Table Of ContentFORSCHUNGSBERICHTE DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN
Nr.1215
Herausgegeben
im Auftrage des Ministerpräsidenten Dr. Franz Meyers
von Staatssekretär Professor Dr. h. c. Dr. E. h. Leo Brandt
Prof Dr.-Ing. Joseph Mathieu
Dr. phil. earl Alexander Roos
Institut für Arbeitswissenschaft der Rhein.-WestJ. Techn. Hochschule Aachen
Berufswirklichkeit, Berufserziehung
und Facharbeiterausbildung in der Industrie
und speziell in den eisenverarbeitenden
Industriezweigen
SPRINGER FACHMEDIEN WIESBADEN GMBH
ISBN 978-3-663-06219-6 ISBN 978-3-663-07132-7 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-663-07132-7
Verlags-Nr.011215
© 1 963 b y Springer Fachmedien Wiesbaden
Urspriinglich erschienen bei Westdeutscher Verlag 1963
GesamtherstelIung: Westdeutscher Verlag·
Inhalt
Vorwort......................................................... 7
A. Problemstellung ................................................ 9
B. Die Wirklichkeit der gewerblichen Industrieberufe . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 10
1. Die technische und arbeitsorganisatorische Wirklichkeit .......... 11
H. Kennzeichnung der gegenwärtigen Industriearbeiterschaft ........ 11
III. Leistungsanforderungen an den Industriearbeiter ................ 15
C. Die zu berücksichtigende »soziale Arbeitswirklichkeit« .............. 20
I. Erscheinung und Erscheinungsweisen der ,horizontalen Mobilität'. 20
H. Eigenart und Folgen der ,vertikalen Mobilität' .................. 21
III. Die ,berufliche Mobilität' als Gesamterscheinung ................ 24
D. Wesensmerkmale der Facharbeiterausbildung und Berufserziehung
in Industriebetrieben und speziell in der eisenverarbeitenden
Industrie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 26
1. Umfang und Eigenart der ,industriellen Lehrberufe' ............. 27
II. Neuorientierung der Facharbeiterausbildung und Berufserziehung 32
III. Schaffung von ,Kernberufen' von der Arbeits-und
Berufswirklichkeit her . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 35
E. Berufserziehung unter verschiedenen Betriebsbedingungen . . . . . . . . . . .. 38
I. Berufserziehung in Betrieben ohne Lehrwerkstatt . . . . . . . . . . . . . . .. 39
II. Besonderheiten und Vorzüge der Berufserziehung
in Betrieben mit Lehrwerkstatt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 43
III. Zwischenformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 53
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F. Vermittlung fachtheoretischer und berufsabhängiger Bildungsgüter .... 58
I. Eigenbemühungen von Betrieben ............................. 58
11. Berufserziehungs-und Bildungsaufgaben der Berufsschule. . . . . . .. 61
IU. Berufserziehung als Bildungsaufgabe 66
G. Zusammenfassung .............................................. 68
H. Literaturverzeichnis ............................................. 71
Anhang: Fragenkatalog über die betriebliche Berufserziehung gewerblicher
Lehrlinge in der Industrie ........................................... 75
I. Das Unternehmen und sein Betrieb. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 76
11. Herkunft, Auswahl und Niveau der Lehrlinge. . . . . . . . . . . . . . . . . .. 77
IU. Anspruchshöhe der Berufe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 79
IV. Betriebliche Berufserziehungsmöglichkeiten, Lehreinrichtungen
und -methoden ............................................. 80
V. Fortschrittsüberwachung und Ausbildungsergebnisse ............ 85
VI. Die Mitarbeiter an der betrieblichen Berufserziehung . . . . . . . . . . . .. 87
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Vorwort
Die Diskussion über Berufsausbildung und Berufserziehung wird seit Jahren
immer wieder in Fluß gebracht und von daher im Grunde ständig in Fluß gehal
ten. Das hängt einmal mit der bestehenden Unsicherheit allgemein im pädagogi
schen Feld zusammen, zum anderen liegt es an den besonderen Umständen und
Bedingungen, unter denen sich die Berufserziehung vollzieht. Schon die Zwei
teilung der Ausbildungs-, Bildungs- und Erziehungsaufgaben gegenüber dem
Lehrling zwischen dem Lehrherrn oder der Lehrfirma (unter dem Lehrvertrag)
und der Berufsschule (unter der Schulpflicht) gibt immer wieder zu Erörterungen
und Auseinandersetzungen Anlaß. Hinter ihnen steht letztlich auf der einen Seite
der von der Wirtschaft erhobene Anspruch auf Eigenverantwortung und Selbst
verwaltung der von ihr übernommenen Verpflichtungen, auf der anderen Seite
derjenige des Staates auf die Kulturhoheit.
Solche auf der Ebene des Prinzipiellen sich vollziehenden Auseinandersetzungen
sind wahrscheinlich unvermeidbar und vielleicht sogar notwendig. Es ist ihnen
jedoch eigentümlich, daß sie die konkreten Verhältnisse weitgehend beiseite lassen.
Diese sind demzufolge dort weder Problem noch Gegenstand der Klärung um der
Hinordnung auf realisierbare Ziele willen, die der Wirklichkeit und der ihr
innewohnenden Entwicklung angemessen sind.
Von den Trägern der betrieblichen Berufserziehung und den Vertretern der Be
rufsschule werden berufspädagogische Diskussionen großenteils jeweils »unter
sich« und unter Verzicht auf paritätische Mitbeteiligung der »anderen Seite« ge
führt. Das geschieht - von Ausnahmen abgesehen - durchaus in gegenseitiger An
erkennung und unter gegenseitiger W ohlgesinntheit - aber nicht darüber hinaus.
Angesichts der so sich darbietenden Sachlage hat nach dem Beispiel amerikani
scher ,Reports' (etwa »Rockefeller-Bericht« und »Conant-Bericht«) das Institut für
Arbeitswissenschaft der Technischen Hochschule Aachen eine durch das Land
Nordrhein-Westfalen - Landesamt für Forschung - geförderte empirische Unter
suchung über Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen der Berufswirklichkeit
des Facharbeiters und der Wirklichkeit von Berufserziehung und Facharbeiter
ausbildung durchgeführt, wie jene und diese vorzugsweise in den eisenverarbei
tenden Industriezweigen vorzufinden sind. Ergebnisse dieser Untersuchung sowie
der für sie aufgestellte und in ihr erprobte ,Problemkatalog' werden in dem nach
stehenden Bericht vorgelegt.
Dem Landesamt für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen sei für die
Förderung, für die bereitwillig gegebenen Aufschlüsse sei den für die Erkundun
gen in Anspruch genommenen Firmen und zahlreichen Einzelpersonen aufrichtig
Dank gesagt.
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Leider ist es nicht möglich gewesen, die mit Hilfe des ,Problemkatalogs' gewon
nenen Ergebnisse auch quantitativ darzustellen und zueinander in Beziehung zu
setzen. Dafür sind diese Ergebnisse, abgesehen von dem nicht als repräsentativ
anzusehenden Umfang, zu uneinheitlich gewesen.
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A. Problemstellung
In zunehmendem Maße hat die Einsicht Raum gewonnen, daß die in der indu
striellen Arbeitswelt sich vollziehenden Veränderungen und Entwicklungs
tendenzen eine überprüfung der gegenwärtigen Ausbildung und Erziehung für
die gewerblichen Berufe der Industrie erforderlich machen. Dasselbe gilt grund
sätzlich auch für den kaufmännischen und den im engeren Sinne technischen
Sektor sowie - und dies rein quantitativ sogar mit größerem Gewicht - für die
Berufsausbildung und -erziehung im Handwerk. Indessen hat die gewerbliche
Berufsausbildung und -erziehung, die in der Industrie und für sie zu leisten ist, ihre
besondere Problematik, die hier allein berücksichtigt sei.
Vor allem lassen sich im industriellen Sektor, und zwar vornehmlich in den
eisenverarbeitenden Industriezweigen, die als maßgeblich heranzuziehenden Ver
änderungen der Berufswirklichkeit unabweisbar deutlich erkennen. Sie müssen
die Grundlage sein, um in den ihr zugeordneten pädagogischen Bemühungen
gleichfalls zu einer neuen und für die Zukunft befriedigenden und richtungwei
senden Wirklichkeit zu gelangen.
Nach wie vor ist in Deutschland die gewerbliche (und nicht anders die kaufmänni
sche) Berufsausbildung als pädagogische Aufgabe betriebsgebunden. Sie wird er
gänzt durch den Unterricht in der »berufsbegleitenden« Berufsschule. Bedeutung
und Eigenart der Berufsschule sind in die Neuorientierung mit einzubeziehen.
Es ist insofern die Frage zu stellen, ob die relativ junge Bildungs-und Erziehungs
einrichtung ,Berufsschule' der Lebens- und Berufswirklichkeit so, wie diese sich
inzwischen entwickelt hat, noch angemessen sei.
Die anzustellenden überlegungen dürften im wesentlichen auf die folgenden
Fragen hinzuordnen sein:
a) Inwieweit kann für die auch als ,industrielle Berufsausbildung' von der Tradi
tion des Handwerks bestimmte und letztlich in ihr wurzelnde Berufsausbil
dung, die sich auf die ,gewerblichen Lehrberufe' der Industrie erstreckt, hin
sichtlich ihrer Leitvorstellungen und der damit einhergehenden Erziehungs
leitbilder noch Gültigkeit beansprucht werden?
b) Inwieweit werden die Richtlinien für Berufsausbildung und -erziehung durch
idealistische und idealisierende Berufsvorstellungen vorgeformt und beeinflußt?
c) In welchem Verhältnis zueinander (quantitativ und qualitativ) müssen die vom
Betrieb und die von der Berufsschule zu leistenden Ausbildungs- und Er
ziehungsbemühungen stehen?
d) Nach welchen Grundlinien ist der von der Berufsschule zu übernehmende An
teil auszurichten, falls sich eine prinzipielle Neuorientierung der Ausbildung
und Erziehung für die gewerblichen Lehrberufe der Industrie als notwendig
erweist?
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B. Die Wirklichkeit der gewerblichen Industrieberufe
Aufgabe und Zielsetzung dessen, was jeweils als Berufsausbildung und -erziehung
angestrebt wird, werden maßgeblich bestimmt durch die als gültig angesehene
Berufsauffassung. Es ist dies in erster Linie die Anschauung vom Beruf bei den
jenigen, denen es obliegt, die Ausbildung zu ordnen und zu verwirklichen. Daß
dieselbe Anschauung vom Beruf auch bei denen bestehe, die ausgebildet und er
zogen werden, wird weitgehend als selbstverständlich vorausgesetzt. Keinem
Zweifel kann es unterliegen, daß mindestens die Ordnungsmittel, die für das auf
Berufsausbildung gerichtete Bemühen von Betrieb und Berufsschule den Rahmen
abstecken, nach wie vor aus Vorstellungen hergeleitet werden, die primär für
produktgestaltende handwerkliche Vollberufe Geltung haben.
Das Problem, in welchen Wechselbeziehungen zueinander der Beruf als ,Sinn
erfüllung des eigenen Daseins' und rein als Quelle des Unterhaltserwerbs zu
einander stehen und in der sich vorfindenden gesellschaftlichen Lebenswirklich
keit stehen können, wird in diesem Zusammenhang kaum gestellt. Vielmehr
»scheiden sich an diesem Punkt die Geister«, indem die einen diese, die anderen
jene grundsätzliche Auffassung vom Beruf als allein gültig und gegeben an
erkennen.
Wahrscheinlich ist auf eine idealtypische Berufsauffassung und -vorstellung so
wohl für die Schaffung berufspädagogischer Ordnungsgefüge als auch für die
berufspädagogische Praxis nicht zu verzichten. Die eigentliche Frage lautet des
halb vielmehr, inwieweit diese idealtypischen Vorstellungen von der Wirklichkeit
absehen und sich von ihr entfernen dürfen, ohne daraufhin bereits wirklichkeits
fremd zu werden. Wenn Ideal und Wirklichkeit über eine schwer zu bestimmende
Grenze hinaus auseinander liegen, wird das Ideal ebenso zur Fiktion wie zur rein
ideologischen Forderung. In merkwürdiger Verkettung kommt es dann dahin,
jene nicht mehr ernst zu nehmen und zugleich streng doktrinär an dieser festzu
halten. Die fruchtbare Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit, aus der dies
seits der Grenze gegenseitiger Entfremdung gerade im pädagogischen Bereich das
verantwortliche Tun der Beteiligten, des Erziehers und der von ihm Angeforder
ten, erwächst, wird dadurch zerrissen.
Ebenso verfehlt, das braucht kaum eigens gesagt zu werden, wäre allerdings eine
solche Neubesinnung, die lediglich die Wirklichkeit zur Kenntnis nimmt, in der
Absicht, ihr allein Folge zu leisten. Vielmehr müssen die bisher als gültig an
gesehenen Ideale und idealtypischen Vorstellungen ihr gegenübergestellt und
möglicherweise von daher neu geformt und vielleicht sogar neue Ideale gefunden
werden.
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I. Die technische und arbeitsorganisatorische Wirklichkeit
Kennzeichnend für den Handwerker alter Art ist es, daß er sein ,eigener Techniker'
ist. Nur da, wo dieser innere Zusammenhang besteht, kommt handwerkliche
Produktgestaltung zustande. Seine folgerichtige Trennung - es braucht dies noch
nicht diejenige zwischen ,Denken' und ,Ausführen' zu sein - führt zur Umwand
lung in neue Berufsformen. Es entsteht einmal der ,Techniker', zum anderen der
,Arbeiter' - den Facharbeiter eingeschlossen, dem es obliegt, mit der Technik
sachrichtig und sachverständig umzugehen. Dieser »verstehende Umgang« in
dessen ist es, worin, allerdings anders strukturiert, in der neuen Berufsform des
Facharbeiters Wesentliches vom Handwerker alter Art erhalten bleibt.
Das entscheidende Merkmal, um das es sich hier handelt, ist das Auseinander
treten der theoretischen und der praktischen Funktion. Jene wächst sich aus zur
Technik als zur Anwendung gebrachter Naturwissenschaft und bringt auf dieser
Grundlage in der Zuspitzung den technischen Spezialisten hervor; diese führt,
wenn auch nicht notwendigerweise und keineswegs immer zweckgünstig, so doch
weitgehend tatsächlich zur ,Arbeitszerlegung'.
Weniger die Spezialisierung und die Arbeitszerlegung selbst als die Tendenzen
auf sie hin sind die Kennzeichen einer industriellen Arbeitswelt, wie sie sich in
den letzten Jahrzehnten entwickelt hat. Unter den technischen Spezialisten haben
sich einige inzwischen weitgehend vom einzelnen Betrieb gelöst und stellen ihm
als selbständige technische Büros - etwa für Organisation oder für Projektierung -
ihre Dienste zur Verfügung. Auch bei den Ausführenden gibt es spezialistische
Funktionen, und zwar manche von ihnen mit in sich großer Vielseitigkeit; sie
sind zwar durchweg im Betrieb verblieben, jedoch zu selbständigen Abteilungen -
etwa für Werkzeug herstellung oder für Instandhaltung - zusammengefaßt.
Für diejenigen, die an der Herstellung des Produktes beteiligt sind, hat sich die
Entfernung des einzelnen von dem Produkt als Ganzem erheblich vergrößert,
und es ist dies noch ständig in der Zunahme begriffen. Anders als in der Fabrik
alten Stils kommt im neuzeitlichen Industriebetrieb (neben dem es jene »Fabrik
alten Stils« nach wie vor gibt) das Erzeugnis auch nicht mehr durch das Zu
sammenwirken jeweils einer Gruppe von Ausführenden zustande. Wie PETER
F. DRUCKER es darstellt, produziert »die Organisation«, die gleichermaßen zerlegt
und integriert. Diese Organisation der Menschen auf ein gemeinsames Ziel hin
sei nicht eigentlich ein Organisationsprinzip der Technik, noch bleibe es auf die
Massenproduktion, obwohl aus ihr entstanden, beschränkt; vielmehr habe hier
ein »allgemeines Organisationsprinzip gesellschaftlicher Arbeit« seine Anwen
dung gefunden!.
I!. Kennzeichnung der gegenwärtigen Industriearbeiterschaft
Bis zum ersten Weltkrieg brauchte sich die damalige Industrie wenig Sorge um
ihre Arbeits- und Nachwuchskräfte zu machen. Die damals zahlreich benötigten
1 PETER F. DRUCKER, Gesellschaft am Fließband. Frankfurt a.M. 1949, S. 15ff.
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