Table Of ContentNaturwissenschaftliche Einf(cid:252)hrungen im dtv Das Innerste der Dinge
Herausgegeben von Olaf Benzinger
Einf(cid:252)hrung in die Atomphysik
Von
Brigitte R(cid:246)thlein
Mit Schwarzwei(cid:223)abbildungen von
Nadine Schnyder
Brigitte Röthlein geboren 1949, ist Diplomphysikerin und wurde
1979 in Zeitungswissenschaft, P(cid:228)dagogik und Geschichte der
Naturwissenschaften promoviert. Seit 1973 arbeitet sie als
Wissenschaftsautorin f(cid:252)r diverse Zeitungen und Zeitschriften
sowie f(cid:252)r Fernsehen und Rundfunk. Ihr Hauptinteresse gilt der
Grundlagenforschung. Von 1993 bis 1996 leitete sie neben
ihrer freien publizistischen T(cid:228)tigkeit das Geschichtsmagazin
>Damals<. Buchver(cid:246)ffentlichungen: >Unser Gehirn wird ent-
schl(cid:252)sselt (1993) und >Mare Tranquillitatis, 20. Juli 1969 Die
wissenschaftlich-technische Revolution (1997). Deutscher Taschenbuch Verlag
Ein (cid:220)berblick (cid:252)ber die gesamte Reihe findet sich am Ende des
Bandes.
Inhalt
Vorbemerkung des Herausgebers 7
Eine geniale Entdeckung 9
Der Blick ins Innerste der Materie
Eine folgenschwere Zufallsentdeckung 17
Geheimnisvolle Strahlen (cid:133)(cid:133)(cid:133)(cid:133)(cid:133)(cid:133)(cid:133)(cid:133)(cid:133)(cid:133)(cid:133)(cid:133)(cid:133)(cid:133)(cid:133)26
Die Erforschung des Atoms 32
Die Entdeckung der Kernkraft 52
Die erste Uranspaltung 56
Der atomare Teilchenzoo 62
Die Entstehung der Elemente 74
Vom Nutzen und Schaden der Radioaktivit(cid:228)t 82
Anhang
Das heutige Periodensystem der Elemente 108
Glossar 110
Weitere Literatur 115
Register 117
Originalausgabe
November 1998
' Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, M(cid:252)nchen
Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen
Umschlagbild: ' Lawrence Berkeley Laboratory
Redaktion und Satz: Lektyre Verlagsb(cid:252)ro
Olaf Benzinger, Germering
Druck und Bindung: C. H. Beck’sche Buchdruckerei, N(cid:246)rdlingen
Gedruckt auf s(cid:228)urefreiem chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in Germany (cid:149) ISBN 3-423-33032-5
Vorbemerkung des Herausgebers
Dieses Buch widme ich Kyoto. Die Anzahl aller naturwissenschaftlichen und technischen Ver-
der Stadt, die wegen ihrer Sch(cid:246)nheit (cid:246)ffentlichungen allein der Jahre 1996 und 1997 hat die Summe
der atomaren Bedrohung entging der entsprechenden Schriften s(cid:228)mtlicher Gelehrter der Welt
vom Anfang schriftlicher (cid:220)bertragung bis zum Zweiten
B.R. Weltkrieg (cid:252)bertroffen. Diese gewaltige Menge an Wissen
sch(cid:252)chtert nicht nur den Laien ein, auch der Experte verliert
selbst in seiner eigenen Disziplin den (cid:220)berblick. Wie kann vor
diesem Hintergrund noch entschieden werden, welches Wissen
sinnvoll ist, wie es weitergegeben werden soll und welche
Konsequenzen es f(cid:252)r uns alle hat? Denn gerade die Naturwis-
senschaften sprechen Lebensbereiche an, die uns - wenn wir es
auch nicht immer merken - tagt(cid:228)glich betreffen.
Die Reihe >Naturwissenschaftliche Einf(cid:252)hrungen im dtv<
hat es sich zum Ziel gesetzt, als Wegweiser durch die wichtigsten
Fachrichtungen der naturwissenschaftlichen und technischen
Forschung zu leiten. Im Mittelpunkt der allgemeinver-
st(cid:228)ndlichen Darstellung stehen die grundlegenden und ent-
scheidenden Kenntnisse und Theorien, auf Detailwissen wird
bewusst und konsequent verzichtet.
Als Autorinnen und Autoren zeichnen hervorragende Wis-
senschaftspublizisten verantwortlich, deren Tagesgesch(cid:228)ft die
popul(cid:228)re Vermittlung komplizierter Inhalte ist. Ich danke jeder
und jedem einzelnen von ihnen f(cid:252)r die von allen gezeigte
bereitwillige und konstruktive Mitarbeit an diesem Projekt.
Der vorliegende Band befa(cid:223)t sich mit der Erforschung der ato-
maren und subatomaren Welt. Auf lebendige Weise verfolgt
Brigitte R(cid:246)thlein die Entwicklung von den fr(cid:252)hen Experimenten
von Wilhelm R(cid:246)ntgen, Ernest Rutherford, Marie Curie und
anderen - deren Ergebnisse zun(cid:228)chst so gar nicht in Einklang
mit der klassischen Physik um die Jahrhundertwende zu bringen
waren-, bis hin zur modernsten Reaktortechnik und zu den Eine geniale Entdeckung
gigantischen Teilchen-Beschleunigern, die uns in immer fernere
Mikroweiten fuhren. Der Leser hat die M(cid:246)glichkeit den
schillernden Vertretern des »Goldenen Jahrhunderts der
Atomphysik« bei ihren zentralen Versuchen und Theoriebil- Es war, wie er selbst sagte, das unglaublichste Vorkommnis,
dungen (cid:252)ber die Schulter zu schauen: Max Planck, Albert Ein- das ihm je begegnet war. Ernest Rutherford, der ber(cid:252)hmte
stein, Niels Bohr, Werner Heisenberg, Richard Feynman oder Physiker, der im Jahr zuvor den Nobelpreis erhalten hatte, war
Lise Meitner und Otto Hahn - um nur einige zu nennen. Da- zum ersten Mal in seinem Leben ratlos. Dabei war er sonst als
neben diskutiert die Autorin fundiert Gefahren und Chancen der sehr selbstsicherer, eher lauter, ja polternder Chef bekannt.
»angewandten Atomphysik«, der technischen Nutzung der George Gamow charakterisierte ihn 1965 in seinem Buch
Radioaktivit(cid:228)t: von der Atombombe (cid:252)ber Fusionsreaktoren zu >Biographische Physik< durch ein kleines Gedicht:
Kompliziertesten Computer-Tomographen. »Diesen h(cid:252)bschen, kr(cid:228)ftigen Lord
kannten wir als Ernest Rutherford.
Olaf Benzinger Aus Neuseeland kam er, eines Bauern Sohn,
der nie verlor seinen erdgebundenen Ton.
Seine starke Stimme, seines Lachens Schall
drangen durch die T(cid:252)ren (cid:252)berall.
Doch wenn der Zorn ihn (cid:252)berkam,
waren die Worte gar nicht zahm!«
Seine laute Stimme st(cid:246)rte sogar physikalische Experimente,
die zum Teil sensibel auf Ersch(cid:252)tterungen und Schallwellen
reagierten. Da aber niemand wagte, ihm als gestrengem Insti-
tutsdirektor dies zu sagen, baute man ein Leuchtschild und
h(cid:228)ngte es an die Decke. Darauf stand: »Talk softly please«
(Sprechen Sie bitte leise). Ob es Erfolg hatte, ist nicht bekannt.
Man schrieb das Jahr 1909. In seinem Labor an der Uni-
versit(cid:228)t Manchester hatte der 38j(cid:228)hrige Institutschef Ernest
Rutherford einen jungen Mann namens Ernest Marsden damit
beauftragt, Streuversuche mit Alphateilchen zu machen. Diese
nur wenige Jahre zuvor entdeckten Teilchen werden von be-
stimmten radioaktiven Stoffen ausgesandt, zum Beispiel von
Radium. Seit Jahren hatte sich Rutherford damit besch(cid:228)ftigt,
in fein geplanten und sorgf(cid:228)ltig ausgef(cid:252)hrten Experimenten
ihre Eigenschaften zu ermitteln. Angesichts der (cid:151) verglichen
mit heute - primitiven Ger(cid:228)te und Messapparaturen war dies
ein schwieriges Unterfangen, das viel Geduld, Ausdauer und
Intuition erforderte. Immerhin wu(cid:223)te man im Jahr 1909 schon,
da(cid:223) die so genannten Alphastrahlen aus Teilchen bestanden,
die eine positive elektrische Ladung trugen. Au(cid:223)erdem hatte
Rutherford zusammen mit seinen Mitarbeitern gemessen, da(cid:223)
diese Teilchen im Vergleich zu anderen, etwa Elektronen,
ziemlich schwer waren. Rutherford stellte sie sich deshalb ganz
Das Beschie(cid:223)en eines Atoms mit Alphateilchen: Da sich gleichnamige
bildlich als kleine Geschosse vor, die aufgrund ihrer relativ hohen
Ladungen absto(cid:223)en, werden die positiv geladenen Alphateilchen durch den
Masse und ihrer riesigen Geschwindigkeit eine durchschlagende ebenfalls positiv geladenen Atomkern abgelenkt.
Wirkung besa(cid:223)en. Sie rasten, das hatten ebenfalls Messungen
ergeben, mit rund zehntausend Kilometern pro Sekunde durch
die Luft.
Marsden hatte nun nach Anweisung seines Chefs folgenden Neben diesem erwarteten Effekt trat aber noch eine weitere
Versuch ausgef(cid:252)hrt: Er hatte derartige Alphateilchen auf eine Erscheinung auf, mit der weder Marsden noch sein Lehrer
d(cid:252)nne Metallfolie geschossen und gemessen, ob und wie die Rutherford gerechnet hatten: Einige, wenn auch wenige Al-
Teilchen dadurch von ihrem geradlinigen Weg abgelenkt (cid:151) ge- phateilchen trafen auf dem Schirm nicht nur knapp neben dem
streut (cid:151) wurden. Man erwartete, da(cid:223) die Partikel beim Durch- Abbild des Schlitzes auf, sondern weit davon entfernt, ja
gang durch die Folie ein paar Mal mit Metallatomen zusam- manche wurden durch die Folie sogar um neunzig Grad und
mensto(cid:223)en und dadurch kleine Auslenkungen erfahren w(cid:252)rden. mehr abgelenkt, bei einer Platinfolie wurde (cid:252)berdies etwa jedes
Im Experiment konnte man das dadurch nachweisen, da(cid:223) man achttausendste Teilchen ganz zur(cid:252)ckgeworfen. »Das war fast
die Teilchen zuerst durch eine schmale Schlitzblende b(cid:252)ndelte, sie so unglaublich«, sagte Rutherford sp(cid:228)ter in einer Vorlesung,
dann durch die Metallfolie schoss und den Strahl anschlie(cid:223)end »als ob man aus einer Pistole eine Kugel auf einen Bogen
auf einem Schirm auffing, der mit fluoreszierendem Material Seidenpapier abfeuert, und sie kommt zur(cid:252)ck und trifft den
bestrichen war. An den Stellen, an denen ein Alphateilchen auf Sch(cid:252)tzen.«
dem Schirm auftraf, leuchtete f(cid:252)r den Bruchteil einer Sekunde Um das Erstaunen (cid:252)ber das unerwartete Ergebnis begreifen
das fluoreszierende Material auf, der Forscher, der den Schirm zu k(cid:246)nnen, muss man sich vor Augen halten, wie sich die
beobachtete, konnte es registrieren und die Treffer z(cid:228)hlen. Physiker zur Zeit der Jahrhundertwende die Atome vorstellten:
Durch die leichte Ablenkung der Teilchen in der Metallfolie als kleine runde Kugeln - (cid:228)hnlich wie Billardkugeln -, die in
wurde auf dem Schirm nun nicht mehr ein scharfes Bild des einem Feststoff dicht an dicht zusammengepackt waren. Man
Schlitzes abgebildet, sondern es wurde ein wenig verschmiert war der (cid:220)berzeugung, da(cid:223) der Raum durch die Atome zum
und unscharf. gr(cid:246)(cid:223)ten Teil ausgef(cid:252)llt sei, und nur ein K(cid:246)rper, der sich
wie das Alphateilchen mit hoher Geschwindigkeit bewegte, phateilchen auf einen einzigen Zusammensto(cid:223) zur(cid:252)ckzuf(cid:252)hren
k(cid:246)nnte eine Folie aus Atomen durchschlagen, wobei er ein wenig sei und da(cid:223) dieser Zusammenprall mit einem sehr kleinen, sehr
abgelenkt w(cid:252)rde. schweren Teilchen geschehen sein musste. Das Atom konnte
1903 verfeinerte der Physiker Philipp Lenard diese Vorstel- deshalb nicht aus einer Kugel mittlerer Dichte bestehen,
lung. Er hatte in mehreren Experimenten festgestellt, da(cid:223) sehr sondern musste ein zentrales Teilchen enthalten, das im Ver-
schnelle Elektronen Folien praktisch ungehindert durchdringen gleich zur Gesamtgr(cid:246)(cid:223)e des Atoms winzig klein war, in dem
k(cid:246)nnen. Er schloss daraus, da(cid:223) der gr(cid:246)(cid:223)te Teil des Atoms leer aber praktisch dessen gesamte Masse konzentriert war. Dieses
sein m(cid:252)sse und postulierte, da(cid:223) Paare aus je einem negativen zentrale Teilchen - sp(cid:228)ter wurde es Atomkern genannt - musste
Elektron und einer positiven Ladung, die er »Dynamiden « au(cid:223)erdem eine elektrische Ladung tragen, die bei schweren
nannte, das Atom bildeten. Diese Dynamiden sollten nur einen Elementen ein Vielfaches der Elementarladung ausmachen
winzigen Bruchteil des Raums einnehmen, der Rest sei leer. musste. Ob diese Ladung allerdings positiv oder negativ war,
Auch der Entdecker des Elektrons, Joseph John Thomson, konnte Rutherford aus den vorliegenden Messergebnissen al-
hatte sich schon vor 1910 Gedanken (cid:252)ber den Aufbau der lein nicht entscheiden, denn sie w(cid:228)ren sowohl bei positiver als
Atome gemacht. Er war im Gegensatz zu Lenard der Mei- auch bei negativer Ladung des Zentralteilchens erkl(cid:228)rbar ge-
nung, da(cid:223) das Atom aus einer positiv geladenen Kugel be- wesen. Damit das Atom nach au(cid:223)en hin neutral war, musste
stand, in die negative Elektronen zum Ausgleich der Ladung das geladene Zentrum von einer entgegengesetzt geladenen
eingebettet seien. Er glaubte, sie seien in konzentrischen Ku- H(cid:252)lle umgeben sein.
gelschalen regelm(cid:228)(cid:223)ig angeordnet. Im M(cid:228)rz 1911 trug Rutherford diese revolution(cid:228)ren Er-
Beide Modelle konnten zwar erkl(cid:228)ren, warum Alphateil- kenntnisse (cid:252)ber den Aufbau der Atome in einem Vortrag vor
chen beim Durchgang durch eine Folie ein wenig abgelenkt der Literarischen und Philosophischen Gesellschaft in Man-
wurden, n(cid:228)mlich durch mehrere kleine St(cid:246)(cid:223)e, sie jedoch boten chester vor. Zwei Monate sp(cid:228)ter ver(cid:246)ffentlichte er sie im >Phi-
keine Erkl(cid:228)rung daf(cid:252)r, da(cid:223) manche der Partikel ganz zur(cid:252)ck- losophical Magazine<. Obwohl damals die (cid:214)ffentlichkeit an
geworfen wurden. Zwei Jahre lang gr(cid:252)belte Rutherford (cid:252)ber naturwissenschaftlichen Entdeckungen wie jenen der R(cid:246)nt-
diesem Ergebnis. Als erfahrener Experimentator glaubte er genstrahlung oder der Radioaktivit(cid:228)t gro(cid:223)en Anteil nahm,
nicht daran, da(cid:223) es sich um einen Messfehler oder einen Ver- wurden Rutherfords Theorien zun(cid:228)chst lediglich in Fachkreisen
schmutzungseffekt handelte. Anfang 1911 schien er die L(cid:246)- beachtet. Auch er selbst war sich wohl anf(cid:228)nglich der Be-
sung des R(cid:228)tsels entdeckt zu haben. Sein Mitarbeiter Hans deutung seiner Entdeckung nicht voll bewusst. Er ver(cid:246)ffent-
Geiger, der durch die Erfindung des Geigerz(cid:228)hlers ber(cid:252)hmt lichte im Jahr 1913 das Buch >Radioaktive Stoffe und ihre
wurde, berichtete sp(cid:228)ter: »Eines Tages kam Rutherford, offen- Strahlungen<, in dem er auf die Theorie seines Atommodells
sichtlich bester Laune, in mein Zimmer und sagte, er wisse noch einmal kurz einging und zum ersten Mal das Wort
jetzt, wie ein Atom aussehe und wie man die gro(cid:223)en Ablen- »Atomkern« verwendete. Hier entschied er sich auch eindeutig
kungen der Alphateilchen erkl(cid:228)ren k(cid:246)nne.« Er war zu dem daf(cid:252)r, da(cid:223) der Atomkern positiv geladen und von negativen
Schluss gekommen, da(cid:223) jede der gro(cid:223)en Ablenkungen der Al- Elektronen umgeben sein musste, eine Annahme, die sich
sp(cid:228)ter als richtig herausstellte.
Aus heutiger Sicht ist die Entdeckung Rutherfords, da(cid:223) das
Atom aus Kern und H(cid:252)lle besteht und da(cid:223) seine Masse im po-
Der Blick ins Innerste der Materie
sitiv geladenen Kern konzentriert ist, einer der wichtigsten
Meilensteine auf dem Weg zur modernen Physik. Erst diese
Erkenntnis hat es erm(cid:246)glicht, den Aufbau der Elemente zu be-
greifen, den radioaktiven Zerfall zu verstehen, die Grundkr(cid:228)fte »Haben Sie eines gesehen?« raunzte der gef(cid:252)rchtete Physik-
der Natur zu entschl(cid:252)sseln und sie f(cid:252)r die weitere Forschung professor Ernst Mach noch Ende des letzten Jahrhunderts jeden
sowie f(cid:252)r technische Anwendungen zu nutzen. Ernest Ruther- an, der es wagte, von Atomen zu sprechen. Er wandte sich
ford selbst ahnte diese Bedeutung seiner Ideen sp(cid:228)ter sehr grunds(cid:228)tzlich gegen die Tendenz, Naturerscheinungen durch
wohl. 1932 schrieb er in einem Brief an Hans Geiger: »Das theoretische mechanische Modelle zu erkl(cid:228)ren, und die Atom-
waren damals sch(cid:246)ne Tage in Manchester, und wir leisteten theorie, die sich damals insbesondere bei Chemikern gro(cid:223)er
mehr, als wir wussten.« Beliebtheit erfreute, war ihm dabei ein besonderer Dorn im
Auge.
Mach w(cid:252)rde Augen machen, k(cid:246)nnte er in die Labors der
heutigen Wissenschaftler schauen. In den neunziger Jahren ist es
gelungen, mit dem Raster-Tunnelmikroskop und dem Raster-
Kraftmikroskop, beides Erfindungen des deutschen No-
belpreistr(cid:228)gers Gerd Binnig, Atome real abzutasten und sichtbar
zu machen.
Die Ansicht, da(cid:223) Materie aus Atomen besteht, (cid:228)u(cid:223)erte als
Vermutung schon etwa 400 vor Christus der griechische Phi-
losoph Demokrit. Er versuchte damit die Vielfalt der Erschei-
nungen in der Welt zu erkl(cid:228)ren. So schrieb er: »Der gebr(cid:228)uch-
lichen Redeweise nach gibt es Farbe, S(cid:252)(cid:223)es und Bitteres, in
Wahrheit aber nur Atome und Leeres.« Jahrhundertelang
k(cid:252)mmerten sich die Gelehrten kaum mehr um die Frage nach
den Atomen. Man besch(cid:228)ftigte sich mit anderen Vorstellungen
wie Felder, ˜ther, Fluidum und (cid:228)hnlichem. Erst durch die
Chemie, die im 19. Jahrhundert zunehmend an Wissenschaft-
lichkeit gewann, traten wieder (cid:220)berlegungen in den Vorder-
grund, die zur(cid:252)ck zu der (cid:220)berlegung f(cid:252)hrten, ob es denn nun
tats(cid:228)chlich Atome gebe. So verdichtete sich diese Vorstellung
nach und nach zur Gewissheit, denn in den verschiedensten
Bereichen der Wissenschaft hatte man experimentelle Beweise
gefunden, da(cid:223) es kleinste Bausteine der Materie geben
Eine folgenschwere Zufallsentdeckung
m(cid:252)sste. So entdeckte man, da(cid:223) sich bestimmte Elemente im-
mer im Verh(cid:228)ltnis ganzer Zahlen miteinander verbinden, bei-
spielsweise ein Liter Sauerstoff mit zwei Litern Wasserstoff zu
1869 hatten der Russe Dimitrij Iwanowitsch Mendelejew und
einem Liter Wasserdampf. Auch f(cid:252)r die Gewichtsverh(cid:228)ltnisse
der Deutsche Julius Lothar Meyer unabh(cid:228)ngig voneinander das
ergaben sich (cid:228)hnliche Zahlenspielereien. Sie konnten eigentlich
Periodensystem der chemischen Elemente entwickelt (siehe
nur dadurch erkl(cid:228)rt werden, da(cid:223) man davon ausging, da(cid:223) sich
hierzu S. 108/109). Es stellte ein Schema dar, in dem die bis
Atome in genau festgelegten Verh(cid:228)ltnissen chemisch miteinander
dahin bekannten chemischen Elemente nach bestimmten Kri-
verbinden. Man nannte nun (cid:252)brigens die Verbindung von
terien geordnet wurden. Eines dieser Kriterien war ihr Atom-
Atomen »Molek(cid:252)le«. Au(cid:223)erdem legten die Experimente die
gewicht. Hinzu kamen Erkenntnisse (cid:252)ber ihr chemisches Ver-
Annahme nahe, da(cid:223) in jedem Gas mit gleichem Volumen
halten und ihre physikalischen Eigenschaften. So hatte man
gleich viele Teilchen vorhanden sein m(cid:252)ssten, vorausgesetzt,
beispielsweise erkannt, da(cid:223) Fluor, Chlor, Brom und Jod (cid:228)hnliche
die Gase besitzen die gleiche Temperatur und den gleichen
Eigenschaften aufwiesen. Entsprechendes gilt f(cid:252)r die Elemente,
Druck. Diese Regel wurde sp(cid:228)ter best(cid:228)tigt und ist heute als
die wir heute die »Edelgase« nennen. Mendelejew und Meyer
»Avogadrosches Gesetz« bekannt. setzten die Elemente mit (cid:228)hnlichen Eigenschaften untereinander
Dem (cid:214)sterreicher Johann Joseph Loschmidt gelang es
und ordneten sie ansonsten in waagerechten Zeilen gem(cid:228)(cid:223) ihrer
schlie(cid:223)lich als erstem, die Anzahl der Teilchen in einem Liter
Ordnungszahl (der Protonenzahl) an. Vor allem Mendelejew
Gas zu ermitteln: Es sind 26,87 mal 1021 Molek(cid:252)le. Dies ist eine
konnte aus seinem Schema Behauptungen theoretisch
ungeheuer gro(cid:223)e Zahl, und sie vermittelt auch eine Vor-
herauslesen, die zum Teil erst viel sp(cid:228)ter bewiesen werden
stellung davon, wie winzig die Atome und Molek(cid:252)le sein m(cid:252)ssen. konnten. So fand er L(cid:252)cken in diesem Periodensystem und
Der Astronom Rudolf Kippenhahn illustriert die Winzigkeit
prophezeite Elemente mit bestimmten Eigenschaften, die genau
der Molek(cid:252)le und ihre riesige Zahl in seinem Buch >Atom< mit
in diese L(cid:252)cken passen w(cid:252)rden. Und er erfand wohlklingende
zwei sehr anschaulichen Beispielen: »Man sch(cid:252)tte ein Glas
Namen f(cid:252)r sie: Ekabor, Ekaaluminium und Ekasilizium. In der
Wasser ins Meer und r(cid:252)hre in allen Ozeanen der Welt gut um.
Tat konnte er noch miterleben, wie die von ihm
Wenn man danach etwa vor Australien wieder ein Glas Wasser
vorhergesagten Elemente zwischen 1879 und 1886 gefunden
aus dem Meer sch(cid:246)pft, so enth(cid:228)lt es etwa zweihundert Molek(cid:252)le
wurden. Das Ekabor hei(cid:223)t heute Scandium, das Ekaaluminium
des vorher hineingegossenen Wassers.« Und das zweite
hei(cid:223)t Gallium, und Ekasilizium ist heute als Germanium
Beispiel: »Als Gajus Julius C(cid:228)sar vor seiner Ermordung im
bekannt. Das Periodensystem der Elemente hatte sich also als
Jahr 44 vor Christus die ber(cid:252)hmten Worte >Auch du, mein
Ordnungsschema bew(cid:228)hrt.
Sohn Brutus< sprach, blies er damit vielleicht einen Viertelliter
Die tats(cid:228)chliche Ordnung, die hinter diesem Tableau steckt,
Atemluft ins Freie. Die Molek(cid:252)le von damals vermischten sich
war damals allerdings noch nicht einmal in Ans(cid:228)tzen bekannt.
mit der Erdatmosph(cid:228)re. Wir nehmen mit jedem zweiten
Keiner der Beteiligten hatte eine Ahnung davon, da(cid:223) Atome
Atemzug ein Molek(cid:252)l der letzten Worte C(cid:228)sars auf.« aus Kern und H(cid:252)lle bestehen k(cid:246)nnten, da(cid:223) ihr Gewicht vom
Kern bestimmt w(cid:252)rde, aber ihre chemischen
Eigenschaften von der H(cid:252)lle, und da(cid:223) beide Charakteristika im Als R(cid:246)ntgen nun jedoch versuchte, diese Strahlen abzu-
Periodensystem ber(cid:252)cksichtigt wurden. Erst Jahrzehnte sp(cid:228)ter schirmen, indem er ein Buch zwischen R(cid:246)hre und Kristall
gelang es bedeutenden Forschern, Licht in das Dunkel der ato- hielt, musste er zu seinem Erstaunen feststellen, da(cid:223) die Kri-
maren Geheimnisse zu bringen. Man mu(cid:223) sich die Situation stalle trotzdem wieder zu leuchten begannen. Es musste sich
vor Augen f(cid:252)hren: Es war nur das eine sicher, da(cid:223) Atome so also um eine andersartige Strahlung handeln, denn die Elek-
winzig sind, da(cid:223) man sie nicht sehen kann. Wenn man sich also tronen aus der R(cid:246)hre konnten ein Buch nicht durchdringen.
daranmachte, ihre Eigenschaften zu erforschen, war man Systematisch untersuchte R(cid:246)ntgen nun, welche Materialien
gezwungen, die Materie gleichsam als »Black Box«, als diese neue Strahlung, die er X-Strahlung nannte,
schwarzen Kasten anzusehen, in dessen Innerem man Atome hindurchlie(cid:223)en oder abschirmten.
vermutete. Die Strahlen durchdrangen Holz, Glas, Elfenbein, Hart-
N(cid:228)here Einzelheiten erfuhr man jedoch nur durch mehr gummi und andere leichtere Materialien. Lediglich Blei und
oder weniger blindes Herumtasten in diesem schwarzen Ka- Platin vermochten sie aufzuhalten. Au(cid:223)erdem fand R(cid:246)ntgen,
sten. So galt es, m(cid:246)glichst raffinierte Versuchsanordnungen zu da(cid:223) Fotoplatten von den Strahlen geschw(cid:228)rzt wurden. Er be-
ersinnen, mit deren Hilfe man der Black Box namens Materie gann nun, alle m(cid:246)glichen Objekte zu bestrahlen und zu foto-
ihre Geheimnisse entlocken konnte. grafieren, unter anderem die Hand seiner Ehefrau Bertha. Das
Zun(cid:228)chst aber kam die Natur den Forschern ein gro(cid:223)es inzwischen weltber(cid:252)hmte Bild vom 22.12.1895 zeigt deutlich
St(cid:252)ck entgegen: Gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts die Knochen und den Ehering.
wurden n(cid:228)mlich Ph(cid:228)nomene entdeckt, die Kunde gaben aus In seiner Ver(cid:246)ffentlichung vom 28.12.1895 schrieb der
dem Innersten der Materie. Es handelte sich um verschiedene Forscher: »L(cid:228)sst man durch eine Hittorfsche Vakuumr(cid:246)hre
Arten von Strahlung, die von einigen Stoffen ausging. oder einen gen(cid:252)gend evakuierten Lenardschen, Crookeschen
Es begann mit einer Zufallsentdeckung im Jahr 1895: Wil- oder (cid:228)hnlichen Apparat die Entladung eines gr(cid:246)(cid:223)eren Ruhm-
helm Conrad R(cid:246)ntgen experimentierte in seinem Labor an der korffs gehen, bedeckt die R(cid:246)hre mit einem ziemlich enganlie-
Universit(cid:228)t W(cid:252)rzburg mit verschiedenen Entladungsr(cid:246)hren, genden Mantel aus d(cid:252)nnem schwarzen Karton, so sieht man in
die er mit schwarzem Papier umgab. Nach dem Einschalten dem vollst(cid:228)ndig verdunkelten Zimmer einen in die N(cid:228)he des
der Hochspannung bemerkte er einen gr(cid:252)nlichen Schimmer Apparats gebrachten, mit Bariumplatincyan(cid:252)r angestrichenen
von einem benachbarten Arbeitstisch. Dieses Leuchten ver- Papierschirm bei jeder Entladung hell aufleuchten, fluo-
schwand jedoch wieder, wenn er die Elektronenr(cid:246)hre abschal- reszieren, gleichg(cid:252)ltig, ob die angestrichene oder die andere
tete. Das Verdienst R(cid:246)ntgens ist es, da(cid:223) er der unerwarteten Seite des Schirmes dem Entladungsapparat zugewendet ist.
Erscheinung und ihrer Ursache auf den Grund ging. Schnell Die Fluoreszenz ist noch in zwei Meter Entfernung vom Ap-
stellte er fest, da(cid:223) das Leuchten von fluoreszierenden Kristallen parat bemerkbar.«
ausging, die zuf(cid:228)llig dort lagen. M(cid:246)glicherweise, so vermutete Wilhelm Conrad R(cid:246)ntgen selbst, der 1901 den ersten No-
er, hatten die so genannten Kanalstrahlen, die aus der R(cid:246)hre belpreis f(cid:252)r Physik erhielt, glaubte, es handle sich bei den von
kamen und auf die Kristalle auftrafen, das Leuchten ihm entdeckten Strahlen um ˜therwellen. Heute wissen wir,
verursacht. da(cid:223) die R(cid:246)ntgenstrahlen - wie sie anl(cid:228)sslich eines (cid:246)ffentlichen
Vortrages im Januar 1896 genannt wurden - elektromagneti- Becquerel teilte seine Entdeckung sofort seinen Kollegen
sche Wellen sind, (cid:228)hnlich den Radio-, Licht- oder UV-Strahlen. von der Akademie mit, und noch im Februar 1896 wurde dar-
Den Beweis daf(cid:252)r erbrachten aber erst im Jahr 1912 zwei (cid:252)ber in den Schriften der Akademie berichtet. Weitere Unter-
Forscher in M(cid:252)nchen. suchungen ergaben, da(cid:223) die Strahlung nicht nur Fluoreszenz
Der franz(cid:246)sische Gelehrte Antoine Henri Becquerel h(cid:246)rte in ausl(cid:246)ste und Fotoplatten schw(cid:228)rzte, sondern auch die Luft leitend
einer Sitzung der Pariser AcadØmie des Sciences am 20. Januar machte. Diese Erkenntnis, die ebenfalls Becquerel zu verdanken
1896 zum ersten Mal von R(cid:246)ntgens neu entdeckter Strahlung. war, wurde zur Grundlage der Me(cid:223)methoden f(cid:252)r die
Der Professor galt als anerkannter Fachmann auf dem Gebiet radioaktive Strahlung.
der Fluoreszenz, zusammen mit seinem Vater hatte er seit Jahren 1928 ver(cid:246)ffentlichte der Professor f(cid:252)r Experimentalphysik
damit experimentiert. Seine Neugier war nun geweckt, und er an der Universit(cid:228)t Kiel, Hans Geiger, zusammen mit seinem
verpackte eine unbelichtete Fotoplatte in schwarzes, Assistenten Walther M(cid:252)ller in der >Physikalischen Zeitschrift<
lichtdichtes Papier, legte ein Kupferkreuz darauf und streute einen Aufsatz von nicht einmal drei Seiten Umfang, der den
dar(cid:252)ber der Reihe nach alle ihm bekannten fluoreszierenden schlichten Titel hatte: >Das Elektronenz(cid:228)hlrohr<. Was die beiden
Substanzen. Dann setzte er das Paket jeweils der Forscher in diesem Bericht beschrieben, war das Ergebnis einer
Sonnenstrahlung aus, denn Fluoreszenz ben(cid:246)tigt zu ihrer An- zwanzigj(cid:228)hrigen Entwicklung und machte sp(cid:228)ter Karriere wie
regung Licht. kaum ein anderes physikalisches Ger(cid:228)t: der »Geigerz(cid:228)hler« oder,
Das Ergebnis der Experimente war durchweg negativ, mit offiziell ausgedr(cid:252)ckt, das »Geiger-M(cid:252)ller-Z(cid:228)hlrohr«.
einer Ausnahme: Wenn er Uransalz auf das Paket streute, Im Prinzip besteht ein solches Messger(cid:228)t aus einem Metall-
zeigte sich nach dem Entwickeln auf der Fotoplatte der Schatten rohr von einigen Zentimetern Durchmesser, das mit dem
eines Kreuzes. Angeblich wollte Becquerel das Ph(cid:228)nomen Edelgas Argon gef(cid:252)llt ist. Die Achse des Rohres bildet ein
weiter untersuchen und pr(cid:228)parierte dazu mehrere Fotoplatten d(cid:252)nner Draht aus Wolfram oder Stahl. Zwischen dem Geh(cid:228)use
mit Uransalz. Da das Wetter tr(cid:252)b war, legte er sie in eine und dem davon isolierten Draht liegt eine elektrische Spannung
Schublade. an, und zwar so, da(cid:223) der Draht positiv, das Geh(cid:228)use negativ
Bei einer (cid:220)berpr(cid:252)fung stellte er zu seiner (cid:220)berraschung geladen ist. Die Gasatome, die sich zwischen Geh(cid:228)use und
fest, da(cid:223) auch diese Platten den Schatten des Kreuzes zeigten, Draht befinden, sind elektrisch neutral und reagieren zun(cid:228)chst
ohne da(cid:223) sie in der Sonne gelegen hatten. Es musste sich also auf diese Spannung nicht. Fliegt nun ein Teilchen der
nicht um die erwartete Lumineszenzstrahlung handeln, son- Betastrahlung - wie wir heute wissen, ein Elektron - durch den
dern um eine st(cid:228)ndig vorhandene, selbstt(cid:228)tige Ausstrahlung Gasgef(cid:252)llten Innenraum, st(cid:246)(cid:223)t es auf seinem Weg mit Gas-
des Urans. atomen zusammen. Die Wucht der Zusammenst(cid:246)(cid:223)e ist so
Becquerel f(cid:252)hrte f(cid:252)r diese Erscheinung den Namen »Ra- gro(cid:223), da(cid:223) aus der Atomh(cid:252)lle ein Elektron herausgeschlagen
dioaktivit(cid:228)t« ein. Er nahm zun(cid:228)chst an, da(cid:223) es sich dabei um wird, so entsteht ein positiv geladenes Ion und ein freies Elek-
eine den R(cid:246)ntgenstrahlen (cid:228)hnliche Strahlung handelte. Heute tron. Auf dem Weg der Betateilchen quer durch das Rohr er-
wissen wir, da(cid:223) dies nicht stimmt. Die Schw(cid:228)rzung der Foto- eignen sich viele solcher Ionisationen, und die dabei entsteh-
platten war durch Betastrahlung verursacht worden.