Table Of ContentDas Deutsche Kaiserreich
1871-1914
Ein historisches Lesebuch
Herausgegeben und eingeleitet
von
Gerhard A. Ritter
y. Auflage
VOR
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
Gerhard A. Ritter
Geboren am 29.3.1929, Studium in Tübingen, Berlin und Oxford. Dr.
phil. 1952 in Berlin, B.Litt. 1959 in Oxford; Habilitation in Neuerer Ge-
schichte und Politischer Wissenschaft 1961 in Berlin. 1962-65 o. Prof. für
Politische Wissenschaft an der FU Berlin, o. Prof. für Neuere Geschich-
te an den Universitäten Münster (1965-74) und München (seit 1974).
Gastprofessuren an den Universitäten in St. Louis, Oxford, Berkeley
und Tel Aviv. Vorsitzender des Verbandes der Historiker Deutschlands
1976-80. Seit 1980 Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaf-
ten. Honorary Fellow des St. Antony's College, Oxford. Planungsbeauf-
tragter für den Neuaufbau der Geschichte an der Humboldt-Universität
1991/92.
Veröffentlichungen: Die Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich
(1959, 2. Aufl. 1963); Parlament und Demokratie in Großbritannien
(1972); Deutsche Sozialgeschichte 1870-1914. Dokumente und Skizzen
(mit J. Kocka, 1974, 3. Aufl. 1982); Arbeiterbewegung, Parteien und Par-
lamentarismus (1976); Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch 1871-1918 (1980);
Die II. Internationale 1918/19,2 Bde. (1980); Staat, Arbeiterschaft und Ar-
beiterbewegung in Deutschland (1980); Sozialversicherung in Deutsch-
land und England (1983); Die deutschen Parteien 1830-1914 (1985); Der So-
zialstaat (1989, 2. Aufl. 1991); Wahlen in Deutschland 1946-1991 (mit M.
Niehuss, 1991); Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914 (mit
K. Tenfelde, 1992).
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Das Deutsche Kaiserreich 1871-1914 : e. histor. Lesebuch / hrsg. u.
eingeleitet von Gerhard A. Ritter. - 5. Aufl. - Göttingen :
Vandenhoeck und Ruprecht, 1992.
(Kleine Vandenhoeck-Reihe ; 1414)
ISBN 3-525-33384-6
NE: Ritter Gerhard A. [Hrsg.]; GT
5. Auflage 1992
Kleine Vandenhoeck-Reihe 1414
© 1992,1975. Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. -
Printed in Germany.-Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich
seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb
der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des
Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfälti-
gungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung
und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Umschlag: Hans-Dieter Ullrich
Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen
( Bayertech* J
StaatabtbHottiak
Inhalt
Einleitung 9
Erster Teil: Die politische Struktur des Deutschen
Reiches 25
I.Verfassung 27
Bevölkerungswachstum und Bevölkerungsbewegung 1871—
1913 27 — Die herrschenden Klassen und die mangelnde
politische Reife des Bürgertums 31 — Das deutsche Bürger-
tum und der Wilhelminismus 33 — Die Ideologie des deut-
schen Regierungssystems 35 — Das Reich, Preußen und der
Bundesrat 39 - Der Dualismus Preußen - Reich 43 — Die
Stellung Preußens im Bundesrat 47 — Die Arbeit im Bun-
desrat 49 — Kaiser und Reichstag 51 — Regierung und Volks-
vertretung im konstitutionellen System 52 — Der Reichs-
tag 53 — Der Reichstag nach der Jahrhundertwende 56 —
Die Arbeit des Reichstages in der Session 1893—94 58
2. Verwaltung und Beamtenschaft 59
Die Reichsbehörden und die Bevölkerung 59 — Die zentrale
und lokale Verwaltung in den deutschen Bundesstaaten 59 —
Die Ideologie des Beamtentums 63 — Kritik der Beamten-
schaft 67 — Das Kastenwesen in der Beamtenschaft 69 — Die
soziale Zusammensetzung der höheren Beamtenschaft in
Preußen 70 — Staatsamt und Privatinteresse 71 — Der Aus-
schluß von Sozialdemokraten aus der Beamtenschaft 72 —
Der Landrat 74 — Die selbständigen Gutsbezirke 77 — Der
Staat als Arbeitgeber 79 — Die Kommunalverwaltung und
die Ausdehnung der Industriestädte 82 — Die preußische
Eisenbahnverwaltung und die Interessenten 85
3. Das Militär 88
Preußen als Militärstaat 88 — Die Kommandogewalt des
Kaisers 88 — Die allgemeine Wehrpflicht und die Ergänzung
des Offizier- und Unteroffizierkorps 90 — Die Ideologie des
Offizierkorps 92 — Die Auswahl zum Offizierkorps und
der Luxus in der Armee 95 — Die Bevorzugung des Adels
im Offizierkorps 97 - Die Einjährig-Freiwilligen 99 — Der
Reserveoffizier und die bürgerliche Gesellschaft 200 — Das
Unteroffizierkorps 202
4. Parteiwesen und Wahlen W5
Die Demokratisierung und die wachsende Bedeutung der
Parteiapparate 205 — Die Fraktionen und der parlamentari-
sehe Betrieb im Reichstag 207 - Deutsche Parlamentssit-
ten 110 — Zusammenspiel von Regierung und Parteifüh-
rern 220 — Die Parteien und die Regierung 222 — Das preußi-
sche Staatsministerium und die Parteien 114 — Der Reichs-
kanzler und die Stichwahlen 1898 225 — Das Wahlrecht in
den deutschen Bundesstaaten 226 — Die Wirkung des preußi-
schen Wahlrechts auf die Zusammensetzung des Abgeord-
netenhauses 122
5. Parteien und Verbände 124
I. Die Konservativen 124
Ein konservativer Wahlkreis 124 — Die Proklamierung eines
konservativen Reichstagskandidaten 126 — Die Macht der
Konservativen Partei in Preußen 22S
IL Die Antisemiten 129
Das Vordringen des Antisemitismus 229 — Der politisdie
Antisemitismus 230
III. Die Nationalliberalen 232
Der Nationalliberalismus 232 — Die Nationalliberalen und
die Interessenten 2 34
IV. Das Zentrum 237
Das Zentrum und die einzelstaatlichen Parteiorganisationen
237 — Kandidatenaufstellung im badischen Zentrum 23S
Der Zentrumsstreit 240
V. Die Sozialdemokratie 243
Die Erziehungsarbeit der Sozialdemokratie 243 — Die Or-
ganisation der Sozialdemokratie 244 — Sozialdemokratisches
Parteileben in Chemnitz 245 — Ein sozialdemokratischer
Parteitag 252 — Die Beerdigung Wilhelm Liebknechts 255 —
Die politische Ohnmacht der SPD 257
VI. Die Verbände 259
Staat und Gewerkschaften bis zum Ende des 19. Jahrhun-
derts 259 — Der Bund der Landwirte 262 — Der Alldeutsche
Verband und die Regierung 265 — Der industrielle Wahl-
fonds 1912 267
Zweiter Teil: Deutsche Politik 1871-1914 . . . . 275
6. Reichsgründung, Reichsausbau und Kulturkampf .277
I. Reiohsgründung 277
Das Deutsche Reich und der Partikularismus 277 — Die
Kaiserproklamation in Versailles 279 — Kaisei und Reich
in Süddeutschland 280 — Wandel der Beurteilung Bismarcks
280 — Das Deutsche Reich und das europäische Gleichgewicht
281 - Die annektierte Provinz Elsaß-Lothringen 181
4
IL Bismarck und die Liberalen 283
Die Nationalliberalen und das Reich 183 — Die Fortschritts-
partei und die innenpolitische Situation 1873 285 — Liberale
Hochstimmung am Anfang der 70er Jahre 186 — Das Sep-
tennat und die Nationalliberalen 187 — Das Septennat und
die Konservativen 290 — Bismarck und das deutsche Par-
teiensystem 1875 293
III. Der Kulturkampf 294
Der Staat, die katholische Kirche und das Zentrum 294 —
Bismarck und das Zentrum 296 — Der Kulturkampf und die
Gesellschaft 299
7. Der innen- und wirtschaftspolitische Umschwung
1876—1879 und seine Auswirkungen auf das Partei-
wesen 202
Interessenpolitik und Parteien 202 — Die Schutzzollforde-
rung der Industrie 203 — Das Wahlprogramm Bismarcks
1878 207 — Die Schutzzollmehrheit des neuen Reichstages
209 - Die Allianz von Industrie und Landwirtschaft 1879
210 — Die verfassungs- und finanzpolitischen Motive Bis-
marcks 222 — Das Zentrum und die Umkehr der Wirtschafts-
politik 222 — Die Franckensteinsche Klausel 224 — Das
„System Bismarck" und die Pflicht der Nationalliberalen zur
Opposition 226 — Die Abspaltung des linken Flügels der
Nationalliberalen und seine Fusion mit der Fortschrittspartei
1879-1884 228 - Die Nationalliberalen in der Umformung
223 — Bismarck und die Nationalliberalen 229
8. Das Sozialistengesetz und die Grundlegung der deut-
schen Sozialversicherung 232
I. Das Sozialistengesetz und seine Wirkung 232
Das Sozialistengesetz 1878 232 — Das System Puttkamer:
Polizeispitzel und Provokateure unter dem Sozialisten-
gesetz 236 — Die Sozialdemokratie unter dem Sozialisten-
gesetz 239 — Die Wirkung des Sozialistengesetzes 242
IL Soziale Frage und Sozialversicherungsgesetzgebung . . 243
Der Verein für Sozialpolitik 243 — Das sozial-politische Pro-
gramm der Regierung 245 — Die Sozialgesetzgebung und
die Arbeiter 246
9. Das System Bismarck: Deutschland am Ende der acht-
ziger Jahre 248
Bismarck und die Kartellwahlen 1887 248 - Die Wahl-
absprache der Kartellparteien 1887 249 — Das Zentrum und
die Kurie 1887 250 — Die Liberalen und Kaiser Friedrich III.
253 — Die Machtstellung Bismarcks 256 — Bismarcks Ent-
lassung 257 — Bismarcks Regierungssystem 260 — Bis-
marcks politisches Erbe 262
10. Die deutsche Politik zwischen Sozialdemokratie und
Agrariern 264
I. Die Reformpolitik des neuen Kurses 264
Das sozialpolitische Programm 264 — Die Popularität der
sozialen Reform 1890 265 — Das Zentrum und der neue
Kurs 266 — Das Programm der preußischen Regierung 267
IL Die Handelsvertragspolitik Caprivis und die Formation
der Gegenkräfte 272
Die Motive der deutschen Handelspolitik unter Caprivi
272 — Die Bildung der agrarischen Bewegung 273 - Die
Regierung zwischen links und rechts 280
III. Sozialdemokratie und Staat am Anfang der neunziger
Jahre 282
Die Sozialdemokratie in der Erwartung des Untergangs der
bürgerlichen Gesellschaft 282 — Die Kartellparteien und der
neue Kurs 283 — Die preußische Verwaltung und die
Sozialdemokratie 1893 284 — Wilhelm IL, die Agrarier und
der Kampf gegen den Umsturz 286
11. Die Parole der Sammlung und die Weltpolitik • • 289
I. Präventivkrieg gegen die Sozialdemokratie und Samm-
lungspolitik 289
Staatsstreichpläne 289 — Die Nationalliberalen, die Regie-
rung und das Reichstags Wahlgesetz 1897 289 — Die Einlei-
tung der Sammlungspolitik 293 — Die Sammlungspolitik
des Bundes der Landwirte 294 — Die Wahlkampfparole der
Regierung 1898 29> — Die Sammlungspolitik in der Praxis
296 — Die Sozialdemokratie und der Tarifentwurf der Re-
gierung 298 — Der Zolltarif von 1902 und die Konservativen
299
IL Weltpolitik und Flottenbau 300
Der Platz an der Sonne 300 — Die Motive der Flottenpolitik
302 — Die Agitation für den Flottenbau 303 — Die Inter-
essenten und der Flottenbau 304
12. Die Parteienkonstellation zur Zeit des Bülow-Blocks
und die Kritik am persönlichen Regiment 306
I. Die Wahlen von 1907 und die Bildung des Bülow-Blocks 306
Die Reichstagswahlen von 1907 306 — Das Zusammengehen
der linksliberalen Parteien im Reichstag 312 — Das Pro-
gramm der Blockpolitik 322
II. D«s persönliche Regiment und die Daily-Telegraph-Krise 314
Das persönliche Regiment 324 — Die Daily-Telegraph-Affäre
und die ungelöste Verfassungsfrage 326
III. Die Finanzreform, Bülow und die Parteien . . . . 319
Die Finanzsituation des Reiches 1908 329 — Die National-
liberalen und die Vertretung bürgerlicher Interessen 322 —
Die politische Situation nach der Ablehnung des Erbschafts-
6
Steuergesetzes 1909 325 - Die Konservativen und der Block
327 — Der Rücktritt Bülows und die Parteienkonstellation
332
13. Deutschland am Vorabend des Weltkrieges • • • 333
Die Politik der Diagonale 333 — Die Sozialdemokratie und
die Frage des politischen Massenstreiks 334 — Die Konser-
vativen und die Regierung 1914 336 — Die Zabernaffare
1913: Der preußisch-deutsche Militarismus 340 — Die Er-
gebnisse deutscher Polcnpolitik 344 — Das deutsche Kolo-
nialreich 1913 346 — Fragen der Eingeborenenpolitik in
Deutsch-Ostafrika 348 — Probleme deutscher Weltpolitik
352 — Deutschlands Außenhandel 353 — Die deutsche
Arbeiterversicherung 355 — Sozialpolitik und Wirtschafts-
entwicklung 356 — Die Steuerbelastung in Deutschland,
England und Frankreich 362 — Die Jugendbewegung 363 —
— Frieden und Krieg 365
Ergebnisse der Reiclistagswahlen von 1871—1912 . . 366
Quellenverzeidinis 368
Personenregister 377
Ausioahlbibliographie 385
7
Einleitung
Dieser Band hat die Zeit des Bismarckreiches von seiner Grün-
dung im Januar 1871 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges,
der zur schwersten Krise und schließlich zum Zusammenbruch
des bestehenden politischen Systems führte, zum Gegenstand.
Die Jahre von 1914 bis 1918 sind dabei bewußt ausgespart
worden, um zu verdeutlichen, wie stark der Krieg als Motor
entscheidender objektiver Veränderungen im politischen, sozia-
len, ökonomischen und geistigen Bereich, aber auch als bestim-
mendes Erlebnis der Zeitgenossen die Ausgangsposition und
damit die Geschichte der Weimarer Republik geprägt hat.
Der Band beschränkt sich auf die Behandlung der politischen
Struktur und der politischen Geschichte, da jedes Bemühen um
Vollständigkeit der Aspekte, Probleme und Lebensbereiche die
ausgewählten Quellen auf bloße Kernsätze und Aphorismen
hätte reduzieren müssen. Der Leser sollte sich jedoch bewußt
sein, daß die dauerhaftesten Ergebnisse der behandelten Zeit-
epoche im Aufstieg Deutschlands von einem im Vergleich mit
Großbritannien und Belgien industriell unterentwickelten Land
zu einem der großen Industriestaaten der Welt, in der Verlage-
rung des Schwergewichts der Wirtschaft von der landwirtschaft-
lichen Produktion auf die Industrieerzeugung und schließlich
im Prozeß der Konzentration innerhalb der Industrie liegen.
Obwohl diese Fragen sowie die sich daraus ergebenden sozialen
Probleme und der Wandel der Lebensverhältnisse der verschie-
denen sozialen Schichten der Bevölkerung in einem parallelen
Band behandelt wurden*, so durfte doch auch hier nicht über-
sehen werden, daß die Grundkonstellation der politischen Kräfte
und ihre Wandlungen, aber auch das konkrete politische Ge-
schehen auf das engste mit der sozialen Struktur und den sozia-
len Umschichtungen sowie der Struktur und den Wellen der Kon-
junktur der deutschen Wirtschaft oder einzelner Wirtschaftszweige
verbunden gewesen ist. Aufgrund der Vielschichtigkeit und der
vielfachen Brechung der Wirkung wirtschaftlicher und sozialer
Prozesse ist allerdings ein direkter und eindeutiger Nachweis oft
schwer zu finden.
Im Gegensatz zu der Zeit von 1815 bis 1871, in der das miteinander
Vgl. Gerhard A. Ritter und Jürgen Kocka (Hg.): Deutsche Sozialgcschichcc
Band II: 1870—1914. Dokumente und Skizzen, München 1974, sowie diesen
Band ergänzend: Gerd Hohorst, Jürgen Kocka und Gerhard A. Ritter:
Sozialgeschichtliche'; Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs
1870—1914, München 1975.
9
verbundene, wenn auch nicht identische Ringen um politische
Freiheit und nationale Einigung eindeutig das dominierende The-
ma der deutschen Geschichte darstellt, fehlt für die folgenden Jahr-
zehnte des Bismarckreiches eine derart zentrale Frage, auf die sich
alle politischen Kräfte letztlich in Zustimmung oder Ablehnung
orientieren. Es gibt eine Reihe von Komplexen, wie etwa Imperia-
lismus und Weltpolitik, nationaler Staat und religiöse und natio-
nale Minderheiten, soziale Frage und Behandlung der Sozial-
demokratie, Freihandels- oder Schutzzollpolitik, die im beson-
deren Maße politische Leidenschaften erregten und zur Gruppierung
und Umgruppierung der politischen Kräfte beitrugen. Keine die-
ser Fragen kann aber als genereller Maßstab oder alleiniger Be-
zugsrahmen der Politik der Zeit angesehen werden. Daraus
resultiert die Notwendigkeit, in diesem Quellenband eine Vielfalt
politischer Aspekte und Fragen zu berücksichtigen.
Der Herausgeber hat trotzdem einen gewissen Bezugsrahmen für
die Auswahl der Quellen darin gesucht, daß er die Eigenart der
das politische Geschehen bestimmenden Institutionen und Kräfte
und ihre sich wandelnde Macht und Wirksamkeit im politischen
System des Deutschen Reiches vor 1914 aufzuzeigen trachtete.
Dabei waren Verwaltung und Militär, die traditionell den Obrig-
keitsstaat trugen, wie auch die sehr viel später mit der Einführung
von Parlamenten im 19. Jahrhundert entstandenen Parteien und
schließlich die erst nach der Reichsgründung zu voller Ausbildung
und wachsendem Einfluß kommenden Interessenverbände zu be-
handeln. Diese Frage nach den konstanten und variablen Faktoren
in den politischen Auseinandersetzungen und dem sich ständig
verschiebenden Wechselverhältnis von Regierung*, Parteien und
Interessenverbänden ist eng verknüpft mit den bis 1918 unge-
lösten Problemen der politischen Erziehung der deutschen Nation
und der Modernisierung des bestehenden politischen Systems,
die den in den Quellen nur gelegentlich ausdrücklich erwähnten,
aber — wie wir hoffen — dem Leser stets gegenwärtigen Hinter-
grund dieses Bandes bilden.
Die beiden Hauptteile des Buches sind dabei miteinander ver-
zahnt. Während im ersten, strukturellen Teil die Verfassung so-
wie die politischen Institutionen und Kräfte in Beschreibung,
Rechtfertigung und Kritik vorgestellt und der Charakter des poli-
tischen Lebens verdeutlicht werden soll, wird im zweiten, chrono-
logischen Teil versucht, die Wirksamkeit und die Umformung der
politischen Kräfte im Zusammenhang mit den zentralen Fragen
der deutschen Innenpolitik von 1871 bis 1914 zu zeigen.
• Im staatsrechtlichen Sinn gab es im Reich keine >Regierung<, sondern nur *dte
verbündeten Regierungen.. Wenn wir den Ausdruck -Regierung« im folgenden trotz-
dem verwenden, so meinen wir damit das Zusammenwirken von Kaiser. Bundesrat,
Reichsleitung (Reichskanzler und Staatssekretäre) sowie preußischem Staatsministerium
das rechtlich und vor allem auch faktisch an der Reichspolitik wesentlich beteiligt war
10