Table Of ContentSWP-Studie
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale
Politik und Sicherheit
Uwe Halbach
Bilanz einer
»Farbrevolution«
Georgien im politischen Wandel 2003–2013
S 24
Dezember 2013
Berlin
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ISSN 1611-6372
Inhalt
5 Problemstellung und Empfehlungen
7 Rückblick auf die erste »Farbrevolution«
im GUS-Raum
8 Mit Rosen bedacht? Ausgangsbedingungen
der Wende
9 Eine demokratische Revolution?
11 Überwindung fragiler Staatlichkeit?
12 Menschenrechtspolitische Bilanz
13 Auf Rosen gebettet? Sozialökonomische Bilanz
16 Eine »Kulturrevolution« für Europäisierung?
17 Wiederherstellung territorialer Integrität?
18 Erneut im Übergang – Machtkampf nach dem
Regierungswechsel und Konsolidierung des
»Georgischen Traums«
18 Der Justizsektor im Blickpunkt
20 Sozialökonomische Entwicklung
21 Außenpolitik als innenpolitischer Streitpunkt
26 Ausblick
28 Abkürzungsverzeichnis
Dr. Uwe Halbach ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der
Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien
Problemstellung und Empfehlungen
Bilanz einer »Farbrevolution«
Georgien im politischen Wandel 2003–2013
Was dem Titel dieser Studie nach wie ein Rückblick
auf die »Rosenrevolution« vom November 2003 aus-
sieht, hat gegenwartsbezogene Bedeutung. Die Wähler
in Georgien haben im Oktober 2012 einen Schluss-
strich gezogen und die Regierungspartei ihres Präsi-
denten, des wichtigsten Protagonisten dieser Wende,
abgewählt. Mit diesem Regierungswechsel durch
Wählerentscheid setzte Georgien abermals ein histo-
risches Signal im postsowjetischen Raum, wo an die
hundert Parlaments- und Präsidentschaftswahlen
seit 1991 zumeist die Kontinuität bestehender Macht-
eliten bestätigten und oft unter Fälschungsverdacht
standen. Zwischen den Parlamentswahlen vom
1. Oktober 2012 und den Präsidentschaftswahlen vom
27. Oktober 2013 befand sich das Land in einer Über-
gangsphase. Geprägt war sie vom Machtkampf zwi-
schen den Lagern um den noch amtierenden Präsiden-
ten Micheil Saakaschwili und den neuen Regierungs-
chef Bidsina Iwanischwili, zwischen der in die Oppo-
sition verbannten einstigen Regierungspartei Vereinte
Nationale Bewegung und der neuen Regierungskoalition
des Georgischen Traums. Der Kandidat Iwanischwilis
und des Georgischen Traums, der 44-jährige Giorgi
Margwelaschwili, gewann die Präsidentschaftswahlen
mit 62 Prozent der Wählerstimmen.
Die Frage nach der Zukunft des Landes unter einem
neuen Präsidenten, der fortan mit weniger Macht
ausgestattet sein wird, regt dazu an, eine Bilanz der
»Rosenrevolution« zu ziehen. Was ist aus den Grund-
versprechen geworden, die Demokratisierung, Über-
windung fragiler Staatlichkeit und Wiederherstellung
territorialer Integrität lauteten? Wie wird die Entwick-
lung der letzten zehn Jahre im Lande selbst und von
externen Akteuren eingeschätzt und bewertet? Wie
geht die neue Führung mit den Defiziten in der Bilanz
um?
Ein Hauptaugenmerk liegt dabei auf dem Span-
nungsverhältnis zwischen Demokratisierung und
Stärkung von Staatlichkeit. Die Wende von 2003 prä-
sentierte sich auf internationaler Bühne als »zweiter
Anlauf zu demokratischer Transformation«, nachdem
der erste Anlauf in Nachfolgestaaten der Sowjetunion
weitgehend gescheitert war. Damit mobilisierte die
»Rosenrevolution« Aufmerksamkeit für Georgien und
den Südkaukasus im westlichen Ausland. Europäische
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Problemstellung und Empfehlungen
Politik, die nun diese Region in ihre östliche Nachbar- des Landes wie in den meisten postsowjetischen Staa-
schaft einbezog, legte Wert auf Partizipation von ten eine Art Personenkult, während die Bildung poli-
Zivilgesellschaft, Festigung demokratischer Institutio- tischer Institutionen vernachlässigt wurde. Vor der
nen und Gewaltenteilung. Zivilgesellschaftliche Kräfte Präsidentschaftswahl vom 27. Oktober 2013 wurde
waren wesentlich an der »Rosenrevolution« beteiligt. im innenpolitischen Diskurs die Frage laut, wie sich
Aber nach der Wende traten ihre namhaften Reprä- Georgien von der Fixierung auf Personen und von
sentanten in die Regierung ein. Durch Verfassungs- »politischem Messianismus« emanzipieren könnte.
änderungen wurde die Gewaltenteilung zugunsten Die Hauptdarsteller in der politischen Auseinander-
der Exekutive verschoben, die nun auf breiter Front setzung, Präsident Micheil Saakaschwili und Premier
Verwaltungsreformen in Angriff nahm. Dabei bildete Bidsina Iwanischwili, mussten beziehungsweise
sich ein Machtmonopol um Saakaschwili heraus, ein wollten ihre Ämter nach den Wahlen aufgeben und
superpräsidentielles System, das sich von der Gesell- machten die politische Bühne für eine neue Führung
schaft absetzte. Aus Sicht der Europäischen Union frei. Zudem sollen nach dem Wechsel im Präsidenten-
gehörte vor allem die Abhängigkeit der Justiz von der amt Verfassungsänderungen umgesetzt werden, die
Exekutive zu den Defiziten, die an der Entwicklung schon im Oktober 2010 beschlossen wurden. Die Macht-
nach 2003 bemängelt wurden. verteilung innerhalb der Exekutive (zwischen dem
Das Feld, auf dem nach der »Rosenrevolution« am Präsidenten und dem Regierungschef) und zwischen
meisten geleistet wurde, betrifft Funktionen von Exekutive und Legislative soll neu justiert werden. Ob
Staatlichkeit, die zuvor weitgehend erodiert waren. der angestrebten Festigung von Institutionen ein
Kernstück der Erneuerung war eine Korruptions- tiefgreifender Wandel der politischen Kultur folgen
bekämpfung, die bis dahin im postsowjetischen Raum wird, bleibt indes fraglich. Auch nach dem Regierungs-
immer wieder angekündigt, aber nie in die Tat um- wechsel blieb unter der Führung des Multimilliardärs
gesetzt worden war. Am deutlichsten gescheitert ist Iwanischwili das politische Geschäft weitgehend von
die Wiederherstellung der territorialen Integrität. einer Person abhängig. Iwanischwili legte zwar nach
Eine fragwürdige Konfliktpolitik gegenüber den ab- den Präsidentschaftswahlen ebenso wie Saakaschwili
trünnigen Landesteilen Abchasien und Südossetien sein Amt nieder. Aber die beiden Nachfolger in den
sowie eine sich gleichzeitig verschärfende Konfronta- Ämtern des Präsidenten und des Premierministers,
tion mit Russland mündeten im August 2008 in einen Giorgi Margwelaschwili und Irakli Garibaschwili, sind
»Fünftagekrieg«, der die umstrittenen Territorien noch Männer seiner persönlichen Wahl. Iwanischwili hat
stärker von Georgien trennte und an Russland band damit dem dritten Anlauf politischer Transformation
als zuvor. Die neue Regierung will nun ihre Russland- in Georgien seinen Stempel aufgedrückt.
politik und ihren Umgang mit den »besetzten Gebie- Für europäische Politik besteht Grund, Bemühun-
ten« pragmatischer und weniger konfrontativ gestal- gen um Demokratisierung in Georgien weiterhin
ten, trifft dabei aber kaum auf Entgegenkommen aus zu unterstützen. Das Land mit seinen heute knapp
Moskau. Das Verhältnis gegenüber Russland bleibt ein 4,5 Millionen Einwohnern gehört seiner demographi-
Streitpunkt im politischen Diskurs in Georgien. schen, geographischen und ökonomischen Größen-
Georgiens sozialökonomische Entwicklung nach ordnung nach zwar in eine Kleinstaaten-Liga, hat sich
2003 wird in Indizes internationaler Organisationen aber aus der östlichen Nachbarschaft der EU hervor-
völlig anders bewertet als von einem großen Teil der gehoben. Vor allem seit 2003 hat es sich an die euro-
Bevölkerung des Landes. Eine radikale Wirtschafts- päische Adresse mit der Botschaft gewandt: Ihr sollt
liberalisierung erntete zwar überschwängliches Lob uns mit euren Maßstäben messen – wir wollen an
bei internationalen Finanzorganisationen und führte ihnen gemessen werden. Die Botschaft aus den meis-
zu einer deutlichen Zunahme ausländischer Investi- ten anderen nachsowjetischen Staaten lautet anders.
tionen in Georgien, konnte die Armut jedoch nicht Die politische Entwicklung Georgiens hat diesen
spürbar vermindern. Die Reformrückstände vor allem Maßstäben zwar nicht völlig genügt, aber die auch
in der Landwirtschaft, in der ein großer Teil der Be- von der neuen Regierung verkündete Ausrichtung an
völkerung arbeitet, stellen die neue Regierung und ihnen verpflichtet Europa zu einer Haltung, die als
den neuen Präsidenten vor dringliche, aber kurzfristig »kritische Solidarität« beschrieben werden könnte.
kaum zu meisternde Herausforderungen.
Nach wie vor – und besonders unter Präsident
Saakaschwili – dominierte in der politischen Kultur
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Rückblick auf die erste »Farbrevolution« im GUS-Raum
Rückblick auf die erste »Farbrevolution« im GUS-Raum
Im November 2003 führten Parlamentswahlen in ordneten sich in eine Reihe friedlicher, aber durch
Georgien, die unter dem Verdacht der Wahlfälschung Umsturz erwirkter und durch Wahlfälschung aus-
standen, zu einem Machtwechsel, der die Scheward- gelöster Regimewechsel ein, die in der postkommu-
nadse-Ära (1992–2003) in der nachsowjetischen Ent- nistischen Welt Vorläufer in Kroatien und Serbien
wicklung des Landes beendete und unter dem Namen hatten. In diesen Farbrevolutionen spielte die Frage
»Rosenrevolution« historische Bedeutung erlangte. der nationalen Identität und der Ausrichtung nach
Diese erste »Farbrevolution« im GUS-Raum präsentier- Europa eine Rolle. Unter den Trägern der Bewegung
te sich auf internationaler Bühne als zweiter Anlauf ragten prowestliche Jugendorganisationen wie Kmara
zu demokratischer Transformation. Im Jahr 2002 stell- (Es reicht!) in Georgien und Pora (Es ist Zeit!) in der
te der amerikanische Politikwissenschaftler Thomas Ukraine hervor.
Carothers die Annahme in Frage, die nachsowjetischen Russland reagierte nun noch stärker als zuvor mit
Staaten befänden sich im Übergang von totalitären Abneigung gegen westlichen Einfluss auf die politi-
politischen Systemen zu demokratischen Staatswesen. sche Entwicklung in seinem »nahen Ausland«. Aus
Er hielt der Demokratisierungspolitik westlicher Sicht der Machteliten in Russland, Zentralasien und
Geber vor, historisch gewachsene politische, soziale anderen Teilen des GUS-Raums waren die Farbrevolu-
und kulturelle Bedingungen und Pfadabhängigkeiten tionen, auf die sich 2005 dann noch ein als »Tulpen-
in den betreffenden Ländern nicht genügend in revolution« plakatierter Machtwechsel in Kirgistan
Betracht zu ziehen.1 Nun signalisierte die Wende in berief, das Resultat einer von westlichen Einfluss-
Georgien einen demokratischen Neubeginn und zentren genutzten politischen Technologie. Kleine
erhöhte in Europa die Aufmerksamkeit für den Süd- Gruppen professioneller Aktivisten seien von west-
kaukasus. Dort waren unterschiedliche politische lichen Agenten trainiert worden, Regimewechsel zu
Entwicklungen zu besichtigen. So vollzog sich fast betreiben und dabei den Eindruck zu erwecken, als
gleichzeitig, aber im Kontrast zur georgischen »Rosen- seien diese Revolten spontan und von breiter Unter-
revolution« in Aserbaidschan die erste dynastische stützung der Bevölkerung getragen. In Wirklichkeit
Herrschaftsübertragung in einer postsowjetischen gehe es hier um die Expansion geopolitischer Macht
Präsidialautokratie.2 Im Jahr 2004 weitete die Euro- in den postsowjetischen Raum.4 Russland bot sich
päische Union ihre Kaukasuspolitik aus. Sie bezog nun verstärkt als Anlehnungsmacht für Regierungen
jetzt auch die drei südkaukasischen Staaten in ihre in seiner Nachbarschaft an, die vom Westen wegen
östliche Nachbarschaft ein, nachdem sie diese Region fehlender Demokratie und Menschenrechtsverletzun-
bei ihrer anfänglichen Verständigung über ein »Wider gen kritisiert wurden. Zweifellos wurden die »Farb-
Europe« noch nicht berücksichtigt hatte.3 Ein Jahr revolutionen« von westlichen Regierungen und Nicht-
nach der Wende in Georgien nährte die Ukraine, der regierungsorganisationen wie Open Society unterstützt.
größte Staat in der östlichen Nachbarschaft, mit der Aber der in Moskau, Minsk oder Taschkent gängige
»Orangenen Revolution« die Hoffnung auf nachholen- Hinweis auf Steuerung von außen blendet die inneren
de Demokratisierung. Georgien und die Ukraine Ursachen für die Anfechtung autoritärer Herrschaft
und schlechter Regierungsführung völlig aus.
Bald schon klang der Schock für die postsowjeti-
1 Thomas Carothers, »The End of the Transition Paradigm«,
schen Machteliten wieder ab. Nach Wahlen in Aser-
in: Journal of Democracy, 13 (2002) 1, S. 5–21.
2 Uwe Halbach, Herbst der Patriarchen. Wahlen, dynastischer baidschan und Kasachstan Ende 2005, die die Konti-
Herrschaftswechsel und »Rosenrevolution« im Südkaukasus, Berlin: nuität der alten Machteliten bestätigten, hieß es in
Stiftung Wissenschaft und Politik, November 2003 (SWP-
Aktuell 49/2003). 4 Zu dieser Perzeption siehe Donnacha Ó Beacháin/Abel
3 Uwe Halbach, »The European Union in the South Caucasus. Polese, »American Boots and Russian Vodka – External Factors
Story of a Hesitant Approximation«, in: Friedrich-Ebert- in the Colour Revolutions of Georgia, Ukraine and Kyrgyz-
Stiftung (Hg.), South Caucasus – 20 Years of Independence, Bonn stan«, in: Totalitarismus und Demokratie, 5 (2008) 1, S. 87–113
2011, S. 300–315. (89f).
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Rückblick auf die erste »Farbrevolution« im GUS-Raum
russischen Medien, das Gespenst der »Farbrevolutio- krise. Sein Industriesektor schrumpfte bis 1998 auf
nen« sei bereits auf dem Rückzug. Dabei zeigte sich unter 10 Prozent des Ausgangsniveaus am Ende der
eine weitere Gemeinsamkeit: Friedlicher Macht- sowjetischen Periode. Laut der Weltbank brach in
wechsel war offenbar nur in Ländern möglich, in keinem anderen postsowjetischen Staat die landwirt-
denen auch unter dem gestürzten Regime ein Mini- schaftliche Produktion so stark ein wie in Georgien,
mum politischer Freiheitsrechte gewährleistet war das zuvor der Obst- und Gemüsegarten, der Weinstock
wie in Georgien unter Schewardnadse oder in Kir- und eine herausragende Tourismusregion der Sowjet-
gistan unter Akajew. Mit den Revolten in arabischen union gewesen war.6
Ländern 2011 kehrte von Moskau bis Taschkent die Unter der Regierung Schewardnadses konnte in
Erinnerung an diese Zäsur in der postsowjetischen der Folgezeit zwar ein Mindestmaß politischer und
Entwicklung zurück.5 wirtschaftlicher Stabilität wiederhergestellt werden.
Georgien erfüllte aber auch weiterhin das Bild fragiler
Staatlichkeit, mit mangelnder Kontrolle über sein
Mit Rosen bedacht? Staatsterritorium, nichtstaatlichen Gewaltakteuren,
Ausgangsbedingungen der Wende systemischer Korruption, der breitesten Schattenwirt-
schaft unter postkommunistischen Staaten und hohen
Die Rosensymbolik geht auf ein Zitat des ersten geor- Kriminalitätsraten. Grundlegende Funktionen von
gischen Präsidenten Swiad Gamsachurdia zurück, der Staatlichkeit waren um die Jahrtausendwende ero-
beim Übergang zur staatlichen Unabhängigkeit seines diert. Russland, das 1999 in seinen zweiten Krieg in
Landes gesagt haben soll: »Wir werden auf unsere Tschetschenien eingetreten war, forderte zwecks
Feinde Rosen werfen statt Kugeln feuern.« Dieser Über- »Terrorismusbekämpfung« ein Recht auf Intervention
gang indes war in Georgien alles andere als rosig. Es in Georgien, da die Regierung in Tiflis nicht imstande
wurden in dieser Zeit doch eher Kugeln verschossen sei, die Oberhoheit über das Staatsgebiet auszuüben.
als Rosen gestreut. Zu Anfang der 1990er Jahre erlebte Aber auch in Berichten des US-Finanzministeriums,
Georgien bürgerkriegsähnliche Verhältnisse mit des Internationalen Währungsfonds und der Europäi-
Machtkämpfen in der Hauptstadt und Sezessions- schen Kommission wurden politische und ökonomi-
kriegen in der Peripherie. Mit drei autonomen Gebiets- sche Indikatoren für Georgiens Staatsversagen auf-
körperschaften innerhalb seiner Staatsgrenzen – geführt, trotz des hohen Ansehens, das Staatspräsident
den autonomen Republiken Abchasien (Hauptstadt: Schewardnadse international genoss.
Suchumi) und Adscharien (Batumi) sowie dem auto- Der Machtwechsel von 2003 fällt in die Zeitspanne
nomen Gebiet Südossetien (Zchinwali) – wurde es vom 2. November (Parlamentswahl) bis zum 22. No-
auf dem Weg in die Unabhängigkeit wie kein anderer vember (erste Sitzung des neuen Parlaments). Eine
Gliedstaat der Sowjetunion bei der Wahrung terri- Oppositionskoalition mit Micheil Saakaschwilis Partei
torialer Integrität herausgefordert und verlor durch Vereinte Nationale Bewegung an der Spitze mobilisierte
Separatismus gut ein Fünftel seines international eine Protestbewegung gegen Wahlfälschung. Unter
anerkannten Staatsterritoriums. Eine nationalistische Führung Saakaschwilis stürmten Oppositionsanhän-
Politik unter Gamsachurdia trug mit Parolen wie ger mit Rosen in den Händen am 22. November das
»Georgien den Georgiern« dazu bei, ethnische Minder- Parlament, unterbrachen Schewardnadses Eröffnungs-
heiten und autonome Gebietskörperschaften zu ver- rede und forderten seinen Rücktritt vom Amt des
prellen. Der Beginn der Schewardnadse-Ära 1992 war Präsidenten. Der damals 75-Jährige zog sich in seine
von militärischer Gewalt gegenüber abtrünnigen Residenz zurück und wollte den Ausnahmezustand
Landesteilen geprägt. Das Land musste Flüchtlings- verkünden. Er fand jedoch in seinen eigenen Reihen
ströme verkraften, die bis heute Integrationsprobleme keine Unterstützung mehr. Unter Vermittlung inter-
aufwerfen. Georgien erlitt eine drastische Wirtschafts- nationaler Diplomatie, insbesondere des russischen
Außenministers Iwanow, erklärte er seine Demission.
5 So werden zum Beispiel in den staatsgelenkten Medien Der Oberste Gerichtshof annullierte die Parlaments-
Usbekistans soziale Netzwerke als Instrument dargestellt, das wahlen.
von externen Mächten genutzt wird, um »Farbrevolutionen«
wie in Georgien und der Ukraine und später im Mittleren
Osten zu steuern: »Iz ›cvetnych‹ revoljucij v ›internetnye‹?« 6 European Stability Initiative (ESI), Georgia’s Libertarian
[Von den Farbrevolutionen zu Internet-Revolutionen?], Pravda Revolution, Part Three: Jacobins in Tbilisi, Berlin/Tiflis/Istanbul,
Vostoka, 9.7.2013. 25.4.2010, S. 4.
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Eine demokratische Revolution?
Eine demokratische Revolution? postsowjetischen Staates mit einer jungen Führungs-
elite, deren Wurzeln politischer und akademischer
Bei den Präsidentenwahlen im Januar 2004 erzielte Sozialisation nicht mehr in der sowjetischen Periode
Saakaschwili 96 Prozent der Stimmen. Die Zustim- lagen. Georgien setzte damit einen erfrischenden
mung zum Machtwechsel war überwältigend. War es Kontrast zur politischen Kultur in Staaten, an deren
eine »Revolution«? Die Protestbewegung vom Novem- Spitze ewige Präsidenten wie Lukaschenko (Belarus),
ber 2003 war in Tiflis zwar sichtbar und hielt tagelang Karimow (Usbekistan), Nasarbajew (Kasachstan) oder
an, stand aber hinter dem Massenauflauf zurück, der Dynastien wie die Alijew-Familie (Aserbaidschan)
sich einige Monate später in Kiew mit Hunderttausen- stehen. Durch Verfassungsänderungen wurde 2004
den Teilnehmern und mehrwöchigen Zeltlagern voll- die Gewaltenteilung neu justiert – zugunsten der
ziehen sollte. Besonders Schewardnadse widersprach Exekutive, die sich nun anschickte, auf breiter Front
dem Bild einer revolutionären Wende: »Vierzig, fünf- zentrale Funktionen einer zuvor geschwächten Staat-
zig Leute, die ein Parlament stürmen – ist das eine lichkeit wiederherzustellen. Der Europarat kritisierte
Revolution? Das war ein Umsturz. Ich wurde hinaus- bereits Mitte 2004, dass dies ohne Rückkoppelung mit
geworfen, ein anderer kam herein, hat meinen Platz der Gesellschaft durchgepeitscht wurde, noch bevor
eingenommen.«7 Die Protagonisten der »Rosenrevo- ein neues Parlament gewählt worden war.
lution« kamen aus einem reformorientierten Flügel Unter den »Rosenrevolutionären« wurde diskutiert,
der gestürzten Regierungspartei. Das Dreigestirn welche Form des öffentlichen Dienstes das überlebte
der Wende – Präsident Micheil Saakaschwili, die Par- sowjetbürokratische Modell ersetzen sollte. Ein Flügel
lamentsvorsitzende Nino Burdschanadse und der unter Premierminister Schwania plädierte für das
Premierminister Surab Schwania – hatte schon zuvor westeuropäische Muster, das sich an Max Webers
Posten in der politischen Führung des Landes als Theorem legal-rationaler Bürokratie anlehnt und sich
Justizminister (Saakaschwili) und Parlamentsvorsitzen- mit Personalpolitik auf der Basis von Qualifikation
de (zuerst Schwania, danach Burdschanadse) besetzt. und Bewährung im Amt ausweist. Stattdessen setzte
Revolutionär muteten die Spannweite und Radika- sich aber eine andere Strömung mit dem Modell
lität der Reformmaßnahmen an, die nach dem Um- eines New Public Management durch, das erstmals in
sturz in kürzester Zeit in Angriff genommen wurden, den 1980er Jahren in Neuseeland und Teilen der
um die breite Zustimmung zum Machtwechsel zu angloamerikanischen Welt erprobt worden war. Sie
nutzen. Die Idee war, die staatliche Organisation erhob Flexibilität zum Hauptprinzip des Regierens
schlagartig zu verändern. Englischsprachige Kommen- und installierte ein an neoliberalen Grundsätzen
tare erhoben einen »blitzkrieg approach« zum Kern- orientiertes System des Heuerns und Feuerns.10 In
merkmal der Reformen, die der »Rosenrevolution« einer der weltweit jüngsten Regierungen wechselten
folgten.8 Vano Merabischwili, der langjährige Innen- Minister im Jahrestakt – mit wenigen Ausnahmen
minister unter Saakaschwili und der prominenteste wie der des Innenministers Merabischwili, der bis
unter den 2013 verhafteten Amtsträgern der abge- 2012 das mächtigste Ressort leitete. Einige Gefolgs-
wählten Exekutive, kommentierte dieses Vorgehen leute Saakaschwilis hatten im Alter von 35 Jahren
mit den Worten: »Wir haben nicht auf europäische schon mehrere Ministerposten hinter sich. Unter
Geber gehört, die Reformen für uns ausarbeiten woll- solchen Bedingungen konnte (und sollte?) sich so
ten und uns den Rat erteilten, Schritt für Schritt vor- etwas wie Kontinuität in den Ressorts und »institu-
zugehen.«9 tionelles Gedächtnis« kaum bilden.
Radikal war auch die Personalpolitik. Sie brachte
den ersten Generationswechsel in der Regierung eines
10 »It is still commonplace for new ministers to demand
7 Zitiert in: Zurab Karumidze/James V. Wertsch (Hg.), Enough! significant changes in staffing, even among fairly junior staff.
The Rose Revolution in the Republic of Georgia, New York 2005, The main problem behind this continuing weakness is a con-
S. 29. viction within the Georgian government that flexibility in
8 Johan Engvall, Against the Grain. How Georgia Fought Corrup- the civil service is more important than independence, secu-
tion and What It Means, Washington, D.C./Stockholm: Central rity or long-term professional development.« Transparency
Asia-Caucasus Institute & Silk Road Studies Program, Septem- International Georgia, European Neighbourhood Policy: Monitoring
ber 2012 (Silk Road Paper), S. 32, <www.silkroadstudies.org/ Georgia’s Anti-corruption Commitments, Tiflis 2010, S. 5, <http://
new/docs/silkroadpapers/1209Engvall.pdf>. transparency.ge/sites/default/files/post_attachments/ENP_TI
9 Ebd., S. 55. _Georgia.pdf>.
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Rückblick auf die erste »Farbrevolution« im GUS-Raum
Die »Rosenrevolution« hob die Beteiligung zivil- Wie fällt der Vergleich mit der »nachrevolutionä-
gesellschaftlicher Kräfte an der Wende als ihr Marken- ren« Entwicklung in der Ukraine aus? Die Präsidenten
zeichen hervor. Für den friedlichen Machtwechsel war Saakaschwili und Juschtschenko erlangten enthusias-
es von Bedeutung, dass die Protestbewegung gegen tische Unterstützung in Washington. 2005 schlugen
Schewardnadse durch Gruppen wie die Jugendbewe- Senator McCain und Hillary Clinton sie gemeinsam
gung Kmara oder die Georgian Young Lawyers Association für den Friedensnobelpreis vor, da sie überzeugend für
unterstützt wurden, die wiederum von ausländischen die universellen Werte von Demokratie, Freiheit und
Geldgebern wie George Soros gesponsert wurden. In Bürgerrechten einträten. Aus amerikanischer Sicht
der ersten Regierung nach dieser Wende befanden hatte die Rosenrevolution Georgien »von einem klepto-
sich unter zwanzig Ministern acht junge Leute, die kratischen, schwachen, halb-demokratischen Regime
zuvor für solche vom westlichen Ausland finanzierte innerhalb weniger Wochen in eine konsolidierte
Nichtregierungsorganisationen gearbeitet hatten. Demokratie verwandelt«.13 Präsident George W. Bush
In der Folgezeit kam dann aber die Rede von der erhob bei seinem Staatsbesuch in Tiflis im Mai 2005
Verstaatlichung von Zivilgesellschaft auf, von ihrer Georgien »zum Leuchtturm der Freiheit«. Bald wurden
»Enthauptung«. Viele ihrer führenden Vertreter wan- die Hoffnungen in beiden Ländern aber auf unter-
derten in die Regierung ab. Aus diesem Grund muss- schiedliche Weise gedämpft. Georgien inszenierte
ten einige kleinere Organisationen, die sich zuvor für seine »Revolution« vor allem als Kampf gegen systemi-
Demokratisierung stark gemacht hatten, ihre Arbeit sche Korruption, Vetternwirtschaft und fragile Staat-
einstellen. Westliche Geber leiteten ihre finanzielle lichkeit und erzielte dabei einige beachtliche Erfolge,
Unterstützung um – weg von einem hochgradig ab- auf die noch einzugehen sein wird. Dabei schälten
hängigen Ensemble von Nichtregierungsorganisa- sich aber in der Regierung autoritäre Versuchung und
tionen, hin zu einer neuen Regierung, die als Garant Selbstherrlichkeit heraus. Attribute demokratischer
für Demokratie wahrgenommen wurde.11 Medien wie Staatlichkeit wie die Rechenschaftspflicht der Regie-
der Sender Rustavi-2, die der »Rosenrevolution« ihr rung gegenüber der Gesellschaft blieben dabei auf der
Gesicht gegeben hatten, wurden regierungsfreund- Strecke. Der Regierungsapparat setzte sich fast aus-
lich. Vergleichende Untersuchungen für den post- schließlich aus Gefolgsleuten Saakaschwilis zusam-
sowjetischen Raum nach den »Farbrevolutionen« er- men.14 Die Reformen, die Georgien von Korruption,
gaben, dass die Zivilgesellschaft in den Staaten nur Machtmissbrauch und Kriminalität heilen sollten,
schwach ausgeprägt ist.12 In Georgien engagiert sich waren angeblich nur durch eine beträchtliche Stär-
kaum mehr als ein Prozent der Bevölkerung in diesem kung der Exekutive auf Kosten der anderen Gewalten
Bereich, die Mitgliedschaft in politischen Parteien möglich. Sie stellten damit Georgiens »demokratische
beschränkt sich auf 1,7 Prozent. Parteien, Nichtregie- Transformation« in Frage. Jedenfalls verbesserte sich
rungsorganisationen und Gewerkschaften formieren die Demokratisierungsbilanz des Landes in den Jahren
sich weniger als Verbund gesellschaftlicher Interessen nach 2003 kaum.15 In der Ukraine machte sich nach
denn als Klientel um einflussreiche Persönlichkeiten. der »Orangenen Revolution« ebenfalls Ernüchterung
Insgesamt ließ die politische Partizipation der Bürger breit. Hier wurde zwar im Gegensatz zu Georgien die
nach der Wende von 2003 zu wünschen übrig. Es Gewaltenteilung gefestigt und die Legislative gestärkt,
bildete sich ein Machtmonopol um Saakaschwili, das
sich immer mehr von der Gesellschaft abhob. Stark
13 Lincoln A. Mitchell, Uncertain Democracy. U.S. Foreign Policy
zentralisierte und intransparente Entscheidungs- and Georgia’s Rose Revolution, Philadelphia: University of Penn-
prozesse führten zu einschneidenden Ereignissen wie sylvania Press, 2009, S. 6.
dem Krieg mit Russland im August 2008. 14 Laut Davit Usupaschwili, dem gegenwärtigen Parlaments-
vorsitzenden aus den Reihen des Georgischen Traums, waren
99 Prozent der Staatsdiener zwischen 2004 und 2012 Mit-
11 Brian Grodsky, »Co-optation or Empowerment? The Fate glieder der Regierungspartei. Davit Usupashvili, Georgia’s New
of Pro-Democracy NGOs after the Rose Revolution«, in: Europe- Government: The Record So Far and Challenges Ahead. Russia and
Asia Studies, 64 (November 2012) 9, S. 1684–1708 (1693). Eurasia Summary, London: Chatham House, 20.6.2013, S. 3.
12 Jonathan Wheatley, »Civil Society in the Caucasus: Myth 15 Für das Jahr 2009 bewertete Freedom House diese Bilanz
and Reality«, in: Caucasus Analytical Digest, (22.1.2010) 12, mit 4,93 Punkten sogar etwas schlechter als für 2003, das
S. 2–6; Orysia Lutsevych, How to Finish a Revolution: Civil Society letzte Jahr unter der Herrschaft Schewardnadses (4,83). Jos
and Democracy in Georgia, Moldova and Ukraine, London: Chat- Boonstra, Assessing Democracy Assistance: Georgia, Madrid:
ham House, Januar 2013 (Chatham House Briefing Paper Fundación para las Relaciones Internacionales y el diálogo
Nr. 1/2013). exterior (FRIDE), Mai 2010 (Project Report), S. 1.
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