Table Of ContentSWP-Studie
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale
Politik und Sicherheit
Steffen Angenendt / Silvia Popp
Bevölkerungswachstum,
Fertilität und Kinder-
wunsch
Herausforderungen für die Entwicklungs-
zusammenarbeit am Beispiel Subsahara-
Afrikas
S 20
Dezember 2014
Berlin
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ISSN 1611-6372
Die vorliegende Studie
entstand mit finanzieller
Unterstützung durch
das Bundesministerium
für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und
Entwicklung.
Inhalt
5 Problemstellung und Schlussfolgerungen
7 Bevölkerungsdynamik und Entwicklung
8 Bevölkerungsentwicklung und Armut
10 Bevölkerungsentwicklung und Konflikt
12 Faktoren der Bevölkerungsdynamik
12 Sozioökonomische Entwicklung
13 Bevölkerungspolitik und
freiwillige Familienplanung
14 Kinderwunsch und Kinderzahl
17 Heterogene Fertilität in Subsahara-Afrika
20 West- und Zentralafrika
21 Ostafrika
23 Handlungsansätze für eine nachhaltige
Bevölkerungsentwicklung
23 Bisherige internationale Bemühungen
26 Perspektive: Differenzierte
bevölkerungspolitische Ansätze
28 Abkürzungsverzeichnis
Dr. Steffen Angenendt ist Wissenschaftler, Silvia Popp
Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Globale Fragen
Problemstellung und Schlussfolgerungen
Bevölkerungswachstum, Fertilität und Kinderwunsch
Herausforderungen für die Entwicklungs-
zusammenarbeit am Beispiel Subsahara-Afrikas
Seit den 1960er Jahren sind die Geburtenraten welt-
weit stark zurückgegangen, von durchschnittlich
fünf auf weniger als drei Kinder pro Frau. Dies gilt für
fast alle Länder Asiens und Lateinamerikas und ist
auch in Nordafrika zu beobachten. Nur die meisten
der 49 Länder Subsahara-Afrikas bieten ein anderes
Bild. Dort sind die Geburtenraten trotz aller Bemühun-
gen von Regierungen und internationalen Akteuren
nur so leicht gesunken, dass der Großteil des prog-
nostizierten Zuwachses der Weltbevölkerung um zwei
Milliarden Menschen bis zur Mitte dieses Jahrhunderts
auf diese Region entfallen wird, die ohnehin beson-
ders unter Armut, Unterentwicklung und Konflikten
leidet.
Gleichwohl gibt es zwischen den subsaharischen
Ländern beträchtliche Unterschiede. So sind die
Geburtenraten in den Ländern der Sahelzone heute
kaum niedriger als Mitte des vergangenen Jahrhun-
derts. Die Bevölkerung in Mali und Tschad wird sich
voraussichtlich in weniger als 25 Jahren verdoppeln,
in Niger sogar in weniger als 20 Jahren. In vielen ost-
afrikanischen Ländern wie Kenia und Tansania hin-
gegen nahm die Zahl der Geburten pro Frau in den
späten 1980er Jahren zunächst ab, verharrt aber seit-
dem auf relativ hohem Niveau.
Wie sind diese Unterschiede bei der Entwicklung
der Geburtenraten zu erklären, welche Herausforde-
rungen sind damit verbunden und was folgt daraus
für die Entwicklungszusammenarbeit?
In der entwicklungspolitischen Debatte besteht
mittlerweile weitgehend Einigkeit, dass hohe Geburten-
raten vor allem durch sozioökonomische Entwicklung,
bessere Gesundheitsversorgung, längere Sekundar-
schulbildung (insbesondere von Mädchen) sowie Zu-
gang zu modernen Verhütungsmethoden reduziert
werden können. Es wird erwartet, dass Investitionen
in diesen Bereichen die Geburtenraten kontinuierlich
und dauerhaft sinken lassen werden. Das Beispiel
der ostafrikanischen Länder mit nach wie vor hohen
Geburtenraten belegt aber, dass diese Entwicklung
nicht zwangsläufig ist. Zu vermuten ist, dass hier noch
andere Faktoren wirken. Tatsächlich wurde bisher zu
wenig beachtet, welche Rolle der Kinderwunsch spielt,
also die »ideale« Kinderzahl.
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Bevölkerungswachstum, Fertilität und Kinderwunsch in Subsahara-Afrika
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Problemstellung und Schlussfolgerungen
Das Wissen darüber ist noch begrenzt. Nachweisbar zu Krankenhäusern, integriert die Familienmitglieder
sind bislang inverse Zusammenhänge zwischen Kinder- und erweitert die Möglichkeiten, über Familiengrößen
wunsch auf der einen und Bildungsniveau, Urbanisie- zu sprechen. Erschwert wird die entwicklungspoliti-
rungsgrad und Zugang zu Massenmedien auf der an- sche Zusammenarbeit, wenn Regierungen handlungs-
deren Seite. Weniger eindeutig ist die Verbindung unfähig sind oder aus politischen oder anderen Grün-
von wirtschaftlicher Entwicklung und Kinderwunsch. den hohe Kinderzahlen befürworten.
Meist bringt wachsender Wohlstand eine Präferenz für In Ländern mit höherem sozioökonomischem Ent-
kleinere Familien mit sich, aber das gilt nicht immer, wicklungsstand und stagnierenden Geburtenraten
wie sich an den ostafrikanischen Ländern zeigt. müssten die Massenmedien und das Bildungswesen
Hohe Geburtenraten bergen erhebliche individuelle sinnvoller genutzt werden. Einige Regierungen, etwa
und gesellschaftliche Risiken. Sie erhöhen die Gesund- in Ghana, Kenia, Tansania, Malawi und Ruanda, haben
heitsgefahren für Mütter und Kinder und mindern Erfolge mit Kampagnen erzielt, die den Wandel von
die Erwerbsbeteiligung von Frauen. Große Kohorten Familienmodellen fördern sollten. Dafür sind drei Ele-
von Kindern und Jugendlichen belasten die ohnehin mente besonders wichtig: die Verbreitung von Wissen
unzureichenden Bildungseinrichtungen und junge über Verhütungsmethoden, die offene Diskussion
Erwachsene haben oftmals keine Aussicht auf Arbeit über »ideale« Familienmodelle und politische Wert-
und eigenes Einkommen. Darüber hinaus können schätzung für kleine Familien. Zusätzlich zu Medien-
hohe Geburtenraten die innere Sicherheit gefährden, kampagnen, die über die Vorteile kleiner Familien
besonders wenn die Konkurrenz um knappe Ressour- informieren, ist die Einführung von Sexualkunde-
cen wie Wasser, Nahrung, Energie und Land sich ver- unterricht in Schulen eine große Hilfe. Das gilt erst
schärft und in Verteilungskonflikte mündet. In eth- recht dann, wenn Mädchen und Jungen dabei nicht
nisch oder religiös gespaltenen Gesellschaften kann nur über Verhütungsmethoden, sondern auch über
unterschiedliches Wachstum der Bevölkerungsgrup- ihr Recht aufgeklärt werden, selbst zu entscheiden,
pen Ängste vor der Dominanz einer Gruppe wecken wie groß ihre Familie später sein soll. In diesen Län-
und auf diese Weise Konflikte schüren. dern muss der Aufbau flächendeckender Gesundheits-
Paradoxerweise neigen Menschen jedoch gerade in systeme im Mittelpunkt stehen.
solch unsicheren Situationen dazu, sich große Famili- In Ländern mit extremen Divergenzen bei den Ge-
en zu wünschen. Diese beiden Phänomene verstärken burtenraten schließlich sollten häufiger kleinräumige
sich gegenseitig, denn große Familien und hohe Ge- und differenzierte Ansätze angewandt werden. Dies
burtenraten schwächen wiederum die Fähigkeit der böte sich beispielsweise in Äthiopien an, wo die Gebur-
Regierungen, die nötigen Rahmenbedingungen für tenrate je nach Region zwischen 1,5 und sieben Kin-
Sicherheit und Entwicklung zu schaffen. dern pro Frau variiert. Viele Beispiele zeigen, dass es
Will Entwicklungszusammenarbeit die subsahari- für die Verringerung der Geburtenzahl entscheidend
schen Partnerländer bei ihren Bemühungen um eine ist, ob die Menschen in ländlichen oder städtischen
ausgewogene und nachhaltige Bevölkerungsentwick- Gebieten leben und ob gravierende Einkommens-
lung unterstützen, muss sie die in der Region und unterschiede zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen
innerhalb der Länder stark voneinander abweichen- bestehen. Oft erreichen die Maßnahmen zur Familien-
den Geburtenentwicklungen in den Blick nehmen. planung die besonders bedürftigen Gruppen nicht.
Sie muss differenzierte Ansätze verfolgen, die an den Hier bedarf es einer genauen Analyse der tatsächlichen
nationalen und lokalen Spezifika ausgerichtet sind. Bedürfnisse, beispielsweise junger unverheirateter
Zu unterscheiden sind drei Ländertypen: Erwachsener, aber auch älterer Menschen oder margi-
Länder mit stark ausgeprägtem Kinderwunsch und nalisierter Gruppen.
niedrigem sozioökonomischem Entwicklungsniveau,
etwa in der Sahelzone, sind häufig fragil und ihre
Regierungen haben nur wenig Handlungsspielraum.
Meist fehlt es zudem an medizinisch geschultem Per-
sonal und an Gesundheitsinfrastruktur. Hier müssen
der Zugang zu Familienplanung in abgelegenen Ge-
bieten erleichtert und die Ausbildung medizinischen
Personals außerhalb von Gesundheitseinrichtungen
gestärkt werden. Dies senkt die Kosten für die Fahrten
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Bevölkerungswachstum, Fertilität und Kinderwunsch in Subsahara-Afrika
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Bevölkerungsdynamik und Entwicklung
Bevölkerungsdynamik und Entwicklung
Die Weltbevölkerung ist mittlerweile auf mehr als Zwischenphase, in der sich die meisten Staaten Sub-
sieben Milliarden Menschen angewachsen. Der größte sahara-Afrikas zurzeit befinden, wächst die Gesamt-
Anteil des Zuwachses entfällt auf die Entwicklungs- bevölkerung rasch an.
und Schwellenländer, deren Bevölkerungszahl seit Für den Zusammenhang von Bevölkerungswachs-
Mitte des letzten Jahrhunderts von unter zwei auf tum und sozioökonomischer Entwicklung ist wichtig,
über fünf Milliarden gestiegen ist. Im selben Zeitraum dass die demografische Transformation von Staaten,
fiel die Geburtenrate dort von durchschnittlich mehr vor allem zurückgehende Kindersterblichkeit und
als sechs auf weniger als drei Kinder pro Frau. Diese Geburtenraten, große Chancen bieten kann.5 Etwa
beiden Phänomene sind darauf zurückzuführen, dass 20 Jahre nachdem die Kinderzahl zu sinken begann,
die Kindersterblichkeit sank und die Lebenserwartung steigt der Erwerbstätigenanteil an der Gesamtbevölke-
sich erhöhte. rung. Diese Phase, in der das zahlenmäßige Verhältnis
Um Bevölkerungsentwicklungen zu beschreiben, von Arbeitsbevölkerung zu abhängigen Kindern und
wird in der Demografie seit den 1940er Jahren das alten Menschen besonders günstig ist, hält etwa drei
Modell des »demografischen Übergangs« verwendet.1 bis vier Jahrzehnte an und wird als »demografischer
Demnach wandeln sich Sterblichkeit und Fertilität, Bonus« bezeichnet.6 Er beginnt nach Definition der
die beiden Hauptkomponenten der Bevölkerungsent- Vereinten Nationen (VN) dann, wenn der Anteil von
wicklung, in verschiedenen Weltregionen und auch Kindern und Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung
innerhalb einzelner Länder weder gleichzeitig noch auf unter 30 Prozent fällt, und hält so lange an, wie
gleichförmig.2 Länder und Gebiete befinden sich in der Anteil der über 65-Jährigen unter 15 Prozent liegt.
unterschiedlichen Phasen demografischer Trans- Wie in vielen anderen Weltregionen gibt es auch in
formation. Afrika gravierende regionale Unterschiede, was An-
Gleichwohl sind universelle Muster zu erkennen. fang und Dauer des demografischen Bonus betrifft.
So verläuft der Übergang von demografisch jungen zu Während die Länder im nördlichen und südlichen
alten Gesellschaften der Theorie nach von einem sta- Afrika kurz vor dem Eintritt in eine günstige demo-
bilen Zustand mit hohen Geburten- und Sterberaten grafische Phase stehen, wird eine solche Entwicklung
über eine Zwischenphase mit starkem Bevölkerungs- in den Ländern um den Äquator aufgrund der weiter-
zuwachs hin zu einer neuen Stabilität, die sich durch hin hohen Geburtenraten voraussichtlich erst ab Mitte
niedrige Geburten- und Sterberaten auszeichnet.3 des Jahrhunderts ihren Lauf nehmen.7
Beim Verlauf von hohen zu niedrigen Todes- und
Geburtenraten sinkt zunächst die Kindersterblichkeit Lebens durchschnittlich bekommen würde, wenn die alters-
und erst später die Geburtenzahl.4 Während dieser spezifische Geburtenrate über ihre gesamtfruchtbare Lebens-
zeit konstant bliebe. Dabei muss allerdings bedacht werden,
dass hier nur der jeweilige Landesdurchschnitt angegeben
1 Die Begriffe »demografischer Übergang«, »demografischer wird, die Geburtenraten jedoch je nach Region und Bevölke-
Wandel« und »demografische Transformation« werden hier rungsmerkmalen erheblich variieren können. Die Kinder-
synonym verwendet. sterblichkeitsrate ist definiert als die jährliche Anzahl der vor
2 Die dritte und am schwierigsten zu prognostizierende Vollendung des fünften Lebensjahres gestorbener Kinder, be-
Komponente der Bevölkerungsentwicklung sind Wanderungs- zogen auf 1000 Lebendgeborene.
bewegungen. 5 Vgl. u.a. Monica Das Gupta et al., Population, Poverty, and
3 Vgl. Rainer Münz/Ralf Ulrich, Demografischer Übergang – Theo- Sustainable Development. A Review of the Evidence, Washington,
rie und Praxis, Berlin: Berlin-Institut für Bevölkerung und Ent- D.C.: World Bank, Juni 2011 (Policy Research Working Paper
wicklung, Oktober 2012. Bei einer Geburtenrate von 2,1 Kin- 5719).
dern pro Frau, dem Wert des Bestanderhaltungsniveaus, bleibt 6 Vgl. Steffen Angenendt/Silvia Popp, Jugendüberhang. Entwick-
die Bevölkerung bei der gegenwärtigen Sterbewahrschein- lungspolitische Risiken, Chancen und Handlungsmöglichkeiten,
lichkeit und ohne Berücksichtigung von Wanderungsbewe- Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Juni 2013 (SWP-
gungen annähernd konstant. Studie 12/2013).
4 Die »Gesamtfertilitätsrate« (vereinfachend auch Geburten- 7 United Nations Department of Economic and Social Affairs
rate) bezeichnet, wie viele Kinder eine Frau im Laufe ihres (UNDESA), Population Division, World Population to 2300, New
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Bevölkerungswachstum, Fertilität und Kinderwunsch in Subsahara-Afrika
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Bevölkerungsdynamik und Entwicklung
Aus entwicklungspolitischer Sicht ist es für die be- Schwellenländern wird den CO -Ausstoß bis 2050 der-
2
treffenden Länder außerordentlich nachteilig, wenn art in die Höhe treiben, dass dies nicht einmal dann
sie die Chancen nicht nutzen können, die aus dem kompensiert werden könnte, wenn die Industriestaa-
Vorhandensein einer großen Arbeitsbevölkerung und ten ihre CO -Emissionen um 40 Prozent reduzierten.11
2
gleichzeitig einem relativ geringen Bevölkerungs- Würde der Pro-Kopf-Ausstoß an CO wegen steigender
2
anteil an finanziell Abhängigen erwachsen. Das gilt in Einkommen und größerer Konsumbedürfnisse noch
erster Linie für die Länder mit hohen Geburtenraten. wachsen, wären die Folgen für die Umwelt sogar weit-
Sie haben am meisten unter den Konsequenzen der aus einschneidender. Anschauungsmaterial dafür
wechselseitigen Zusammenhänge von Bevölkerungs- liefern China und Indien, wo die Umweltbelastung
wachstum, Gesundheitsrisiken, erhöhtem Ressour- infolge des starken Bevölkerungswachstums bei fort-
cenverbrauch, zunehmender Umweltzerstörung, schreitender Industrialisierung und Urbanisierung
Naturkatstrophen, Fragilität und Konflikt zu leiden. extrem zugenommen hat.
In weiten Teilen Subsahara-Afrikas gefährdet zu-
dem Wassermangel die Nahrungsmittelproduktion
Bevölkerungsentwicklung und Armut und ist zu einem entwicklungs- und sicherheitspoliti-
schen Risikofaktor geworden. Verschmutzung und
Gerade in den am wenigsten entwickelten Staaten der durch den Klimawandel verursachte Rückgang des
verschärft das starke Bevölkerungswachstum die Grundwasserspiegels dürften die Wasserversorgung
Armut.8 So ist in Subsahara-Afrika die Zahl der Men- pro Kopf und damit auch die Ernährungssicherheit
schen, die von weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag künftig weiter verschlechtern.12 Vielerorts werden
leben müssen, zwischen 1981 und 2011 von 210 auf auch die Erträge des bewirtschafteten Landes schrump-
415 Millionen gestiegen.9 Besonders schnell wächst fen, weil das Agrarland wegen des Bevölkerungswachs-
dort gegenwärtig der Anteil der Kinder und Jugend- tums extensiver bewirtschaftet und übernutzt wird.
lichen. Daher müssen dringend die Produktion von Zweifel sind angebracht, ob die abnehmende Pro-Kopf-
Lebensmitteln ausgeweitet, der Zugang zu ihnen ver- Kulturfläche und die rückläufige Flächenproduktivität
bessert, neue Schulen gebaut und Lehrer ausgebildet durch neue Produktionsverfahren ausgeglichen wer-
sowie für ausreichende Gesundheitsinfrastrukturen den können. Zu befürchten ist, dass in vielen subsaha-
gesorgt werden. Viele der Länder werden dazu aber rischen Ländern mit starkem Bevölkerungswachstum
ebenso wenig imstande sein wie die benötigten Arbeits- die für die Subsistenzwirtschaft benötigten Flächen
plätze zu schaffen. Die Armut wird sich verschlimmern. nicht mehr ausreichen werden.13
Zudem erhöhen Geburten in kurzen Abständen die Es sind die ärmsten Bevölkerungsgruppen und
Gesundheitsrisiken für Mütter und Kinder. Nahezu Länder, die von den Folgen solcher Entwicklungen
zehn Prozent der Sterbefälle im Kindesalter könnten besonders in Mitleidenschaft gezogen werden. Die
vermieden werden, wenn der Mindestabstand zwischen Hungerkrisen der vergangenen Jahrzehnte, beispiels-
den Geburten zwei Jahre betragen würde.10 weise in Niger, sind unter anderem Ergebnisse des
Risiken birgt das starke Bevölkerungswachstum in
den Entwicklungsländern auch aufgrund des überall
11 Tim Dyson, »On Development, Demography and Climate
steigenden Ressourcenbedarfs und -verbrauchs. Allein
Change: The End of the World as We Know It?«, in: Population
das Bevölkerungswachstum in den Entwicklungs- und
and Environment, 27 (2005) 2, S. 117–149.
12 Vgl. Tobias von Lossow, »Klimawandel und Wassermangel
York 2004, S. 74ff. in Afrika: Möglichkeiten der Kooperation am Beispiel Nil«, in:
8 Ein Bevölkerungswachstum wird als stark bezeichnet, Steffen Angenendt/Susanne Dröge/Jörn Richert (Hg.), Klima-
wenn die Rate mehr als zwei Prozent pro Jahr beträgt. Bei wandel und Sicherheit. Herausforderungen, Reaktionen und Hand-
diesem Wert verdoppelt sich die Bevölkerung in ungefähr lungsmöglichkeiten, Baden-Baden 2011 (Internationale Politik
36 Jahren. und Sicherheit, Bd. 65), S. 97–114, ders., »Versorgungs- und
9 World Bank, Data Poverty and Equity, Regional Dashboard, Sub- Konfliktrisiken im Nilbecken: Kooperation mit Grenzen«, in:
Saharan Africa, <http://povertydata.worldbank.org/poverty/ Marianne Beisheim (Hg.), Der »Nexus« Wasser-Energie-Nahrung.
region/SSA> (eingesehen am 3.12.2014). Wie mit vernetzten Versorgungsrisiken umgehen?, Berlin: Stiftung
10 Shea Oscar Rutstein, »Effects of Preceding Birth Intervals Wissenschaft und Politik, Mai 2013 (SWP-Studie 11/2013),
on Neonatal, Infant and Under-five Years Mortality and Nutri- S. 61–68.
tional Status in Developing Countries: Evidence from the 13 Klaus Hahlbrock, Kann unsere Erde die Menschen noch ernäh-
Demographic and Health Surveys«, in: International Journal of ren? Bevölkerungsexplosion – Umwelt – Gentechnik, Frankfurt am
Gynaecology and Obstetrics, 89 (2005) 1, S. 7–24. Main 2007.
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Bevölkerungswachstum, Fertilität und Kinderwunsch in Subsahara-Afrika
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Bevölkerungsentwicklung und Armut
Zusammenwirkens von extremem Bevölkerungs- keiten, die Infrastrukturen in den Megastädten und
wachstum, steigendem Ressourcenverbrauch, Klima- Großagglomerationen so aufrechtzuerhalten und aus-
wandel und einer zu intensiven Bewirtschaftung der zubauen, dass sie ihre Funktion als Motor wirtschaft-
Agrarflächen. Das Land hat durch Desertifikation mitt- licher, sozialer, kultureller und wissenschaftlicher
lerweile die Hälfte der landwirtschaftlichen Fläche Entwicklung behalten können.18 Doch die Industrie-
verloren.14 Generell leiden die ärmsten Länder am staaten nehmen diese Aufgaben von einem sehr viel
stärksten unter Naturkatastrophen; 95 Prozent aller höheren Entwicklungsniveau aus in Angriff. Den Ent-
Todesfälle infolge solcher Katastrophen ereignen sich wicklungsländern vor allem in Subsahara-Afrika da-
in Entwicklungsländern und die gravierenden Aus- gegen fehlen meist die finanziellen, fachlichen und
wirkungen zunehmender Wasserknappheit sind in personellen Ressourcen, um die Großstädte entspre-
Afrika nicht mehr zu übersehen.15 Bis zum Jahr 2025 chend auszubauen und zu verwalten.
wird sich die Anzahl der dort von Wasserknappheit Der größte Teil des Wachstums der städtischen Be-
oder Wasserstress betroffenen Länder von 14 auf min- völkerung wird allerdings nicht in den Megastädten,
destens 25 erhöhen. Fast die Hälfte der subsaharischen sondern in Städten mit bis zu einer Million Einwoh-
Bevölkerung wird dann in solchen Ländern leben.16 nern stattfinden. Dort herrschen meist noch schlech-
Auch ohne zusätzlichen Druck durch die Ver- tere Bedingungen als in den Großstädten; oft fehlen
schlechterung der natürlichen Lebensgrundlagen wird die notwendigsten Voraussetzungen für eine effiziente
das Bevölkerungswachstum in Subsahara-Afrika zahl- Verwaltung. Ohne externe Hilfe wird es in diesen
reiche junge Menschen aus ländlichen Gebieten in die schnell wachsenden Ballungsräumen kaum gelingen,
Städte treiben. In den nächsten Jahrzehnten wird auch nur einen kleinen Teil der benötigten Arbeits-
der Anteil der städtischen Bevölkerung weiterhin be- plätze, Wohnungen und Infrastrukturen zur Verfü-
trächtlich wachsen. Dieser Trend gilt auch für andere gung zu stellen. In vielen Megastädten, aber mehr
Weltregionen: Im Jahr 2014 machte die städtische noch in kleineren und mittelgroßen Städten werden
Bevölkerung in lower-middle-income countries 39 Prozent Armut, Verschmutzung, Verkehrschaos, Obdachlosig-
an der Gesamtbevölkerung aus, in low-income countries keit und Arbeitslosigkeit zunehmen. Das wird neuen
30 Prozent. Nach Schätzungen der VN werden diese Verteilungskonflikten Vorschub leisten und die Sicher-
Anteile bis zum Jahr 2050 auf 57 beziehungsweise heitslage tendenziell verschlechtern.
48 Prozent steigen.17 Die Bevölkerungsabteilung der VN geht davon aus,
Die Verstädterung wird ebenfalls überwiegend den dass die Zahl der Slumbewohner in Afrikas bevölke-
am wenigsten entwickelten Staaten Probleme bereiten. rungsreichstem Land Nigeria in den nächsten 35 Jah-
Zwar haben auch viele Industrieländer Schwierig- ren um mehr als 210 Millionen wachsen wird. Damit
ist Nigeria ein Beispiel besonders starker Urbanisie-
rung. In einigen Subsahara-Ländern mit einem bislang
14 The World Bank (Hg.), Niger. Providing all Nigeriens with Food,
Education and Health Care. A Demographic Perspective, Washing- geringen Anteil städtischer Bevölkerung wird die
ton, D.C., 15.11.2005. Urbanisierung künftig sogar noch rascher verlaufen
15 Save the Children (Hg.), State of the World’s Mothers 2014. als in Nigeria. Hierzu gehören Äthiopien, Burundi,
Saving Mothers and Children in Humanitarian Crises, Westport, CT, Burkina Faso, Lesotho, Ruanda und Uganda.19
2014, S. 5.
Diese unterschiedliche Dynamik der Verstädterung
16 Frank Rijsberman, »Water Scarcity: Fact or Fiction?«, in:
beeinflusst auch die Bevölkerungsentwicklung. In den
Agricultural Water Management, 80 (2006) 1–3, S. 5–22; »Wasser-
stress« wird angenommen, wenn die Entnahme 40 Prozent Städten ist die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau
der Ressourcen übersteigt. Vgl. Bryson Bates et al. (Hg.), Climate geringer als auf dem Land. Dort wünschen sich ins-
Change and Water, Technical Paper of the Intergovernmental besondere arme Familien viele Kinder, um die notwen-
Panel on Climate Change, Genf: IPCC Secretariat, 2008.
dige Unterstützung bei der Feldarbeit und der eigenen
17 UNDESA, Population Division, World Urbanization Prospects.
Alterssicherung zu erhalten. Die Möglichkeiten für
The 2014 Revision. Highlights, New York 2014, S. 20. Low-income
economies sind definiert als Länder mit einem Bruttonational- moderne Verhütung sind im urbanen Raum besser,
einkommen pro Kopf von weniger als 1045 US-Dollar. Middle- unter anderem weil das Bildungsniveau dort meist
income economies weisen ein Bruttonationaleinkommen pro
Kopf zwischen 1045 und 4125 US-Dollar auf. Berechnungen 18 Saskia Sassen, »Why Cities Matter«, in: Richard Burdett
anhand von Daten und Kriterien der Weltbank für 2013, (Hg.), La Biennale Di Venezia. 10. International Architecture Exhibi-
Datenquelle: The World Bank, Data, Country and Lending Groups, tion: Cities, Architecture and Society, Bd. 1, Venedig 2006, S. 27–51.
<http://data.worldbank.org/about/country-and-lending-groups> 19 UNDESA, Population Division, World Urbanization Prospects
(eingesehen am 15.9.2014). [wie Fn. 17], S. 20f.
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Bevölkerungswachstum, Fertilität und Kinderwunsch in Subsahara-Afrika
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Bevölkerungsdynamik und Entwicklung
höher und der Zugang zu Massenmedien leichter ist. Regierungsform und ihrer Anfälligkeit für Konflikte.
Dennoch wächst die Bevölkerung in den Städten Seit langem ist bekannt, dass sehr junge Gesellschaf-
stärker, da die niedrigeren Geburtenraten durch Zu- ten dem Risiko gewalthaltiger Konflikte in besonderer
wanderung ausgeglichen werden. Daher gelten ent- Weise ausgesetzt sind und dass die Konfliktanfällig-
legene ländliche Räume ebenso wie urbane Slums als keit von Gesellschaften abnimmt, je länger der demo-
am schlechtesten versorgte Gebiete, wenn es um den grafische Wandel hin zu einem höheren Durch-
Zugang zu Verhütungsmethoden geht. schnittsalter fortschreitet.23 Konfliktfördernd und
sicherheitsrelevant können auch Veränderungen der
ethnischen Zusammensetzung von Bevölkerungen
Bevölkerungsentwicklung und Konflikt sein.24 So können unterschiedliche Geburtenraten von
Ethnien oder Religionsgemeinschaften Ängste vor
In der sicherheitspolitischen Forschung richtet sich einer demografischen Übermacht der jeweils anderen
die Aufmerksamkeit immer mehr auf Konflikte, die Gruppen schüren25 und lassen sich daher für religiöse
aus demografischen Entwicklungen resultieren.20 oder politische Zwecke instrumentalisierten.26
Was den Zusammenhang zwischen Bevölkerungs- Beunruhigend ist, dass fast der gesamte globale
wachstum, Ressourcenverbrauch und Klimawandel Bevölkerungszuwachs auf Staaten entfallen wird, die
anbelangt, deutet schon seit längerem einiges darauf heute als »fragil« oder »gescheitert« eingestuft wer-
hin, dass ein starkes Bevölkerungswachstum Vertei- den.27 Sollte diese politische Schwäche anhalten,
lungsprobleme mit sich bringen kann, vor allem beim würde im Jahr 2050 mehr als die Hälfte der globalen
unvollständigen Übergang von Subsistenzwirtschaft Arbeitsbevölkerung in solchen Ländern leben. Damit
zu marktorientierter Landwirtschaft. Diese Probleme würde sich das Problem merklich verschärfen, denn
wiederum können gesellschaftliche Spannungen er- derzeit gilt dies nur für 34 Prozent der Bevölkerung
höhen und gewalttätige Auseinandersetzungen för- im arbeitsfähigen Alter.28
dern.21 Der Genozid im dichtbevölkerten Ruanda 1994 Anlass zur Sorge gibt auch, dass fragile Staaten
etwa wird unter anderem darauf zurückgeführt, dass häufig durch unfähige und nicht legitimierte Regie-
ungleiche Landverteilung, extreme Armut, eine auf rungen, unzureichende Wirtschafts- und Beschäfti-
ethnischer Unterscheidung basierende Arbeitsteilung, gungspolitik und nicht nachhaltiges Wirtschaften
wirtschaftliche Perspektivlosigkeit und eine Mobilisie- in Form einer Plünderung der Rohstoffe durch die
rung durch extremistische Kräfte zusammenwirkten. Machthaber gekennzeichnet sind. Das macht es un-
Gleichwohl zeigt die Erfahrung, dass eine Verschlech- wahrscheinlich, dass unter solchen Regierungen aus
terung natürlicher Lebensgrundlagen nicht unmittel- eigener Kraft ausreichend Arbeitsplätze für die schnell
bar Konflikte auslöst, sondern eher mittelbare Wir-
kungen entfaltet.22
23 Richard P. Cincotta/John Doces, »The Age-structural Ma-
Empirisch nachweisbare Zusammenhänge bestehen turity Thesis: The Impact of the Youth Bulge on the Advent
zwischen der Altersstruktur einer Gesellschaft, ihrer and Stability of Liberal Democracy«, in: Jack A. Goldstone/Eric
P. Kaufmann/Monica Duffy Toft (Hg.), Political Demography. How
20 Vgl. Steffen Angenendt/Susanne Dröge, »Bevölkerungs- Population Changes Are Reshaping International Security and Natio-
entwicklung, Klimawandel und Lebensstandards. Globale nal Politics, Boulder, CO, 2012, S. 98–116.
Trends und ihre Folgen für die Versorgung mit Wasser, 24 Cincotta et al., The Security Demographic [wie Fn. 20].
Energie und Nahrung«, in: Beisheim (Hg.), Der »Nexus« Wasser- 25 Kevin McQuillan, »When Does Religion Influence Fertil-
Energie-Nahrung [wie Fn. 12], S. 19–26; Richard P. Cincotta et ity?«, in: Population and Development Review, 30 (2004) 1, S. 25–56.
al., The Security Demographic. Population and Civil Conflict After the 26 Monica Duffy Toft, »Wombfare: The Religious and Political
Cold War, Washington, D.C., 2003. Dimensions of Fertility and Demographic Change«, in: Gold-
21 Nicolas Pons-Vignon/Henri-Bernard Solignac Lecomte, stone et al. (Hg.), Political Demography [wie Fn. 23], S. 213–225.
Land, Violent Conflict and Development, Paris 2004 (OECD Devel- 27 Zu Konzepten und Bewertung der verschiedenen Mess-
opment Centre Working Paper 233); Ibrahim Elbadawi/ und Indikatorensysteme zu »fragilen« und »gescheiterten«
Nicholas Sambanis, »Why Are There So Many Civil Wars in Staaten vgl. Sebastian Ziaja/Javier Fabra Mata, Was leisten Indi-
Africa? Understanding and Preventing Violent Conflict«, in: zes staatlicher Fragilität?, Bonn: Deutsches Institut für Entwick-
Journal of African Economies, 9 (2000) 3, S. 244–269. lungspolitik (DIE), 2010 (Analysen und Stellungnahmen
22 Ein Überblick über die neueren Forschungsergebnisse zu 5/2010).
umweltbedingten Veränderungen und Konflikt findet sich 28 Jack A. Goldstone/Monty G. Marshall/Hilton Root, »Demo-
bei Thomas Bernauer et al., »Environmental Changes and graphic Growth in Dangerous Places: Concentrating Conflict
Violent Conflict«, in: Environmental Research Letters, 7 (2012) 1, Risks«, in: International Area Studies Review, 17 (2014) 2, S. 120–
S. 1–8. 133.
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