Table Of ContentBEWUSSTWERDUNG
Und G.I. Gurdjieff
Von
Solange Claustres
Editions Eureka
Inhalt
Vorwort 1
Einführung 2
Meine erste Begegnung 4
Toasts auf die Idioten und Beinnamen 6
Der Schleier 8
Einen toten Esel hinter sich herziehen 11
Milapera 12
Die Holzschlange 15
Der Nachtisch 17
Der Weihnachtsbaum 19
Die Angst 20
Befreiung von meiner Mutter 21
Die Schlange, die Mönch werden wollte 22
Fasten, die verschiedenen Nahrungen 23
Einmal, Eines Tages, Kurze Erzählungen:
-Die Tränen 25
-Gutes Publikum 26
-Dr. Conge 26
-Es ist nicht so 26
-Atmosphäre 27
-Auf Andere Achten 27
-Samtband 28
-Bahnhof St. Lazare 30
-Der Abschied von Monsieur Gurdjieff 33
Die Tänze – Movements
Die Kunst, eine Lehre ohne Worte
zu vermitteln 35
Wachsamkeit 44
Ich Bin Mich Selbst 45
Worte von Georges Gurdjieff 46
Kurze Bemerkungen zu dieser Lehre
Meine Überlegungen 49
Transformation der Substanzen
im Menschen 58
-Annäherung an die Physiologie 64
-Gespräch über die Physiologie
mit Pascale W.: 65
Nahe Georges Gurdjieff 68
Meine Begegnung mit G. Gurdjieff 74
G. Gurdjieffs Leben kurz skizziert 77
Anmerkung: In der zweiten Auflage der Französischen
Auflage ist das Kapitel „G. Gurdjieffs Leben kurz skizziert“
direkt nach dem Vorwort, und die Kapitel „Nahe G. Gurdjieff“
sowie „Meine Begegnung mit G. Gurdjieff“ nach der Einleitung.
-1-
VORWORT
In diesem Buch beschreibe ich G.I. Gurdjieff und seine Lehre, welche ich von 1941 bis
1949 bei ihm in Gruppen, bei Treffen, bei den Movements und bei ihm zuhause kennen
gelernt habe. Auch während meines gesamten Lebens.
Diese Lehre der Bewusstwerdung, der Entwicklung Seiner Selbst, der Klarheit, der
Ehrlichkeit, ist mir zur Lebenspraxis geworden. Meine Erfahrung seit 1941 erlaubt es mir,
Zeugnis abzulegen.
Und ich bin es mir in diesem Vorwort schuldig, die Leser mit mehreren Tatsachen bekannt
zu machen, damit sie klar die Authenzität, die Ehrlichkeit oder das Gegenteil, oder die
Phantasie sehen:
Mehrere Organisationen haben sich im Namen von G.I. Gurdjieff gebildet und ihre Führer
sind alle nicht von Monsieur Gurdjieff und/oder Mme de Salzmann instruiert worden.
Manche waren Schüler von Schülern, verschiedener Herkunft, ohne eine tiefere Erfahrung
mit dieser Lehre gemacht zu haben.
Andere, die einen Schüler kennen, die Ideen, die Bücher von oder über G., bilden Gruppen
im Namen von G. Gurdjieff, ohne die Praxis seiner Arbeit ausgeübt zu haben. Aspekte der
Ideen werden deformiert, ebenso der Movements. Die wirkliche innere Arbeit von G.
Gurdjieff ist nicht vorhanden.
Die richtige Kenntnis und die richtige Praxis im Sinne der Energien, der Aufmerksamkeit
und des Bewusstseins ist nicht vorhanden, weil sie diese nicht praktiziert haben.
Ich weise darauf hin, daß einige für ihre Organisation, die vor allem kommerziell sind, den
Namen von G. Gurdjieff benutzen und Namen oder Titel, welche G. vor langer Zeit benutzt
hatte, wie: „Institut für die harmonische Entwicklung des Menschen", „Der vierte Weg",
und andere Namen; indem sie sich der Bücher über und von G. Gurdjieff bedienen, und
aller möglichen Dokumente, obgleich die Organisatoren niemals die Arbeit von G.
Gurdjieff praktiziert haben.
Selbst Personen, die in den von Monsieur Gurdjieff und/oder Mme de Salzmann gebildeten
Gruppen waren, sind nicht immer auf der Höhe ihrer Verantwortung, durch einen Mangel
an wirklicher Suche oder/und einem Bedürfnis nach Macht, aus Eitelkeit oder Schwäche.
Andere in Gruppen sind praktisch nicht in dieser Lehre, weil sie innerlich nicht arbeiten:
Ihr Ego ist zu stark, ihre Einbildung nährt ihre Illusion und ihre physische Anwesenheit bei
den Treffen genügt ihnen.
Bei allem, was ich hier beschreibe, füge ich hinzu, daß bestimmte Menschen durch die
Ehrlichkeit ihres Wesens instinktiv und intuitiv den wirklichen Sinn dieser Lehre verstehen
können und sie wirklich auf die Suche begeben können, geleitet von ernsthafter
Beobachtung und einer tiefen Bewusstwerdung ihrer selbst.
-2-
EINFÜHRUNG
Dieses Werk legt Zeugnis ab von dem, was ich von G. Gurdjieff wie ich ihn kannte,
vermitteln möchte. Von seiner Lehre, wie ich sie verstanden habe und von dem, wie ich zu
jener Zeit gedacht und gefühlt habe.
Indem ich meine Erinnerungen und meine Eindrücke wieder durchlebte, um so
wahrheitsgetreu wie möglich zu sein, hat diese Niederschrift meine innere Arbeit mit G.
Gurdjieff verlängert, den Umfang dessen, was er mir gegeben hat präzisiert und hat mir nach
und nach meinen inneren persönlichen Weg bewusst gemacht, den Weg meines innersten
Wesens.
Ich versuche zu vermitteln, was ich von G.I. Gurdjieff erhalten habe und besonders dieses
außergewöhnliche Gefühl, das von ihm ausstrahlte, dieses Verstehen des Wesens, seines
Herzens, als ob er ein „Ohr" gehabt hätte, das die Bewegungen meines Gefühls „hörte".
Er war so bei allen. Dies war keine Sentimentalität. Seine Aufmerksamkeit war ein Akt der
Anwesenheit für den anderen, für die anderen.
Da mir eine solche Präsenz in meinem Umfeld immer gefehlt hatte, war ich für diese Qualität
der Aufmerksamkeit für den anderen, für mich, dankbar.
Als ich G.I. Gurdjieff kennen lernte, war ich schon durch die seit meiner Kindheit erlebten
traumatisierende Dramen gereift und durch Ideen, die mein Denken beschäftigten und ich
versuchte den Sinn des menschlichen Leidens zu verstehen, den Sinn des Lebens.
Hinter meinem entschiedenen Charakter, meiner leidenschaftlichen Natur, die sich aus
verschiedenen Erbanlagen zusammensetzte, versteckte sich der andere Teil in mir, der das
Kind blieb, das er niemals sein konnte, naiv und schüchtern, den nur Monsieur Gurdjieff
gesehen hat, erkannt hat und dem er ein Gefühl des Vertrauens gab.
Ich suchte keinen Meister, ich suchte den Sinn des Lebens der Menschen.
Eine Bekanntschaft über jemanden anderes brachte mich in Kontakt mit Madame Jeanne de
Salzmann, die eine Gruppe vorbereitete, um sie Monsieur Gurdjieff vorzustellen.
Meine Begegnung mit G.1. Gurdjieff war die mit dem Meister, dessen ich bedurfte: eines
Meisters, der sich seiner selbst bewußt war, der Anderen, des Lebens und des Sinns dieses
Lebens.
Einige Zeit nach dem Tod von G. Gurdjieff riet mir Mme de Salzmann, meine Erfahrung mit
ihm niederzuschreiben. Aber zu jenem Zeitpunkt fühlte ich mich nicht fähig zu schreiben.
Viel später, als ich meinen eigenen Schülern in dieser Lehre G. Gurdjieff beschrieb, fühlte
ich die Notwendigkeit, mein Zeugnis als Akt der Dankbarkeit niederzuschreiben, die
Aufgabe, von G.1. Gurdjieff und seiner Bedeutung zu erzählen.
Die Lehre von G. Gurdjieff ist weder eine Philosophie., noch eine Religion. Es ist eine
Schule der Bewusstmachung seiner selbst durch eine tiefere Kenntnis seiner selbst, für die
Entwicklung und Entfaltung aller seiner Fähigkeiten durch eine Disziplin des Denkens, des
Gefühls und des Körpers, durch verschiedene Übungen für jeden dieser Teile, getrennt und
gleichzeitig.
Diese Lehre ist Teil des ,;Vierten Weges", der sich von dem des Mönchs, des Yogi und des
Fakirs unterscheidet; die sich speziell mit dem Gefühl oder dem Denken oder dem Körper
beschäftigen und verlangen, an sie zu glauben.
G. Gurdjieff verlangte nicht, daß man glaubte, sondern im Gegenteil, kritisch zu sein, zu
experimentieren und selbst zu lernen.
-3-
Diese Lehre verlangt nicht den Rückzug aus dem Leben; man muß in seinem Leben bleiben
und ganz allmählich vollkommen präsent in seinem ganzen Leben werden.
Dieser Weg stellt subtilere Anforderungen als die anderen.
G. Gurdjieff und seine Schule haben eine tiefe Kenntnis der physischen, physiologischen und
psychischen Aspekte des Materials im Prozeß der Evolution des Seins, durch die
Transformation der Substanzen, der Energien, ihres miteinander in Beziehung stehenden
Kreislaufs.
Der Meister oder der Ältere ist da um „aufzuwecken", Hinweise zu geben, dem Schüler
gemäße Übungen in die Praxis umzusetzen. Wenn dies nicht auf richtige Weise geschieht, ist
er weder Meister, noch Älterer, auch wenn er diesen Platz einnimmt.
Einen Teil dieser Schule stellen die „Movements" dar, in bestimmten Klöstern ,;Heilige
Tänze" genannt.
G. Gurdjieff setzte die inneren Übungen dieser Schule in den Movements in die Praxis um.
Sie werden entsprechend den Möglichkeiten des Schülers geübt.
Meine Beschreibungen sind das Ziel dieser Schule, aber jeder dieser Übenden ist mehr oder
weniger entfernt von ihrer wirklichen Anwendung, die eine Demut und sehr rigorose innere
Disziplin erfordert, wo die Einsicht und der wirkliche Wunsch, auf diesem Weg zu sein, nicht
immer stark genug sind, da das Ego immer anwesend ist.
Die Kenntnis dieser Ideen ohne ihre rigorose Ausübung, kann keine Transformation
hervorbringen und im Gegenteil, ein sehr subtiles Hindernis für ein wirkliches Verständnis
und für ihre Praxis sein.
-4-
MEINE ERSTE BEGEGNUNG
Eines Abends in der Rue des Colonels Renard stellte Mme. Jeanne de Salzmann Georg
lvanovitch Gurdjieff eine Gruppe von Personen vor, die sie für seine Lehre vorbereitet hatte,
ich befand mich unter ihnen.
Wir kamen in einen Vorraum, wo wir unsere Mäntel auf einen Sessel und zwei Stühle legten
und betraten ein Zimmer, das Eßzimmer. Es füllte sich schnell mit Leuten, die einen saßen,
andere standen, da nicht genug Platz war, mehr Stühle aufzustellen.
Beim Eintreten sah ich am Ende eines langen Tisches, in einem Sessel mit dem Rücken zur
Tür, eine imposante Gestalt, leicht im Profil. Ich sah das Gesicht nicht, aber es konnte nur
Monsieur Gurdjieff sein. Und impulsiv ging ich dorthin und setzte mich auf den Boden dicht
neben seinem Sessel, zu seiner Linken.
Ich wußte nichts von ihm, noch hatte ich sein Foto gesehen. Aber das Wenige, was ich von
seinem Rücken sah, seinem Körper, der Eindruck, den ich davon erhalten hatte, gab mir dies
unwiderstehliche Verlangen, nah bei ihm zu sein, mit einem sehr starken Gefühl, meine
Familie wiederzufinden, zu Hause zu sein.
Auf dem Boden neben dem Sessel von G. sitzend, den Tisch in Höhe meines Kopfes,
hätte ich ihn nur heben müssen, um ihn zu sehen, was ich nicht tat. Ich machte mich
ganz klein, wie in einem Versteck zusammengekauert. Ich dachte nicht, daß man auf
mich achten würde.
Aber da machte ich meine erste Erfahrung, direkt und stark!
Es gab einige einleitende Worte, auf die ich nicht achtete, da ich mich diesem Gefühl
der Entdeckung hingab, zu Hause zu sein und dem, was von G.I. Gurdjieff ausstrahlte,
das mir einen tiefen Eindruck gab von etwas schon Bekanntem, weit Zurückliegenden,
das ich nun wiederfand.
Und in einem Moment, während eines Schweigens, wendete sich G. I. Gurdjieff zu mir
und sagte, auf mich deutend in einem fragenden, bestimmten Ton, ein wenig
nachdrücklich: „Diese Person hat eine Frage zu stellen, etwas Wichtiges zu sagen."
Ich war ertappt, überrascht, Ich hatte nicht erwartet befragt zu werden, da wir
gekommen waren, um Fragen zu stellen! Ich genierte mich sehr zu sprechen. Ich konnte
keine Worte finden und konnte nur meine ständige Frage stellen. "Ich versuche zu
verstehen, was der Sinn des Lebens ist."
Monsieur Gurdjieff drehte sich ohne mir zu antworten zu Mme de Salzmann um und
warf ihr in unzufriedenem Ton vor, Leute zu bringen, die nicht vorbereitet waren, daß
ich nicht vorbereitet sei.
Er fuhr fort, Mme de S. zu beschimpfen, die ruhig blieb, gleichmütig. G. Gurdjieff
drehte einige Male leicht den Kopf zu mir und beobachtete mich verstohlen.
Ich wusste gut, daß ich nicht bereit war. Tränen flossen mir aus den Augen und liefen
über meine Wangen. Sie rührten aus einer tiefen Verzweiflung und einem tiefen
Bedürfnis nach „ich-weiß-nicht-was". Ich sagte nichts, ich hatte wirklich nichts zu
sagen.
-5-
In all den Jahren, die ich bei ihm verbracht habe, ist dies das einzige Mal, wo Monsieur
Gurdjieff in einer Situation, die mich betraf, Unzufriedenheit ausdrückte, und dies war
meine erste Begegnung!
Dies war für mich ein großer Schock, weil hinzukam, dass ich die einzige war, an die er
sich direkt wandte, obwohl ich geschwiegen hatte...
Ich fühlte mich in einen Abgrund stürzen.:.
In der Stille die folgte, wendete sich G., nachdem er mich nochmals betrachtet hatte, zu
mir um und fragte mich ernst: „Sie, böse mit mir?" Ich antwortete ohne zu zögern
sofort: „Nein, Monsieur". Dies stimmte, warum sollte ich böse mit ihm sein, da er doch
recht hatte?
Immer noch zu mir gewendet, stellte G. in erstauntem Ton nochmals die Frage: „Sie,
nicht böse mit mir?" Ich antwortete wieder: „Nein, Monsieur" und meine Tränen liefen
mir immer noch wie Wasser über das Gesicht.
G. Gurdjieff drehte sich dann zu Mme, de S. um, nickte mit dem Kopf, gab einen tiefen,
gedämpften Ton von sich, wie eine Zustimmung. Und mit langsamen Gesten nahm er
sein eigenes Dessert, neigte sich zu mir und gab es mir mit einer außergewöhnlichen
Freundlichkeit und Zartheit.
Ich hatte ein unbeschreibliches Gefühl. Immer noch in Tränen, nahm und aß ich dieses
Dessert, eine kleine Schüssel, gefüllt mit Sahne, Joghurt, Früchten und Konfitüre und
hatte den Eindruck, zum ersten Mal in meinem Leben genährt zu werden. Dies war für
mich wie ein Erkanntwerden, ich von ihm und er von mir, wie ein zwischen uns
geschlossener Pakt.
Die Zusammenkunft ging weiter, als ob nichts passiert wäre.
Ich versuchte den Sinn seiner Haltung zu verstehen, da er mich nicht persönlich
angegriffen hatte. Ich hatte mich wegen eines essentiellen Bedürfnisses neben ihn
gesetzt: !m Zentrum zu sein. Tatsächlich war ich ganz im Zentrum! Wollte G. Gurdjieff auf
den Platz, den ich mir neben ihm eingenommen hatte, besonders hinweisen?
Das Geschenk seines Desserts war wie eine Einweihung, ein „Ritterschlag", ich habe es
empfunden wie eine Kommunion im Gefühl und in der Empfindung, das erste Mal in
meinem Leben genährt zu werden. Dies wurde durch den Geschmack des Desserts, der sich
in mir ausbreitete und mich erfüllte, konkretisiert.
In dieser ersten Begegnung hatte ich den Eindruck einer großen Kraft: Das Gefühl gesehen zu
werden wie ich bin, das mir den Eindruck gab zu existieren. Ich habe G.I. Gurdjieff
verstanden wie jemand, der das Innerste eines Wesens empfindet und direkt bis dorthin
vordringt.
Ich fühlte mich durch ihn erkannt. Ich fühlte das erste Mal, daß ich existiere, ich existierte.
-6-
DIE TOASTS AUF DIE "IDIOTEN" UND DIE BEINAMEN
Nach unserem Gruppentreffen gab es ein Essen mit G. Gurdjieff, wo wir Toasts auf die
Namen ausbrachten, die von den Schülern der Gruppe ausgewählt waren und manchmal von
Monsieur Gurdjieff.
Für die Toasts bat G., sich einen Namen aus einer Liste auszusuchen, die mehrere Reihen mit
jeweils drei Namen enthielt. Es gab zum Beispiel: gewöhnlich, höher, erleuchtet, zig-zag
usw.
G. Gurdjieff nannte diese Reihe die „Idioten". Dieser Name hatte nicht den negativen Sinn
wie im Französischen, sondern G. bediente sich seiner offensichtlich um zu provozieren!
Weil er einfach bedeutete: „jemand".
Für den Toast nahm man nur ein ganz kleines Glas Armagnac oder Wodka. Frauen konnten
so tun, als ob sie tranken oder nur ein Drittel trinken.
Ich hatte oft die Rolle, die Toasts auf die „Idioten" auszubringen. Ich habe beobachtet, daß
der ausgewählte Name das ausdrückte, was man von sich selbst dachte. Manchmal gab G.
Gurdjieff selbst einen Namen oder er --änderte den, den wir ausgewählt hatten. Ich bemerkte,
daß diese Namen einem Zug unseres Charakters entsprachen oder sogar das Innerste der
Person ausdrückten.
Eines Tages sagte G., daß man vom viereckigen zum runden übergehen konnte, oder das
Gegenteil, vom runden zum viereckigen, wo es Haltepunkte gibt. Die Änderung des Namens
durch G. Gurdjieff sollte einen inneren Übergang auf ein anderes Niveau bezeichnen. Es
handelte sich daher um Arbeit an sich selbst, die das Wesen transformierte.
In alten Traditionen werden jeder Etappe, die ein Mensch zurücklegt; Namen gegeben:
Geburt, Jugendalter, Erwachsenenalter und Ereignisse; die eine Veränderung im Leben
hervorrufen.
Ich hatte den Namen „Widerspenstige" gewählt. Ich fühlte mich so und sogar auch heute
noch! Eines Abends, beim Ertönen meines Namens, drehte sich G. zu mir um und sagte in
erstauntem Ton: „Sie widerspenstig?"... Und er fügte entschieden hinzu: „Sie mitfühlend!"...
Ich war überrascht, ich sah mich überhaupt nicht so!
Und eines Abend, beim Toast auf meinen Namen, sagte mir G: „Sie Mitfühlende?... Aber ...
subjektiv? oder objektiv?"... So stellte G. Gurdjieff alles in Frage! ... Ich musste verstehen,
daß ich „mitfühlend" war, und subjektiv? oder objektiv?...!
Ein Beispiel brachte mich auf die Spur: Ich erzählte G, daß ich einer Kameradin finanziell
und moralisch half. Er sagte: „Sie haben einer Person geholfen? Sie werden Schläge von
dieser Person
erhalten! Man muß wissen, wie man hilft, lernen zu helfen. Der Mensch ist so gemacht!"
Später habe ich die Wahrheit seiner Worte erfahren: Diese Frau verschwand, ohne Erklärung
und ohne mir das Geld zurückzugeben!
Ich benötigte lange Zeit, um mir meine Haltung bewußt zu machen: Ja: Naiv, subjektiv,
anstatt bei klarem Verstand zu sein, objektiv und zu wissen, wie man „Nein" sagt.
Meine Natur ist so, daß ich oft diese Situation wiederfinde, mit der ganzen Inkonsequenz des
Menschen: Egoismus, Feigheit, Unehrlichkeit.
G. Gurdjieff gab uns manchmal Beinamen.
-7-
Mich hat er von Anfang an „Melange" (Mischung) genannt. Dies könnte zu meinem
Vornamen Solange passen, aber andere Beinamen für meine Kameraden, wie: Kleine,
Viertelschlaf; Halbschlaf, Maus, Brioche (kleiner Kuchen), Magere, Halbundhalb und andere,
gaben einen Aspekt der Person wieder, einen Charakterzug oder ihr innerstes Wesen.
Was bedeutete mein Beiname?
Ich beobachtete unter anderem, daß „Kleine" keinen negativen Aspekt für denjenigen, der
diesen Beinamen trug, ausdrückte ... eher im Gegenteil!
G. Gurdjieff war oft ironisch, aber nie herablassend.
Als mich G. so nannte, mit dem „g" wie „che" ausgesprochen: Melanche, stellte ich mir keine
Frage. Aber später fragte ich mich, welche Melange? Es gab meine verschiedenen Erbströme
und Einflüsse sehr verschiedener sozialer Umgebungen, auf allen Ebenen, von oben nach
unten auf der sozialen Leiter, in denen ich als Kind und mein ganzes Leben lang lebte.
Seit meiner Kindheit befand ich mich inmitten von Menschen und Situationen, die sich
zueinander in Opposition befanden. Ich habe immer versucht zu verstehen, was sie trennte
und was ihnen gemeinsam war. Ich war immer auf der Suche nach dem wirklichen Sinn des
Menschen im Leben, in seinem Leben.
Bei meiner Suche erkannte ich, daß im Westen die Idee der „Melange" negativ ist, während
sie in alten Traditionen das Gleichgewicht zwischen zwei Gegensätzen bezeichnet, das Band
oder die Vereinigung zwischen dem Subtilen und dem Festen, dem Spirituellen und dem
Zeitlichen.
Indem ich mich beobachtete, fand ich heraus, daß ich einen Aspekt der Expansion hatte, ein
Bedürfnis alles voll zu erleben. Und zur gleichen Zeit das Gegenteil, ein Bedürfnis nach
unerbittlicher innerer Askese.
Ich habe diese beiden Aspekte immer gleichzeitig gelebt, ohne mir dessen bewußt zu sein.
Dieser Beiname Melange war für mich eine wichtige Lehre, wie der Name Mitfühlende, der
auf mein ganzes Sein einwirkte.
In den „Erzählungen Beelzebubs für seinen Enkel" sagt G. Gurdjieff, daß das „Sein"
bedeutet, zwei Naturen zu haben.
In der Lehre von G. Gurdjieff ist es das Ziel, inmitten seiner beiden Naturen, dazwischen zu
sein, bewußt, ohne daß die eine die andere beeinträchtigt, ohne daß die eine die andere daran
hindert zu funktionieren.
-8-
DER SCHLEIER
Eines Abends bei einem Gruppentreffen saß ich im Schneidersitz auf dem Teppich,
gegenüber von G. Gurdjieff, in der ersten Reihe, einen Meter von ihm entfernt. Alles lief
mit Fragen und Antworten ab.
Einmal betrachtete mich G. aufmerksam und deutete plötzlich mit dem Finger auf mich: Er
sagte in bestimmtem Ton: „Sie haben Schleier". Und er machte eine große Geste mit den
Armen, mit den Händen vor seinem Gesicht, und fuhr damit von oben nach unten, vom
Gesicht den Körper entlang.
Er fügte hinzu: „Wie in den religiösen Orden, mit klösterlichen Regeln: Gehorsam, Armut,
Keuschheit".
Ich sagte nichts, getroffen von seinen Worten. Die Gruppe fuhr fort.
Ich dachte nach und analysierte mein Leben, um zu verstehen, was G. gesagt hatte: Mir
bewußt zu werden, daß ich den Schleier hatte? Oder ihn bewußt zu haben?
Ich betrachtete mich nicht als gehorsam, sondern als „widerspenstig". Doch die Arbeit um
meinen Lebensunterhalt zu verdienen, nötigte mir Gehorsam ab. Während ich die Lehre
von G. als absolut richtige Disziplin empfand.
Was die Armut angeht, so traf das fürwahr zu! Dies ging sogar so weit, daß ich nicht einmal
fünfzig Francs in der Tasche hatte!
Und schließlich lebte ich ganz allein, geschieden und mehr noch, isoliert von meiner
familiären Umgebung durch den Krieg und die deutsche Besetzung.
Ich wohnte in der obersten Etage eines Wohnhauses im Norden von Paris, in einem
Dienstmädchenzimmer, ohne Wasser und ohne Heizung.
Ich erlegte mir eine schwere Disziplin auf, um Durchhaltevermögen und Willen zu
erlangen: Morgens. nahm ich eine kalte Dusche im „Türkischen Bad" des Wohnblocks. Es
war Winter, das Wasser eisig.
Anschließend meditierte ich eine Stunde lang.
Und ich betete. Mein Gebet war seit meiner Kindheit folgendes: „Herr, hilf mir, hab
Erbarmen mit mir, gebe mir, was Du für gut erachtest, ich weiß nicht was ich brauche, was
richtig für mich ist.., Du, Du musst es wissen."
Ich machte oft Übungen, die ich seit meiner Kindheit gemacht hatte:
- Die „Gegenwart Gottes" zu empfinden.
- So lange wie möglich auf den Knien zu bleiben, mit
ausgebreiteten Armen. –
- Mir negative Gedanken und Gefühle zu verbieten, Urteilen,
Begehren.
- Andere Übungen der Kontrolle über den Körper und die
Gedanken.
Ich überprüfte meine Erinnerungen. Langes Nachsinnen zeigte mir die
zurückgelegte Strecke meiner tiefen Suche, instinktiv, intuitiv, sich nach und nach
enthüllend: Mein Weg war kontinuierlich und ging in dieselbe Richtung:
Als kleines Mädchen, mit fünf, sechs Jahren, in Halbpension bei den Nonnen in Tunis,
wollte ich in den Orden eintreten.