Table Of ContentHans Brinckmann . Stefan Kuhlmann
Computerbürokratie
Hans Brinckmann . Stefan Kuhlmann
Computerbürokratie
Ergebnisse von 30 Jahren öffentlicher Verwaltung
mit Infonnationstechnik
Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
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e 1990 Springer Fachmedien Wiesbaden
Ursprünglich erschienen bei Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen 1990
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Umschlaggestaltung: Horst Dieter Bürkle, Darmstadt
ISBN 978-3-531-12140-6 ISBN 978-3-663-19717-1 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-663-19717-1
Vorwort
Dieser Bericht versucht eine Bilanz von dreißig Jahren Datenverarbeitung in öf
fentlichen Verwaltungen und fünfzehn Jahren empirischer Forschung in diesem
Bereich - allerdings unter zugespitzter Perspektive: Hat die öffentliche Verwal
tung der Bundesrepublik durch die Nutzung der Computertechnik ihre Pro
blemlösungsfähigkeit entscheidend stärken können?
Im Rahmen dieser - von der Stiftung Volkswagenwerk finanzierten - Rekapitu
lation und Ergänzung empirischer Arbeit entstanden auch Längsschnittanalysen
des Informationstechnikeinsatzes bei ausgewählten Verwaltungszweigen; sie
wurden 1986 von Klaus Grimmer als Sammelband publiziert ("Informationstech
nik in öffentlichen Verwaltungen. Handlungsstrategien ohne Politik", Basel
1986) und sind in engem Zusammenhang mit dem vorliegenden Buch zu lesen.
Frühere Förderung von hier verarbeiteten Untersuchungen verdanken wir der
Stiftung Volkswagenwerk, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem
Bundesminister für Forschung und Technologie.
In den Feldanalysen dieses Berichtes verwerten wir - ohne dies im einzelnen zu
kennzeichnen - Veröffentlichungen und Arbeitspapiere von Mitgliedern der
Forschungsgruppe Verwaltungsautomation, von Lothar Beyer, Hanna Bielefeld
Hart, Klaus Grimmer, Anne Höhmann, Bernd Jungesblut, Heinrich Riehl,
Wolfg ang Rettberg, Wolfg ang Schäfer, Werner van Treeck und von uns selbst.
Bisher unveröffentlichte, eigens für diese Studie erstellte Feldanalysen haben
Beate Schaefer (Kap. 1,4.1.2), Lothar Beyer (Kap. 1,4.1.3) und Wolfgang Rett
berg (Kap. I, 4.2.1) beigetragen. Für genaues Lesen, hilfreiche Kritik und vielfäl
tige Anregungen danken wir Lothar Beyer, Klaus Grimmer und Bernd Junges
blut. Werner Killian war maßgeblich an der Erstellung der Literaturubersicht
beteiligt. Waltraud Pinkvohs hatte die mühevolle Erstellung der vielen Fassun
gen des Manuskriptes bis hin zur Druckvorlage übernommen.
Dieses Buch als Ergebnis unseres Projektes "Maschinisierung im administrati
ven Bereich: Mehr Problembewältigungsfähigkeit?" ist nur durch Vorarbeiten
und Kooperation aller Mitglieder der Forschungsgruppe Verwaltungsautoma
tion zustandegekommen. Wir ziehen lediglich eine Summe aus vielfältigen Be
richten und legen dabei eine eigene, nur von uns zu vertretende Sicht gemein
sam erarbeiteter Befunde vor.
Kassel, August 1989 Hans Brinckmann
Stefan Kuhlmann
Inhaltsverzeichnis
I Das Erbe von dreißig Jahren Maschinisierung der öffentlichen
Verwaltung -und warum es eine Last ist:
Problemlösung und Problemerzeugung durch Techniknutzung ............ 9
1 Löst die Informationstechnik Probleme der öffentlichen
Verwaltung? .................................................................................................... 9
2 Was von der Maschinisierung durch Informationstechnik
erwartet wurde ............................................................................................. 15
2.1 Entwicklungslinien der Informationstechniknutzung ............................. 15
2.2 Erwartungen und Leitbilder der Maschinisierung
und Reorganisation ...................................................................................... 20
3 Ein qualitativer Untersuchungsansatz ..................................................... 31
3.1 Ausgangshypothese: Maschinisierung als begrenzt innovatives
Mittel der Problembewältigung durch das politisch-administrative
System ........................................................................................................... 31
3.2 "Weiche" Kriterien problembewältigender Techniknutzung ................. 37
3.2.1 Kriterien der Makroebene ......................................................................... 40
3.2.2 Kriterien der Mikroebene .......................................................................... 43
3.2.3 Kriterium der Organisationsdynamik ....................................................... 47
4 Was die Nutzung der Informationstechnik bewirkte ............................. 52
4.1 Problemlösung ............................................................................................. 53
4.1.1 Zwischen Lösung von Zeit- und Mengenproblemen und Vernach-
lässigung von Klientenkontakten: Die Rentenautomation ..................... 53
4.1.2 Technokratische Problemlösung bei materieller Problemvernach-
lässigung: Die Zentrale Vergabestelle für Studienplätze ....................... 61
4.13 Flexibles Kommunikationssystem mit suboptimaler Nutzung:
Bürokommunikation in der Hessischen Veterinärverwaltung .............. 69
4.2 Problemvernachlässigung ........................................................................... 80
4.2.1 Techniknutzung für Randprobleme:
Das Baugenehmigungsverfahren ............................................................... 80
4.2.2 Späte Informatisierung lokaler Umweltschutzverwaltungen ................. 89
4.3 Problemstabilisierung ................................................................................. 92
4.3.1 Scheitern von Planungsinformationssystemen ......................................... 92
4.3.2 Halbherzige Dezentralisierung kommunaler Datenverarbeitung ......... 97
8 Inhaltsverzeichnis
4.4 Problemverlagerung .................................................................................. 106
4.4.1 Hohe Fallzahlen und komplexes Recht bei Steuerfestsetzung
und Steuererhebung .................................................................................. 106
4.4.2 Unangepaßtheit computerunterstützter Arbeitsvermittlung ............... 118
4.5 Problemerzeugung ..................................................................................... 123
4.5.1 Rasche Vergreisung der neuen Datenverarbeitungsinstanzen ............ 123
4.5.2 Das Verkehrsinformationssystem ZEVIS als informationelle
Mischverwaltung: ....................................................................................... 133
5 Warum die Erwartungen an die Nutzung der Informationstechnik
nur zum Teil erfüllt wurden .................................................................... 141
5.1 Maschinisierung administrativer Produktion:
Lösung gelöster Probleme ........................................................................ 145
5.2 Die inkrementale Eigendynamik administrativer
Implementationsprozesse ......................................................................... 149
5.3 Die Dominanz des Steuerungs- und Integrationsinteresses ................ 155
11 Beginn der neunziger Jahre:
Neue Aufgaben der Verwaltung und neue Technik .............................. 161
1 Perspektiven von Informatisierungsforschung
im öffentlichen Sektor .............................................................................. 161
2 Neue Technik· neue Reformchance? ..................................................... 168
3 Perspektiven des Computereinsatzes
in öffentlichen Verwaltungen ................................................................... 173
Zitierte literatur ...................................................................................................... 179
Bibliographie zur Automatisierung und Informatisierung
in der öffentlichen Verwaltung der Bundesrepublik Deutschland ................... 187
I Das Erbe von dreißig Jahren Maschinisierung der öffentlichen Verwaltung -
und warum es eine Last ist: Problemlösung und ProblemerzeugDng durch
Techniknutzung
1 Löst die Informationstechnik Probleme der öffentlichen Verwaltung?
Einleitende Zusammenfassung
Öffentliche Verwaltungen und politische Gremien, das politisch-administrative
System, sind technologischem Wandel ausgesetzt. Technisierung vollzieht sich
nicht nur in der Umwelt des Systems, um ihm von dort aus Anpassungsproble
me zu bereiten. Auch in den Verwaltungen selbst stellt der zunehmende Einsatz
moderner Technik, insbesondere von Informationstechnik (Datenverarbeitung,
Kommunikationstechnik, Text- und Bildverarbeitung), das politisch-administra
tive System vor neue Aufgaben und beeinflußt die Fähigkeit der Administration,
die an sie gerichteten Anforderungen bewältigen zu können: besser oder weni
ger gut.
Die Informationstechnik wurde - und wird in wachsendem Maße - von Politi
kern und Verwaltungsorganisatoren als wichtiger, manchmal sogar als der Pro
blemlöser angesehen und dargestellt. Aber, ist die Problembewältigungsfähig
keit im administrativen Bereich mit der zunehmenden Maschinisierung (heute
spricht man zutreffender von Informatisierung) nun tatsächlich gestärkt wor
den?
- Auf der einen Seite ist die Informationstechnik - in unterschiedlichen An
wendungszusammenhängen auf je verschiedene Weise - durchaus geeignet,
die intellektuelle und kommunikative Kompetenz von Verwaltungseinheiten
zu erhöhen und die Effektivität des Verwaltungshandelns zu stärken; sie
kann Verwaltungen zu besserer Bewältigung von Anpassungsproblemen be
fähigen.
- Auf der anderen Seite wurden bei vielen Anwendungen der Informations
technik nicht alle Träume wahr. Es finden sich zahlreiche Fälle inflexiblen
und unintelligenten Umgangs mit "flexibler" und "intelligenter" Technik;
manche Anwendungen der neuen Technik haben interne Strukturprobleme
von Verwaltungen derart verschärft, daß man die Maschinisierung dort als
Beitrag zur Bücokratisierung und zur Minderung der Problembewältigungs
fähigkeit bezeichnen muß.
Wir stellen an Automationsbeispielen, über die wir im Zusammenhang von em
pirisch orientierten Projekten Material sammeln konnten, eine Reihe von Typen
der Problembewältigung (bzw. -nichtbewältigung) dar (Kap. I, 4), wir entwickeln
(drei) mögliche Erklärungsmodelle für eine nur begrenzte Problembewälti
gungsfähigkeit der Maschinisierung (Kap. I, 5) und wägen schließlich die Konse-
10 1 Löst die Informationstechnik Probleme der öffentlichen Verwaltung?
quenzen dieser Überlegungen für zukünftigen Technikeinsatz in öffentlichen
Verwaltungen ab (Teil 11).
Unsere Feststellungen gelten vor allem für die "Verwaltungsautomation" von
Mitte der fünfziger bis Mitte der achtziger Jahre, also für die Zeit der beinahe
ausschließlichen Nutzung der großen, zentralen Mainframe-Computer. Späte
stens seit dem Beginn der achtziger Jahre kommen aber vermehrt Informations
und Kommunikationstechniken zum Einsatz, die sehr flexibel und individuell ge
nutzt werden können (doch schon viel früher gab es Alternativen zur Main
frame-Computer-Welt, die jedoch kaum ergriffen wurden). Diese Konzentration
der Darstellung auf die Jahre 1955 bis 1985 bedeutet keinesfalls, daß die Befun
de bereits der Vergangenheit angehörten: Die meisten der in den sechziger und
siebziger Jahren entwickelten Datenverarbeitungsverfahren der öffentlichen
Verwaltung sind -wenigstens ihrem Grundmuster nach -auch heute und noch in
näherer Zukunft im Einsatz.
Eines unserer zentralen Ergebnisse lautet: Ein unmittelbarer Zusammenhang
von Informationstechnikeinsatz und Problembewältigung durch öffentliche Ver
waltungen läßt sich nur in wenigen Fällen (wir zeigen solche Fälle) nachweisen
wenn man unter Probleme druck) einen spezifischen, auf die Erledigung ihrer
Aufgaben bezogenen Handlungsdruck auf einzelne Verwaltungsorganisationen
versteht, der im politisch-administrativen System oder von (Teilen) der Öffent
lichkeit formuliert und auf diese Organisationen ausgeübt wird (illustrierende
Beispiele in Kap. I, 4): Der Computereinsatz kann solche Probleme selten ganz
einfach "lösen"; wo es doch so aussieht, werden häufig neue Probleme erzeugt, z.
B. nimmt die Qualität einer Verwaltungsleistung ab; oder die Arbeitsbedingun
gen der Verwaltungsbeschäftigten verschlechtern sich; oder der Bürger benötigt
besondere Qualiftkationen, um Nutzen aus Verwaltungsleistungen zu ziehen.
Dafür gibt es eine Reihe von Gründen; einige von ihnen sind:
Die Entwicklung von computergestützten Verwaltungsverfahren bis zur An
wendungsreife dauert(e) in der Regel länger, als "Probleme" Bestand haben,
auf die zu Beginn einer Automatisierungsplanung Bezug genommen wurde:
Wenn ein Verfahren "läuft", stellt sich die politisch-administrative Problem
lage oder deren Verständnis oft schon wieder ganz anders (Beispiel: compu
tergestützte Arbeitsvermittlung in den siebziger Jahren). Oder die Weiter
entwicklung der Informationstechnik verlief schneller als die auf einen be
stimmten technischen Stand bezogene Implementation technisch-organisato
rischer Lösungen, so daß während der Einführungsphase Konzepte technisch
verändert wurden und die Einheitlichkeit einer technisch-organisatorischen
Bearbeitung verlorenging.
Ansprüche an computergestützte Verwaltungsverfahren und wirkliche Lei
stungsfähigkeit fielen (fallen) oft weit auseinander. Die Möglichkeiten der
Hardware- und vor allem der Software-Technik wurden (werden) häufig
überschätzt, während umgekehrt die tatsächliche Komplexität des jeweiligen
Verwaltungsvollzugs (auf der Mikroebene alltäglichen Verwaltungshan-
1 Löst die Informationstechnik Probleme der öffentlichen Verwaltung? 11
delns), den man informationstechnisch zu reproduzieren versuchte, erheblich
unterschätzt wurde und wird.
Zu oft hatte und hat man Verwaltungshandeln tatsächlich schlicht "maschini
siert", statt informationstechnisch unterstützt: Die Verwaltungsautomation
(der Begriff selbst sagt es bereits) versucht(e), Aufgabenerledigungsprozesse
informationstechnisch nachzubilden, um sie zu beschleunigen, zu verbilligen,
in größerer Zahl zu realisieren ... Die dabei stattfindende Standardisierung
und Formalisierung der Verwaltungsproduktion erhöht zwar den Grad der
Objektivierung des Verwaltungshandelns, senkt aber häufig auch seine Flexi
bilität gegenüber (non-konformen) Einzelfällen und gegenüber der schnell
wechselnden Wahrnehmung politisch-administrativer Problemlagen. Aus
heutiger Sicht erscheint nicht so sehr die "Automatisierung" als vielmehr die
verbesserte Informationsversorgung des Verwaltungshandelns als die ange
messenere Option der Technisierung der Administration.
Wo die Option der verbesserten Informationsversorgung der Verwaltung in
der Vergangenheit gewählt wurde (selten), scheiterten die Projekte (vor al
lem die großen "Informationssysteme") an der hohen Komplexität der prin
zipiell relevanten Informationen aus der und über die Gesellschaft: Entwe
der man läßt Informationen hoher Komplexität zu, stößt in der Folge dann
aber auf entsprechende informationstechnische und organisatorische Schwie
rigkeiten, oder man reduziert die maschinell zu verarbeitende Informations
komplexität, produziert dann aber Ergebnisse von ZU geringer praktischer
Relevanz.
Im Verlaufe der Entwicklung von computergestützten Verwaltungsverfahren
zeigte sich, daß zu bewältigende "Problemlagen" in Gesellschaft und Ver
waltung, die anfangs durch den Filter politisch-administrativer Gesamtsicht
noch homogen und damit prinzipiell lösbar erschienen, sehr verschieden
wahrgenommen und interpretiert werden können, abhängig von der gesell
schaftlichen oder binnenadministrativen Position und den entsprechenden
Interessen der am Entwicklungsprozeß beteiligten Akteure. Ein fertigge
stelltes Computerverfahren "löst" deshalb unter Umständen ganz andere
Probleme, als ursprünglich formuliert worden waren, und bedient andere
Interessen als die, welche den Maschinisierungsprozeß in Gang gesetzt ha
ben. Die Eigenarten administrativer Produktionsprozesse und die Eigenarten
der Technikimplementationsprozesse - welche sich durch die kompliziert
verwobenen Netze von Interessen der administrativen Akteure zu entwickeln
haben -, also "binnenstrukturelle" Faktoren (Scharpf 1982), bilden mithin ein
wichtiges Bündel von Ursachen der Einschränkung der Problembewälti
gungsfähigkeit (Kap. I, 5.1 und 5.2).
Damit ist nun keinesfalls behauptet, daß die Maschinisierung im administrativen
Bereich folgenlos geblieben wäre. Das Gegenteil ist der Fall: Für die großen
"Massengeschäfte" der Verwaltung hat sie nicht nur Entlastung gebracht, son
dern das beständige Aufgabenwachstum überhaupt erst bewältigbar gemacht.
Das politisch-administrative System ist daher in seiner heutigen Gestalt ohne
immense Informationstechniknutzung gar nicht mehr vorstellbar; dies jedoch
weniger, weil, wie gern unterstellt wird, die staatliche Administration aufgrund