Table Of ContentDas Individuum und seine Familie
Deutsches Jugendinstitut
Familien-Survey
Band 4
Hans Bertram (Hrsg.)
Das Individuum
und seine Familie
Lebensformen,
Familienbeziehungen und
Lebensereignisse
im Erwachsenenalter
Leske + Budrich, Opladen 1995
ISBN 978-3-8100-1389-7 ISBN 978-3-322-95771-9 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-322-95771-9
© 1995 Leske + Budrich, Opladen
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung
außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages
unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervie\faltigungen, Übersetzungen, Mi
kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Satz: Werkstatt für Typografie, Offenbach
Inhalt
Hans Bertram
Individuen in einer individualisierten Gesellschaft .................................... 9
1. Das Zerbrechen traditioneller Bindungen: Verlust oder Wandel? ........... 9
2. Familialer Wandel: Von der Haushalts- zur multilokalen
Mehrgenerationenfamilie ........................................................................ 13
3. Zeit und Raum als Differenzierungselemente individualisierter
Gesellschaften ......................................................................................... 16
4. Die Forschungsstrategie ......................................................................... 23
Anmerkungen ................................................................................................ 33
Hiltrud Bayer/ Renate Bauereiß
Alleinstehend und Alleinlebend:
Die "Singles" in der amtlichen Statistik .................................................... 35
1. Singles: Sozialer Wandel und regionale Vielfalt.. .................................. 35
2. Wandel der Familienstände .................................................................... 38
3. Wandel der Zusammensetzung von Alleinleben ................................... .44
4. Die "Singles" in den Städten .................................................................. 51
5. Zusammenfassung .................................................................................. 56
AnmerkunOgen ................................................................................................ 57
Walter Bien! Donald Bender
Was sind Singles? Ein alltagstheoretischer
Zugang zur Problematik ............................................................................. 61
1. "Die Zahl der Singles nimmt dramatisch zu" ......................................... 61
2. Singles sind nicht gleich Singles ............................................................ 64
3. Single - vier verschiedene Definitionsmöglichkeiten ............................ 68
4. Alter, Familienzyklus, Geschlecht und Ost-West-Unterschiede ............. 71
5. Alltagsthesen zur Lebenssituation von Singles ...................................... 76
6. Singles sind Menschen, die ein Kommunikationsdefizit haben ............. 76
7. Singles haben niemand für ihre Bedürfnisse .......................................... 79
8. Singles sind im näheren Wohnumfeld auf Freunde
und Nachbarn als Familiensubstitut angewiesen .................................... 83
9. Singles sind einsam ................................................................................ 84
10. Singles sind unsolidarisch ...................................................................... 86
11. Die Zahl der Singles ist dramatisch hoch ............................................... 87
12. Single ist nicht gleich Single .................................................................. 88
Anmerkungen ................................................................................................ 89
6
Hans Bertram
Die Sicherheit privater Beziehungen ......................................................... 91
1. Einleitung ............................................................................................... 91
2. Die Analyse privater Beziehungen ......................................................... 93
3. Familienstände, private Lebensbeziehungen und Lebensalter.. .............. 96
4. Lebenslange Beziehungen .................................................................... 100
5. Riskante Freiheiten und private Sicherheit... ........................................ 112
Anmerkungen .............................................................................................. 120
Clemens Dannenbeck
Im Alter einsam?
Zur Strukturveränderung sozialer Beziehungen im Alter ..................... 125
1. Bedeutungswandel des Alters und Einsamkeit älterer Menschen ........ 125
2. Lebensformen und Einsamkeit älterer Menschen ................................. 132
3. Bedeutung der Kinder und Einsamkeit älterer Menschen .................... 136
4. Soziale Beziehungen älterer Menschen und Einsamkeit ...................... 138
5. Gesundheitsbedingte Einschränkungen ................................................ 143
6. Aktivitäten subjektiv und objektiv belasteter Befragter ....................... 148
7. Resümee ............................................................................................... 151
Anmerkungen .............................................................................................. 152
Hans Bertram
Regionale Vielfalt und Lebensformen ..................................................... 157
1. Pluralität der Lebensformen durch regionale Vielfalt .......................... 157
2. Die Konstruktion der Regionen ............................................................ 159
3. Familie und Bevölkerung in den Regionen .......................................... 163
4. Die soziale Infrastruktur ....................................................................... 168
5. Politik und wirtschaftliche Entwicklung .............................................. 170
6. Zur Erklärung der Strukturunterschiede ............................................... 174
7. Familienbegriffe, Familienbeziehungen und Haushaltsstrukturen ....... 175
8. Ehe, Kinder und Erziehung .................................................................. 185
9. Der Gesamtzusammenhang .................................................................. 189
Anmerkungen .............................................................................................. 194
Hans Bertram
Moralische Verpflichtungen und Werte
in einer individualisierten Gesellschaft .................................................... 196
1. Einleitung ............................................................................................. 196
2. Individualismus und Lebensalter. ......................................................... 198
3. Elterliche Verantwortung in einer individualisierten Gesellschaft.. ..... 202
4. Soziale Pflichten und Unterstützung .................................................... 210
Anmerkungen .............................................................................................. 219
7
Simone Kreher
Berufseinmündung und Familienbildung
in der Generationenfolge .......................................................................... 223
1. Generationen und gesellschaftliche Regelung von Zeitlichkeit... ......... 223
2. Der Übergang ins Erwerbssystem ........................................................ 228
3. Der Prozeß der Familienbildung ........................................................... 239
4. Zeitliche Verschränkung von Berufseinmündung
und Familienbildung in der Generationenfolge .................................... 251
Anmerkungen .............................................................................................. 258
Simone Kreher
Berufsausmündung und Familienauflösung
in der Generationenfolge .......................................................................... 267
1. Berufsausmündung und Familienauflösung: prägende Ereignisse des
Lebensverlaufs im sechsten und siebenten Jahrzehnt? ......................... 267
2. Erwerbsverläufe und Ausscheiden aus dem Erwerbssystem ................ 271
3. Der Prozeß der Familienauflösung ....................................................... 278
4. Reorganisation der Generationenbeziehungen und Generationen-
verhältnisse im sechsten und siebenten Lebensjahrzehnt? ................... 287
Anmerkungen .............................................................................................. 290
Alois Weidacher
Einkommen in unterschiedlichen Lebensformen .................................... 293
1. Untersuchungs ziel, sozialer Kontext und Aspekte der
Einkommensdifferenzierung ................................................................ 293
2. Datenbasis ............................................................................................. 301
3. Lebensformen im Vergleich ................................................................. 302
4. Einkommen von jungen Ledigen
ohne partnerschaftlichen Haushalt. ....................................................... 303
5. Einkommenslagen lediger und geschiedener
Alleinlebender ab 35 Jahren ................................................................. 309
6. Einkommen in Partnerhaushalten ohne Kinder .................................... 311
7. Einkommen in Haushalten von Ehepaaren und
Alleinerziehenden mit Kindern ............................................................ 314
8. Abschließende Bewertungen ................................................................ 321
Anmerkungen .............................................................................................. 323
Tatjana Rosendorfer
Ökonomische Ungleichheit im Alter ........................................................ 329
1. Drei-Generationen-Solidarität? ............................................................ 329
2. Alterssicherung ..................................................................................... 330
3. Datenbasis ............................................................................................. 335
8
4. Einkommen und Einkommensbezug .................................................... 337
5. Auswirkung der Singularisierung auf
die ökonomische Situation Älterer ....................................................... 340
6. Geschlechterdisparitäten in der ökonomischen Situation Älterer.. ....... 345
7. Schlußbemerkung ................................................................................. 354
Anmerkungen .............................................................................................. 357
Elisabeth Schlemmer
"Living apart together", eine partnerschaftliche Lebensform
von Singles? ............................................................................................... 363
1. Begriffliche Einordnung ....................................................................... 363
2. Historischer und kulturhistorischer Abriß ............................................ 366
3. Strukturelle Merkmale .......................................................................... 367
4. Partnerschaftsmerkmale ........................................................................ 379
5. Soziale Beziehungen ............................................................................. 381
6. Fazit ...................................................................................................... 393
Anmerkungen .............................................................................................. 395
Günter Burkart
Individualisierung und Familie in den USA ................................. : .......... 399
1. Einleitung ............................................................................................. 399
2. Amerikanischer Individualismus .......................................................... 400
3. Individualismus und Gemeinschaft ...................................................... 405
4. Triumph des Individualismus über die Gemeinschaft? ....................... .407
5. Family Dec1ine als Folge von Individualisierung ................................ .409
6. Strukturell-demographische Entwicklungen und Individualisierung .. .413
7. Ist Individualismus bloß eine Ideologie? ............................................. .419
8. Konsequenzen für die deutsche Situation ............................................. 422
Anmerkungen .............................................................................................. 422
Anhang
Methodische Informationen zu den verwendeten Datensätzen ................... 429
1. Einführung ............................................................................................ 429
2. Beschreibung der einzelnen Datensätze ............................................... 430
3. Repräsentativität der einzelnen Datensätze ......................................... .433
4. Homogenitätsproblematik bei der Zusammenführung ......................... 438
5. Einzelne Auswertungsstrukturen .......................................................... 439
Anmerkungen .............................................................................................. 454
Literaturverzeichnis ..................................................................................... 457
Index ............................................................................................................ 477
Hans Bertram
Individuen in einer individualisierten Gesellschaft
1. Das Zerbrechen traditioneller Bindungen: Verlust oder
Wandel?
"Modernität ist für siel im Kern ein Bruch mit den Ligaturen früherer Zeiten.
Dahin ist die idyllische Vergangenheit mit ihren heiligen Schauern. Der Aus
gang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit ist zugleich
ein Ausgang aus der Nestwärme stabiler menschlicher Beziehungen in festen
ständischen Strukturen." Alle festen eingerosteten Verhältnisse werden auf
gelöst. "Und was tritt an deren Stelle? Nicht viel... Am Ende dieser Welt
ohne Ligaturen sind dann die falschen Götter nicht weit. Sie haben viele in
die Irre geführt und manche sind ihnen bis nach Jonestown gefolgt."2
In diesem Zitat beschreibt DAHRENDORF die gegenwärtige Diskussion
in der Öffentlichkeit und in der Wissenschaft um die Konsequenzen des Her
auslösens des einzelnen oder der Befreiung des Individuums aus traditionel
len Vorgegebenheiten in einer modernen individualisierten Gesellschaft sehr
treffend. Nach DAHRENDORF und BECK3 haben sich in der Moderne die
Wahlmöglichkeiten und Chancen des einzelnen deutlich erhöht, einen be
friedigenden Lebensstil zu finden, sich selbst zu verwirklichen und unab
hängig von Tradition und Herkunft seine eigene Lebensperspektive zu leben.
Das gilt besonders im modernen Wohlfahrtsstaat, der den einzelnen in hohem
Maße gegen Lebensrisiken absichert. Diese Freiheiten, so die Ausgangsthese
vieler Autoren, die in diesem Band kritisch geprüft werden soll, müssen im
Bereich der privaten Lebensführung mit einem hohen Preis bezahlt werden,
nämlich dem Verlust von Sicherheit und Stabilität privater Beziehungen.
Ein Blick in die amtliche Statistik scheint diese Interpretation des zuneh
menden Risikos, daß private Beziehungen scheitern, zu bestätigen. Die
Scheidungsraten sowohl in der Bundesrepublik wie auch in den Vereinigten
Staaten steigen seit den letzten 15 bis 20 Jahren unaufhörlich. Die Zahl der
alleinerziehenden Mütter hat ein hohes Niveau erreicht. Die Zeitungen be
richten häufig von alten Menschen, die einsam und ohne die stabile Unter
stützung durch die eigene Familie und Verwandtschaft, häufig unentdeckt,
Siechtum und Tod ertragen müssen.
Manche Autoren4 gehen sogar soweit zu behaupten, daß diese Unsicher
heiten der privaten Beziehungen, das Durchschneiden traditioneller Bindun-
10 Hans Bertram
gen an die Herkunftsgruppe und die damit verbundene Befreiung des Indivi
duums aus der Herrschaft der Herkunftsgruppe unabdingbare Voraussetzung
für individualisierte Gesellschaften sind. Nur so könne die notwendige Mo
bilität der Individuen sichergestellt und den Anforderungen postindustrieller
Gesellschaften entsprochen werden.
Diese Bindungslosigkeit moderner Individuen wird einerseits als Voraus
setzung postindustrieller Gesellschaften und andererseits als Risiko für die
Individuen selbst gefaßt. Sie ist häufig mit einem hohen Maß an Orientie
rungslosigkeit oder zumindest Orientierungsverlusten der Individuen ver
knüpft. Der Verlust traditioneller Bindungen an die Herkunftsgruppe, etwa
die eigene Familie, die Nachbarschaft, das Dorf oder die Region, kann dazu
führen, daß sich der einzelne in seinen eigenen Lebensentwürfen und Le
bensplänen nicht mehr an hergebrachten Werten und kulturellen Mustern
orientiert. In die gleiche Richtung wirkt die hohe Mobilität, die vor allem
junge Erwachsene betrifft. Das Individuum ist gezwungen, unabhängig von
der Orientierung an der eigenen sozialen Herkunft, den Sinn seines Lebens
zu finden. Es muß seinen Lebensentwurf und seine Lebensperspektive selbst
entwerfen. Da es aber in ausdifferenzierten Gesellschaften eine Vielzahl
höchst unterschiedlicher, teilweise kontroverser Sinnentwürfe und Interpre
tationsmuster für die gesellschaftliche Entwicklung und die Zukunftserwar
tungen gibt, muß sich das Individuum aus den unterschiedlichen Sinnangebo
ten selbst seine eigenen Sinnmuster zusammenbasteln5. Es gibt eben keine
Sicherheiten mehr, um danach die verschiedenen Sinndeutungen auszuwäh
len.
Auch die Lebensverläufe sind nicht mehr traditionell vorgegeben, sondern
in einem hohen Maße offen und instabil geworden. Die Folge davon ist, daß
Lebensverläufe nicht mehr gleichförmig verlaufen, sondern mehr dem Mu
ster eines Flickenteppichs gleichen (Patchwork-Lebensverläufe). Die Indivi
duen müssen als subjektive Leistung verschiedene Komponenten miteinander
kombinieren, die nicht von vornherein sinnvoll aufeinander bezogen werden
können. Das moderne Individuum, als Sinn bastler mit einer Bastelbiographie
versehen, muß jedoch nicht notwendigerweise unter diesen Existenzbedin
gungen leiden. Auf jeden Fall stellt sich für es das Problem, für sich selbst
Formen privater Sicherheiten und stabiler Deutungsmuster zu entwickeln.
Das können Individuen in modernen Gesellschaften nur noch, so
KEUpp6, wenn sie sich intensiv bemühen, ihre mühevoll aufgebauten sozia
len Beziehungen auch im Privaten auf Dauer zu erhalten. Pflegen sie diese
privaten Beziehungen nicht, so zerbrechen ihre sozialen Netzwerke. Dann
bleibt ihnen, so die These KEUPPS, nur noch die Flucht in Scheinwelten von
Sicherheit, seien es Drogen, Psychokulte oder ähnliches. Derartige Unsicher
heiten im privaten Bereich lösen bei einem Teil der Individuen, so GID
DENS7, Angst aus. Sie verhindern, daß das Individuum in sich selbst und in