu korrigieren. Kurz: Die Kommunikationskultur sollte ver 
bessert werden.  Dialogprinzip war die Anerkennung der Gleichwertigkeit 
und das Ernstnehmen aller Gesprächspartner. In den Sokratischen Dialogen 
der Antike, an die Leonard Nelson 1922 anschließt, kamen demnach prakti 
sche und theoretische Intentionen zur Deckung. Diese beiden Vernunftmo 
mente zur Deckung zu bringen ist auch die Absicht in den Sokratischen Ge 
sprächen, so wie ich sie heute durchführe. 
Ich werde in diesem Buch an entsprechenden Stellen kritische Anmerkun 
gen zur von Nelson und Heckmann vorgeschlagenen Form des Sokratischen 
Gesprächs machen. An diese Kritikpunkte habe ich angeknüpft und Weiter-
7
entwicklungen vorgeschlagen, die im dritten Kapitel nachzulesen sind. Au 
ßerdem habe ich in der theoretischen Grundlegung des Sokratischen Ge 
sprächs eine andere Auffassung als Nelson und Heckrnann. Diese neue theo 
retische Grundlegung habe ich unter Bedingungen der philosophischen Ge 
genwart im zweiten Kapitel entwickelt. 
Mein Hauptanliegen mit dieser Publikation ist es, eine Theorie und Praxis 
des Sokratischen Gesprächs vorzulegen, die auf der Erfahrung von inzwi 
schen annähernd 200 Leitungen Sokratischer Gespräche beruht, die ich in 
den vergangenen 15 Jahren durchgeführt habe. Das Buch will darum vor al 
lem eine Anleitung für das Leiten Sokratischer Gespräche sein. Dazu gebe 
ich im dritten Kapitel reichlich Material an die Hand. 
So wie sie hier vorgestellt wird, ist die Form des Sokratischen Gesprächs in 
ständiger Diskussion mit der Gruppe der Leiterinnen und Leiter beim Lan 
desverband der Volkshochschulen Niedersachsens entwickelt worden. Stets 
nach der Leitung von Sokratischen Gesprächen trafen wir uns zur Praxisbe 
gleitung und haben offen die dabei aufgetretenen Schwierigkeiten in unseren 
Gruppen thematisiert. Daraus resultierten immer erneut Modifikationen der 
Durchführungsweise, die insgesamt zu der heute vorliegenden und hier vor 
gestellten Form des Sokratischen Gesprächs geführt haben. Dieses Ergebnis 
ist somit ein Gruppenprodukt und verdankt sein Entstehen denjenigen, die im 
Verlaufe der vergangenen zehn Jahre aktiv an der Entwicklung beteiligt wa 
ren. 
Zur Einführung oder um sich einen ersten Eindruck von dem Sokratischen 
Gespräch wie ich es heute durchführe, zu verschaffen, kann vorweg der erste 
Abschnitt des dritten Kapitels gelesen werden. 
8
I.  Zur geschichtlichen Entwicklung der Sokratischen 
Methode 
1.  Der Sokratische Dialog in der Antike 
a.  Sokrates und Platon 
aa)  Ziel der Sokratischen Methode 
Der Begründer der Gesprächsform, die im vorliegenden Buch vorgestellt 
werden soll, der von  1882 bis 1927 lebende Göttinger Philosoph Leonard 
Nelson, steht in der Tradition des antiken Sokrates, nach dem Nelson das Ge 
spräch auch benannte. Diese Gesprächsform wurde von Nelson dem Sokrati 
sch-Platonischen Dialog nachgebildet, in welchem nach dem wahren Wissen 
über das Wesen einer Sache gesucht wurde.  Allerdings hatte Nelson be 
stimmte Eigenschaften des Sokratischen Dialogs und eine bestimmte Art des 
Wissens im Blick.(I) Die verschiedenen Wissensformen, in den von Platon 
überlieferten Sokratischen Dialogen, hat zuletzt Christiane Schildknecht auf 
gelistet.(2) Von diesen Formen interessierte Nelson nur das dialektische Wis 
sen,  das folgendes  zentrales  Merkmal  aufweist:  Im  dialektischen Wissen 
kommen die beiden Intentionen, die theoretische wie die praktische zur Dek 
kung. Das bedeutet - und ich wiederhole das im Vorwort bereits Angespro 
chene hier ausführlicher - folgendes: "Die Ernsthaftigkeit des Sokratischen 
Dialogs, die in seiner Begründungs- und Verständigungsorientiertheit zum 
Ausdruck kommt, spiegelt die ihm zugrundeliegende ethische Haltung wider 
und unterscheidet ihn dadurch von der Dialogpraxis der Sophisten. [ ... ] Im 
Sokratisch-elenktischen Dialog [ ... ] stehen nicht die Meinungen philosophi 
scher Subjekte, sondern diese philosophischen Subjekte selbst auf dem Spiel. 
Es geht hier gerade nicht um die eigene Meinung, [ ... ] sondern um die Bil 
dung philosophischen Wissens unter einer Vernunftperspektive. Die Bildung 
dieses Wissens bedeutet gleichzeitig die Bildung des philosophischen Sub 
jekts: Nicht die Durchsetzung von etwas bereits gegenständlich Verfügba 
rem, sondern die Bildung von etwas Ungegenständlichem (einer philosophi 
schen Orientierung oder Haltung) in Auseinandersetzung mit anderen ist das 
Ziel der Platonischen Dialoge."(3) 
Es  kam  Sokrates  also  auf die  Bildung  einer  moralischen  Haltung  im 
theoretischen Dialog an. Die Menschen sollten fähig werden, mit anderen zu 
kommunizieren und ihre eigene Meinung zu korrigieren. Die dazu notwen 
dige moralische Einstellung ist die Anerkennung der Gleichwertigkeit ande 
rer Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner und das Ernstnehmen der 
9
anderen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner. Das war für Nelson 
und ist für diejenigen, die seine Form der Gesprächsführung praktizieren, das 
Wichtigste in den Platonisch-Sokratischen Dialogen. 
Den theoretischen Anteil im Sokratischen Gespräch bildet die Wahrheits 
suche. Auch sie orientierte sich bei Nelson an der antiken griechischen Philo 
sophie und nur soweit es für das Verständnis des heutigen Sokratischen Ge 
sprächs erforderlich ist, werde ich auf sie eingehen. 
Es war die Suche nach dem Wesen (ousia) einer Sache und nach dem We 
sen von aIIem, was ist, was die antiken Philosophen beschäftigte. Um zum 
Wesen zu gelangen, wollten Sokrates(4) und Platon von den konkreten Ein 
zeldingen ausgehen. Sie waren der Ausgangspunkt der Suche nach dem We 
sen und der Wahrheit (aletheia) als der Aussage über das Wesen. Wahrneh 
men konnte jeder einzelne Mensch. Über das Wahrgenommene konnte er 
sich eine Meinung (d6xa) bilden. Etwa: "Zum Baum gehört es wesentlich, 
einen Stamm zu haben und Blätter zu tragen." Der Betrachter konnte aller 
dings nie sicher sein, ob seine auf das Wahrgenommene bezogene Äußerung 
lediglich eine bloße Meinung oder eine wahre Aussage war. Im Dialog mit 
anderen konnte diese Meinung überprüft, korrigiert oder bestätigt werden. 
Das geschah in folgender Weise: Der Proponent machte eine Aussage. Der 
Opponent konnte diese Aussage anzweifeln, indem er Einwände formulierte. 
Dieser argumentative Prozeß mußte so lange weitergeführt werden, bis keine 
plausiblen Einwände mehr vorgebracht werden konnten. Auf diesem Wege 
gelangten die antiken Philosophen von der bloßen Meinung zur gesicherten 
Wahrheit, also zur wahren, statt zur nur vermeintlich wahren Aussage. So 
verfahren wir mit anderen - in Kapitel 11 dargesteIlten - Voraussetzungen 
auch heute im Sokratischen Gespräch. 
"Das Wesentliche einer Sache wird durch jene Merkmale konstituiert, ohne 
die sie diese Sache nicht sein kann." (5) Würde man das Wesen von der Sa 
che wegnehmen, wäre sie nicht mehr die Sache, weil sie ihres Wesens be 
raubt wäre. Wir nennen die das Wesen ausmachenden Merkmale die not 
wendigen Eigenschaften einer Sache im Gegensatz zu den hinreichenden, die 
an einer Sache sein können, aber nicht müssen. Zur Verdeutlichung ein Bei 
spiel: "Die Summe der Winkel eines jeden Dreiecks ist 180 Grad, es mag 
sich dabei um ein rechtwinkliges, stumpf- oder spitzwinkliges Dreieck han 
deln. Es ist nicht möglich, daß die Summe der Winkel eines Dreiecks mehr 
oder weniger ist als 180 Grad. ,Dies ist ein notwendiges Merkmal aller Drei 
ecke, und es definiert zumindest teilweise die Dreieckshaftigkeit von Dreiek 
ken;  es  ist eine  wesentliche  Voraussetzung  für  die  Existenz  eines  Drei 
ecks."(6) 
Bei der Wesenssuche entstand in der antiken Philosophie folgendes zentra 
les Problem: Das Wesen sollte das Unvergängliche, Ewige sein. Die konkrete 
Sache ist vergänglich. Sie aber kann nicht bestehen, wenn sie nicht am We 
sen Anteil hat. Wie nun diese Anteilnahme (methexis) auszusehen hatte, war 
10