Table Of ContentHorst Biermann
Berufsausbildung in der DDR
Horst Biermann
Berufsausbildung
in der DDR
Zwischen Ausbildung und Auslese
Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 1990
ISBN 978-3-8100-0879-4 ISBN 978-3-663-09369-5 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-663-09369-5
© 1990 by Springer Fachmedien Wiesbaden
Ursprünglich erschienen bei Leske + Budrich, Opladen 1990
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung
außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags
unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mi
kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Vorwort
Der Satz "Wir leben zu aufregenden Zeiten!" ist am Ende der 80er Jahre
dieses Jahrhunderts fast ein Gemeinplatz geworden, doch mindert dies nicht
seinen Wahrheitsgehalt, wenn wir uns als Zeugen des einzigartigen histori
schen Prozesses einer dramatischen politischen Veränderung in allen soziali
stischen Gesellschaften des Ostens begreifen.
Veränderungen in dieser Reichweite vergrößern den "Hunger" nach Informa
tionen über die betroffenen Länder und ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit,
die so plötzlich und unmittelbar für uns zugänglich geworden ist.
Ein besonderes Informationsbedürfnis gilt selbstverständlich der DDR -
auch seinem Bildungssystem, das sich verglichen mit dem der Bundesrepublik
Deutschland so ganz anders darstellt, sich so der Beurteilung unserer Erfah
rungen und Deutungsmuster nicht ohne weiteres erschließt.
Die DDR-Bildungsforschung ist in der Bundesrepublik Deutschland so etwas
wie ein "weißer Fleck auf der Forschungslandkarte", wenn einmal von den
ständigen Versuchen eines Systemvergleichs abgesehen wird (vgl. dazu Armin
Hegelheimer u.a.). Diese Fragestellung gilt insbesondere dann, wenn nach
"inneren" Problemen gefragt wird, die sich aus der Durchsetzung von Leit
bildern eines zentralistisch-bürokratischenp olitischen Systems und der Struk
tur seiner Subsysteme herleiten.
Die hier vorgelegte Arbeit ist vor der politischen Wende in der DDR ent
standen, für den Verfasser bedeutete das beachtliche Schwierigkeiten im me
thodologischen Zugriff, der Erschließung der Quellen, ihrer Interpretation
sowie in einer unvoreingenommenen Diskussion mit den Fachkollegen der
DDR.
In diesem Zusammenhang mußte das Fehlen kritischer Sozial-und Erzie
hungswissenschaften in der DDR als besonders schmerzlich empfunden wer
den, hier in der mangelnden Fähigkeit, das eigene Bezugssystem kritisch auf die
Verwirklichung seines gesetzten Zieles hin zu befragen, seine realen Probleme
offenzulegen und damit die ideologischen Forschungssperren zu überwinden.
5
Diese Feststellung wird dann besonders deutlich, wenn es um eine jener
zentralen Fragestellungen eines jeden Bildungssystems geht, der Auslese
wirklicher oder vermeintlicher "Bildungsversager" aus dem Regelsystem in
folge der verordneten "offenen" Normen, vor allem aber durch die verdeckten
des "heimlichen Lehrplans".
Diese Arbeit hat darüber hinaus auch deshalb Bedeutung, weil die DDR
mit dem Ziel angetreten ist, das in den deutschsprachigen Ländern im 19.
Jahrhundert entstandene sogenannte Duale System der Berufsausbildung zu
überwinden und dafür spezielle curriculare und organisatorische Modelle zu
entwerfen, die geeignet sind, die Schwächen des Dualen Systems zu ver
meiden.
Aus der Struktur des in der DDR neu entstandenen Systems der berufli
chen Bildung ergeben sich auch die beiden Forschungsfragen:
1. Frage: Gibt es in dem politisch-pädagogischen System der DDR auch sy
stembedingte Bildungsversager?
2. Frage: Wie wird im politisch-pädagogischen System der DDR mit diesen
Jugendlichen (Hilfsschüler, Schulverweigerer, Anlernlinge usw.) umge
gangen?
Mit anderen Worten, es wird untersucht, wie das Bildungssystem durch
"Problemverleugnung" oder "Problemlösung" (Claus Offe) angesichts der
selbst gesetzten egalitären politischen Prinzipien diesen Fragen begegnet.
Forschungsergebnisse
Das sog. Duale System der Berufsausbildung in Deutschand ist in seinen
Grundzügen mit der Mittelstandspolitik Bismarcks als politisches System ent
standen, den bis dahin unkontrollierten "Freiraum" im Jugendalter zwischen
Schulentlassung und dem Eintritt in den Militärdienst einzugrenzen, die so
ziale Kontrolle dieses Zeitraumes dem neu entstehenden Mittelstand zu über
antworten (Handwerkerschutzgesetz 1897 u. kleiner Befähigungsnachweis
1908), um die Jugendlichen vor der Agitation der Sozialdemokratie zu schüt
zen (vgl. Wolf-Dietrich Greinert); es gelangt erstjetzt bei der Bewältigung der
gegenwärtigen Aufgaben infolge des Eindringens der Neuen Technologien in
die Betriebe und der Veränderungen der Arbeitsorganisation zur "vollen
Reife".
Die DDR war mit dem ausdrücklichen Anspruch angetreten, die beiden
zentralen Aufgaben eines jeden Ausbildungssystems-Herausbildung des po
litischen Bewußtseins und der Ausbildung marktfähiger Qualifikationen - in
einerneuen Ausbildungsstruktur zu ordnen und sich somit von dem traditions
leitenden Dualen System deutlich abzusetzen.
6
Mit Beschluß der Volkskammer über die Berufsausbildung als Teil des
"Einheitlichen Sozialistischen Bildungssystems" ist die Strukturreform zu ei
nem (vorläufigen) Abschluß gekommen, deren curriculare Strukturen bereits
um 1970 in der Idee der Grundberufe (die auch in der Bundesrepublik
Deutschland sehr beachtet wurde) vorgedacht und erprobt worden waren.
Im Kern bedeutet diese Reform die Monopolisierung einer industrietypi
schen Berufsausbildung (gegenwärtige Zahl der Lehrlinge im Handwerk noch
5 %) nach den didaktischen Prinzipien der Entspezialisierung und Theoreti
sierung beruflicher Lerninhalte mit dem ausdrücklichen Ziel, durch diese
Ausbildung den technischen Fortschritt zu beschleunigen. Diese grundle
gende Entscheidung mußte durch eine geschlossene Kausalkette bestimmter
Folgeentscheidungen abgestützt werden, wenn die gesetzten Erwartungen er
füllt werden sollten, insbesondere durch
- die Ausbildung in Lehrwerkstätten von Industriebetrieben und in Werks
schulen;
- die Unterbringung einer großen Zahl von Lehrlingen in Internaten;
- die Zentralisierung und Standardisierung der Lehrpläne, der Unterrichts-
verläufe sowie der Führungsprinzipien des Lehrpersonals und der Direk
toren;
- die Standardisierung der Aufstiegsprozesse nach einer langfristig progno
stizierten, festgelegten und stabilen (bis zum Jahr 2000) Qualifikations
struktur.
Diese Entscheidungen haben nun im Sinne der gestellten Forschungsfra
gen bestimmte und einschneidende Konsequenzen, diese beziehen sich auf die
Qualifikation, Allokation und Sozialisation der Jugendlichen.
- Qualifikation: Die grundlegende Entscheidung zum Aufbau einer indu
strietypischen Ausbildung bei gleichzeitiger Monopolisierung bedeutet im
Grunde die Konstituierung eines "elitären" Ausbildungsmodells infolge
der Entspezialisierung und Theoretisierung der Lerninhalte, die sich mit
rigiden Leistungsnormen und Vorschriften für soziales Verhalten verban
den; mit anderen Worten, ein so konsequentes und schlüssiges Ausbil
dungssystem bietet für die jugendlichen Leistungsversager weder soziale
Freiräume und Nischen für das individuelle Ausleben noch alternative, ih
rem Verhalten angepaßte Ausbildungsformen (wie beispielsweise in alter
nativen Ausbildungseinrichtungen in offenen, pluralen Gesellschaften).
- Allokation: Der Ausbildungserfolg wird weitgehend an gesellschaftlich
ökonomische Hierarchiestufen gebunden, die gegenseitig kaum durchläs
sig sind und mit lebenslangen, gesetzlich gesicherten Berufsbezeichnun
gen versehen sind (Etikettierungen). Informelle Aufstiegs- und Umstiegs
prozesse sind deshalb nahezu ausgeschlossen.
7
- Sozialisation: Die gewünschten Allokationsprozesse korrespondieren in
hohem Maße mit den erreichten allgemeinbildenden Bildungsabschlüssen,
d.h. der Eintritt in die beruflichen Bildungsgänge und deren Abschlüsse
stehen unter dem Primat des Erfolgs in den allgemeinbildenden Fächern,
der Abschlüsse und Zertifikate.
Zusammengefaßt läßt sich formulieren, gerade der egalitäre Anspruch
der eingeleiteten Reform gerät in einen zentralen Widerspruch durch die Tat
sache, daß ein so "totales System" mit seinen rigiden Normen, Standards und
strukturierten Ordnungen, seinen Gratifikationen und Sanktionen die volle
Einlösung dieses Anspruchs nicht gestattet.
Die neue Struktur des Ausbildungssystems verstärkt zwar die formalen
und kollektiven Leistungen einer Mehrheit von Jugendlichen, aber diese er
höht zugleich die Selektionsrate für eine Minderheit von Jugendlichen, die
den gesetzten Ansprüchen nicht entsprechen können oder entsprechen wollen
und dies mit festgeschriebenen Etikettierungen auf Lebenszeit (rd. 15% eines
Schülerjahrganges).
Die Reform des beruflichen Bildungswesens in der DDR ruft (wie alle
Reformen) eine Reihe von nicht beabsichtigten Nebenwirkungen hervor, in
der vorgelegten Arbeit ist eine (den politisch-gesellschaftlichen Normen der
DDR widersprechende) Nebenwirkung erörtert worden, die Auslese und ihre
Mechanismen von Leistungsversagern infolge bestimmter Strukturen und Be
dingungen des Bildungssystems. Möglicherweise enthalten die entwickelten
Strukturen weitere Defizite, die für die gesellschaftliche und ökonomische
Zukunft der DDR noch weitaus tiefgreifender sein könnten. Wie beispiels
weise kann unter diesen rigiden Lernbedingungen sich kreatives und selbstbe
stimmtes Lernen entfalten, das durch die neuen technologischen und ökono
mischen Bedingungen der Produktion geradezu erzwungen wird (vgl. dazu
die Neuordnung der Metall- und Elektroberufe in der Bundesrepublik
Deutschland von 1987, in der die selbstgesteuerte Problemlösung zum konsti
tutiven didaktischen Prinzip erhoben ist)? Allerdings hat die Durchsetzung
des Prinzips der Selbststeuerung wiederum fatale Nebenwirkungen, denn da
mit stellt sich stets auch die Herrschaftsfrage im jeweiligen sozialen System!
Die ermittelten Forschungsergebnisse stehen im engen Zusammenhang
mit einigen bedeutenden europäischen und deutschen Traditionslinien, die in
das Reformwerk der DDR-bewußt oderunbewußt-eingegangen sind. Fol
gende Reformlinien sind deutlich auszumachen:
- Tradition I Lehrwerkstatt:
Die DDR stützt sich bei der Überwindung des Dualen Systems und der
Konstituierung eines neuen Modells auf die Tradition der deutschen indu
striellen Lehrwerkstatt mit begleitender Werkberufs schule. Dieses Modell
hat sich in den 20er Jahren herausgebildet, um schließlich im sog. Dritten
8
Reich zur bevorzugten Ausbildungsform ausgewählt zu werden (Martin
Kipp). Diese Ausbildung hat sich stets als "elitär" begriffen, weil hier die
zukünftigen Maschinenführer, Einrichter, Vorarbeiter, Meister, Techniker
und Ingenieure auf ihre spätere Tätigkeit vorbereitet wurden.
Das Duale System dagegen hat sich stets "egalitär" verstanden,
weil alle Bewerber sich um einen Ausbildungsplatz in allen Berufen ohne
Rücksicht auf die Schulabschlüsse bemühen konnten (dies jedenfalls, wenn
die Zahl der angebotenen Ausbildungsplätze die Nachfrage überstieg).
- Tradition I Europäische Geistesgeschichte:
Die DDR postuliert erneut die Dominanz der allgemeinbildenden Fächer,
der allgemeinbildenden Abschlüsse und Zertifikate als lebensbedeutsamen
Zukunftsentwurf für die Biografie seiner Bürger (Marx hatte als "gelern
ter" Geisteswissenschaftler eine andere Position zur Rolle der Arbeit für
die Menschwerdung).
In der europäischen Geistes-und Herrschaftsgeschichte ist der allgemein
bildenden Schule mit ihren Abschlüssen und Zertifikaten (historisch als
Ersatz für das ständische Geburtsprinzip) eine entscheidende Rolle der Zu
weisung in gesellschaftliche Ränge und der Sicherung der Herrschaft zuge
wiesen worden (Antoine Condorcet), insbesondere die Fähigkeit im Um
gang mit der Sprache und der Geschichte (Lehrplan Europas) wurde zum
Aufstiegs- und Auslesekriterium nachständischer Gesellschaften. Ohne
die Bedeutung dieser Fächer mindern zu wollen, so muß doch gerade die
Funktion der Sprachbeherrschung in dieser zentralen Bedeutung befragt
werden, wenn sie beispielsweise den Weg zu beruflicher Tüchtigkeit und
zur gesellschaftlichen Teilhabe verlegen könnte. Die Biografien der Mehr
heiten in allen Industriegesellschaften verweisen auf andere Wege zur per
sonalen Identität, zum gesellschaftlichen und politischen Verständnis von
Welt.
- Tradition I Preußisches Staatsverständnis:
Die DDR stützt sich zur Durchsetzung ihrer politischen, sozialen und öko
nomischen Ziele auf die zentrale Gestaltungsmacht des Staates und dieses
Modell gerät doch sehr in die Nähe des preußischen Staatsverständnisses
mit seinem Anspruch auf "Allzuständigkeit", die gesellschaftlichen Nor
men und Lebensformen durch gültige Regelungsentwürfe zu steuern.
Nun zeigt jedoch die gesellschaftliche Wirklichkeit - hier nachgewiesen
am Beispiel der Reform der Berufsausbildung der DDR-daß auch bei ei
ner übermächtigen Position des Staates es nicht möglich ist, mit noch so
durchdachten Methoden alle gesellschaftlichen Prozesse gültig und human
zu regeln - von den Regelungsopfern ist in dieser Arbeit die Rede.
Günter Wiemann
9
Inhalt
Vorwort ........................................................................... 5
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
1.1 Forschungspolitische Aktualität ... ...... ... . . . .... ....... .. . .. ...... 13
1.2 Methodische Überlegungen und Fragestellung .. ......... ..... ... . 21
2 Die Überwindung des Dualen Systems.......................... 27
2.1 Die sozio-ökonomische Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
2.1.1 Zur Infrastruktur und wirtschaftlichen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . 27
2.1.2 Lebens- und Arbeitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . .. 35
2.2 Das gemeinsame Erbe der Lehrlingsausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
2.3 Der staatliche Ausbildungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
2.3.1 Entwicklung des sozialistischen Facharbeiterbildes . . . . . . . . . . . . . . 50
2.3.2 Kodifizierung des Ausbildungsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
2.3.3 Der sozialistische Lehrling als Negation zum Handwerkslehrling 58
2.4 Die Struktur der Berufsausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . 60
2.4.1 Die Berufsausbildung als Teil des einheitlichen und sozialisti-
schen Bildungssystems ............................................... . 60
2.4.2 Die Berufsberatung und Berufslenkung ........................... . 72
2.4.3 Die Struktur der Ausbildungsberufe ............................... . 80
2.4.3.1 Vom Monoberuf zum Grundberuf ................................. . 80
2.4.3.2 Erstausbildung und Weiterbildung ................................. . 91
2.5 Unterricht in der Berufsausbildung ................................ . 95
2.5.1 Legitimationsebene ................................................... . 96
2.5.2 Inhalte, Methoden und Organisation der Ausbildung ........... . 99
2.6 Zusammenfassung .................................................... . 117
3 Die Polarisierung der Qualifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
3.1 Die Hierarchie der Laufbahnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
3.1.1 Die Ausbildungsstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . 133
3.1.2 Die Kontinuität der Laufbahnen ..................................... 140
11
3.2 Das Konzept der Lehrausbildung und der Anlernausbildung -
Fallbeispiel: Bauwesen .................................................. 144
3.3 Das Dilemma des berufspädagogischen Konzepts .................. 158
3.3.1 Die "Kontinuität" der Bildung und Erziehung ...................... 158
3.3.2 Die Dysfunktionalität der Qualifikationsschere ..................... 161
4 Zusammenfassung und Ausblick .................................... 167
5 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
12