Table Of ContentDAS ENDE DES GOLDZEITALTERS
MILAN VIDMAR
DAS ENDE
DES GOLDZEITALTERS
DIE MENSCHHEIT IM UMBRUCH
FRIEDR. VIEWEG & SOHN· BRAUNSCHWEIG
ISBN 978-3-322-96148-8 ISBN 978-3-322-96285-0 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-322-96285-0
Softcover reprint ofthe hardcover 1st edition1941
Einband und Umschlag: Ernst Böhm, Berlin
Copyright 1941 by Friedr. Vieweg & Sohn. Braunschweig
Alle Rechte vorbehalten.
Der treuen, geduldigen Begleiterin
meiner ungeduldigen Gedanken,
meiner Frau Helene
VORWORT
E
s gibt in Europa eine wenig bekannte und kaum beachtete
Landschaft, in der alle drei Zweige der eigentlichen euro
päischen, der arischen VöIicergemeinschaft aneinandergrenzen:
die Germanen, die Romanen und die Slawen.
Dieser Landschaft hat die Natur einen mächtigen Grenzstein
zur Verfügung gestellt: Triglav, den höchsten Berg der Julischen
Alpen. Dieser wunderbare Berg ist sehr bezeichnenderweise
dreiköpfig. Sein Name sagt es, sein sich vom klaren Himmel
prachtvoll abhebendes Bild verrät es sofort. Nun, im Schatten
dieses Bergriesen ist das Buch entstanden, dem ich hier ein
führende Worte auf den Weg mitgebe.
Ein wissenschaftliches Buch? Es erzählt Dinge, die eigentlich
jedermann wissen müßte, Dinge, die, in der erzählten oder in
irgendeiner anderen Gestalt, jedermann wichtig sind. Es treibt
fast Wissenschaft, obwohl es der wissenschaftlichen Strenge in
weitem Bogen ausweicht, um ganz leicht verdaulich bleiben zu
können.
Seine Anfänge reichen wohl schon zwanzig Jahre zurück in
meine Gedankenwelt. Vor zwanzig Jahren begann ich in
meinen Vorträgen anzudeuten, daß es keine wirklichen, d. h.
unerbittlich geltenden, keine Ausnahmen duldenden Natur
gesetze gibt. Doch verschwieg ich damals die sich mir auf
drängende Folgerung, nämlich, daß der menschliche Verstand
ein sonderbarer Fremdling im Weltall sei, daß die Menschheit in
das Weltallgetriebe eingreifen könne und auch eingreife.
Jahre vergingen. Die neue Physik geriet inzwischen auf sonder
bare Wege. Sie entdeckte in der Kleinstwelt, in der Welt der
Stoffurteilchen, ein Durcheinander, das kein Naturgesetz un
angetastet ließ. Ich horchte auf. Ich fing unbewußt an zu
bauen.
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Dann kam, 1927, meine Reise nach Nordamerika. Sie füllte mich
mit gewaltigen Eindrücken und Bildern. Sie ließ mich nicht
ahnen, daß sie etwas in mir zerbrach. Was? Ich wurde unruhig,
ohne zu wissen warum. Ich fing an, die neueren physikalischen
Errungenschaften aufmerksam zu studieren. Warum? Was
suchte ich?
Abermals vergingen Jahre. Doch dann trieb mich das Schick
sal nochmals nach Nordamerika. Die Weltkraftkonferenz 1936 in
Washington sah mich unter ihren Teilnehmern. Sie ermöglichte
mir auch noch den Besuch Kanadas.
Dort, in Kanada, in der Tiefe der Wälder, am Ufer eines mäch
tigen Stroms, der von einem gewaltigen Wasserwerk in Fesseln
gelegt wurde, löste sich das Triebwerk in meinem Kopf aus. Ich
sah dort armen Teufeln zu, die unzählige, im Wasser stromab
wärts wandernde Baumstämme in die Durchfahrrinne der Tal
sperre lenkten, und vergaß alles übrige um mich herum. Ich
sah M e n s ehe n, die N a t urs pie I eie n k t e n. Ich sah
den Lebenskampf in der klarsten, verständlichsten Gestalt.
Das war eine Jagd durch Kanada, durch die Vereinigten Staaten,
über den Ozean, durch Deutschland, in die Heimat! Der Ge
dankenstrom ließ sich nicht zurückhalten. Er ergoß sich mir in
ein Buch, das ich, kaum heimgekehrt, in fliegender, fiebernder
Hast schrieb.
Ich schrieb in meiner slowenischen Muttersprache. Das Buch
bekam den Titel "Med Evropo in Ameriko" ("Zwischen Europa
und Amerika"). Es war, kaum erschienen, fast schon vergriffen.
Es war umstürzlerisch, beunruhigend, doch auch irgendwie will
kommen, notwendig. Im Sommer 1937 geboren, sah es Ereig
nisse voraus, die damals unwahrscheinlich waren, und dennoch
bald darauf eintrafen.
Ich gebe gern zu, daß dieses Buch voller Gärung war und deshalb
nicht ganz ausgereift in die Hände der Leser kam, die es jedoch
trotzdem gierig schluckten. Man trinkt auch Most gern, obwohl
man den klaren, ausgegorenen Wein vorzieht.
Ist es ein reifer, klarer Wein, den ich hier, in der vorliegenden
deutschen Bearbeitung des Buches "Med Evropa in Ameriko",
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in dieser eigenartigen zweiten Auflage eines Werkes, das ja
doch keine erste Auflage vorweisen kann, kredenze? Ich kann
auf diese sich vordrängende Frage keine Antwort geben. Diese
Antwort wird der Leser geben müssen. Ich darf nur sagen, daß
ich gründlich umgebaut, sorgfältig gesiebt und gewissenhaft ge
feilt habe, daß ich eigentlich nur wenig vom ursprünglichen Bau
übriggelassen habe, daß ich die Logik verschärft, die Bilder ge
reinigt und den roten Faden, der sich durch das Buch hinzog,
fester, sehr fest, gespannt habe.
Ist es mir gelungen, ein wirklich befriedigendes Bild der Mensch
heit, wie sie war, ist und sein wird, zu malen? Werden es mir
die Physiker verzeihen, daß ich ihre wundervollen Schilderungen
der bewußtseinslosen Welt - sie schließen ja ausdrücklich das
Bewußtsein aus dem Kreis der von ihnen durchsuchten Welt
aus - über die unheimliche Bewußtseinsgrenze hinübergezerrt
habe? Werden die Philosophen es dulden, daß man die Bewußt
seinswelt mit physikalischen Hilfsmitteln entweiht?
Es kann kein zutreffendes Bild der Menschheit geben, das nicht
Körper und Seele berücksichtigt, Stoff und Geist, physikalische
und geisteswissenschaftliche Erkenntnisse. Man kann den Men
schen nicht erfassen, wenn man ihn nicht als ein merkwürdiges
Grenzgebilde sehen will, als Schnitt zweier Welten.
Man kann die Menschheit nicht erfassen, wenn man sie nicht
im Rahmen, in dem sie ist und immer war, betrachten will: als
ein eigenartiges Weltallgebilde, als etwas Fremdartiges in einer
ungeheuren, ihr fremden, feindlichen Welt.
Doch genugl Wer Neues bringt, muß auf alte Vorwürfe ge faßt
sein. Es hätte auch wenig Sinn, im Vorwort den Buchinhalt
vorausbesprechen zu wollen. Der Leser soll doch das Buch
lesen. Ich hoffe, daß er lesen, daß er die gezeichneten Bilder
auf sich einwirken lassen wird, daß er mich auf Wegen be
gleiten wird, die neuartige Ausblicke bringen. Dann möge er
selbst urteilen.
Ich darf sagen, daß ich wirklich gewissenhaft gearbeitet habe.
Ich begnügte mich nicht mit den Erfolgen der ersten, der
slowenischen Fassung des Buches. Ich hörte gern ernsten, er-
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fahrenen Männern zu, die Urteile über die ihnen vorgelegten
Buchabschnitte fällten.
Mein Freund, Kommerzialrat W. Wohleber in Wien, hat an dem
Werden dieses Buches lebhaftesten Anteil genommen, und ich
verdanke ihm zahlreiche wertvolle Hinweise und Ratschläge.
Professor Dr. Wilhelm Westphal in Berlin hat das fertige Manu
skript zweimal gelesen und sich erfolgreich um das Erscheinen
des Buches bemüht. Beide Herren haben mich auch beim Lesen
der Korrekturen unterstützt. Ich bin ihnen zu lebhaftem Danke
verpflichtet.
Dem Verlage wünsche ich von Herzen einen großen Leserkreis
für das Buch. Ich wünsche ihn auch mir selbst: mit verhaltener
Unruhe, leisem Hoffen und in aufrichtiger Bescheidenheit. Doch
bitte ich nur um gerechte Beurteilung. Es gilt, die Wahrheit, den
Ausblick in die kommende neue Zeit, zu erobern. Bucherfolge
bedeuten neben diesem Ziel nichts.
Lai b ach, im April 1941.
Milan Vidmar.
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INHALT
Zwischen Europa und Amerika 18
New York 88
Völkerwanderung 56
Amerika 88
Das große Durcheinander 112
Physik und Wirtschaft 148
Der Kampf mit dem Zufall 172
Arbeit 20S
Geld 246
Wirtschaft und Politik 294
Anfinge des neuen Zeitalters SSl
Das neue Geld S78
Glück 896
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ZWISCHEN EUROPA UND AMERIKA
D
urCh.den wunderbaren, groBen Saal schwebt zart ein Lied
von Schumann. Unzählige Male habe ich es bereits gehört,
unzählige Male hat es mich schon gefesselt. Unfehlbar zwang
es mich jedesmal, das Buch wegzulegen, wenn es mich beim
Lesen umschmeichelte. Auch diesmal legte ich mein Buch
auf den kleinen Tisch vor mir: F. D. Roosevelt's "Looking for
ward".
Der prachtvolle, riesige Salon hat wenige Gäste. Die Frische
der ersten Septembertage hält die meisten Reisenden auf dem
groBen Promenadendeck fest. Von ein bis drei Uhr spielt das
Schiffsorchester im Salon für bequeme Leute, die nach dem
Mittagessen ruhen wollen. Geschäftig tragen die Kellner schwar
zen Kaffee auf. Ihre schnellen Schritte werden von weichen
Teppichen sorgsam gedämpft.
Die Behaglichkeit der bequemen, weichen Lehnstühle, der kost
baren Teppiche, der reichen Deckenarchitektur und der auf
merksamen Bedienung ergreift den Reisenden so eindringlich,
daß er den feindseligen Ozean, seine roh zugreifenden Wogen
und Wellen, seine furchtbare Tiefe und seine ungezügelten
Winde vollkommen vergiBt. Zuweilen geht wohl ein mahnendes,
dumpfes Ächzen durch den Bau, eine unruhige Umgebung ver
ratend. Das verhaltene Stöhnen des Holzes und des Stahl
gerippes ertrinkt jedoch schnell in den Tonen der Orchester
musik. Schumanns Lied ist ein Teil der Behaglichkeit, die mich
umgibt.
Nachdem ich mein Buch weggelegt habe, hebe ich unwill
kürlich meinen Blick. Jetzt sehe ich durch die riesigen Fenster
den Ozean. Ich sehe Wasser, in Wellen gefaltetes, schmutzig
graues Wasser, Wasser, in dem sich düster der bewölkte Himmel
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