Table Of ContentWolfgang Stiitzel
Bemerkungen zur Bilanzrheorie
Professor Dr. Wolfgang Stiitzel
Bemerkungen
zur Bilanztheorie
Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
ISBN978-3-663-12757-4 ISBN978-3-663-13782-5(eBook)
DOI 10.1007/978-3-663-13782-5
Sonderdruck der Zeitschriftfur Betriebswirtschaft
Verlags-Nr, 3251
Copyright by SpringerFachmedienWiesbaden 1967
UrsprtmglicherschienenbeiBetriebswirtschaftlicherVerlagDr.Th.GablerGmbH,Wiesbaden 1967.
Softcoverreprintofthehardcover 1stedition 1967
Vorwori
Unter radikaler Zurilckweisung des Gedankens, es komme in der Bilanztheorie
darauf an, zu einer einzigen "richtigen" Bilanz oder auch nur zu einem den
"richtigen Gewinn" oder das "wahre Vermogen" zeigenden Rechenwerk zu ge 
langen, wird der Grundrij3 einer "funktionsanalytischen Bilanztheorie" auf 
gezeichnet: Nur
- "Bilndelung von Buchfilhrungszahlen zur Sicherung von Urkundenbestiinden
gegen nachtriigliche Inhaltsiinderungen im Interesse der Rechtspfiege",
- "Schutz von Gliiubigern durch Zwang zur Selbstinformation des Unterneh 
merk ilber seinen Vermogensstand",
- Transformation gliiubigergefiihrdender Sachverhalte in Tatbestiinde gliiu 
bigerschiltzender Rechtsfolgen (Ausschilttungssperre)",
- "Konkretisierung dessen, was unter den Vokabeln Gewinn oder Verlust oder
Kapitalanteil im Sinne der Verteilungsschlilssel des geltenden Gesellschafts 
vertrages verstanden werden soll" und
- "Verteilung gewisser Kompetenzen innerhalb von Korperschaften mit
mehreren Organen"
sind Funktionen, zu deren Erfilllung Rechenwerke nach Art traditioneller han 
delsrechtlicher Jahresabschlilsse benotigt werden und ausreichen, wiihrend filr
andere Funktionen (wie Rechenschaft gegenilber Auftraggebern, Optimaldisposi 
tion von Unternehmensleitungen, Kreditwilrdigkeitsbeurteilung und Unterneh 
mensbewertung durch aktuelle und potentielle Kreditgeber und Anteilseigner)
Rechenwerke nach Art traditioneller Jahresabschlilsse weder unbedingt erfor 
derlich sind noch Ausreichendes leisten. Wiedergegeben und damit zur Dis 
kussion gestellt wi1'dder Text, der dem Vortrag des Verfassers auf der Wissen 
schaftlichen Tagung des Verbandes der Hochschullehrer filr Betriebswirt 
schaft e.V. am 2.Juni 1966 in Berlin zugrunde lag.
Wolfgang Stiltzel
Inhaltsverzeichnis
Erster Teil
MeB-Theorie 9
Zweiter Teil
Primare Bilanzzwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
Dritter Teil
Weitere Bilanzzwecke? . . . . . . . . . . . . . . . . 27
Erster Teil: MeB-Theorie
(1)
Buchfiihrung und JahresabschluB zeichnen sich vor anderen wirtschaftlichen
Rechenwerken dadurch aus, daB als Rechenoperationen nur Addition und Sub 
traktion vorkommen.
Die vertraute Form der Aufzeichnung in T-Konten ist lediglich eine Auf 
schreibetechnik, die es erlaubt, auch Subtraktionen darsteUen zu konnen, ohne
dazu ein Minuszeichen benutzen zu mussen, eine-Technik mit dem Vorzug der
Ubersichtlichkeit und Fiilschungssicherheit. Verschiedentlich liest man immer
noch, in Bilanzen werde unter den Aktiven das Gesamtvermogen ausgewiesen,
aufgegliedert nach seiner gegenstiindlichen Zusammensetzung, und unter den
Passiven dasselbe Vermogen, aufgegliedert nach den Personen (Gliiubigernund
Anteilseignern), denen dieses Vermogen oder Kapital zusteht. Das mag eine
Eselsbrueke fur die erste Stunde "Buchfiihrung" sein. Die Bilanztheorie aber
soUte diese Brueke denen tiberlassen, fur die sie ihrem Namen nach bestimmt
ist. Aktiviert man z.B. das Disagio bei einer Unterpari-Emission von Anleihen,
die zu Pari passiviert werden, so enthalt der entstehende Aktivposten keine
Information tiber einen Vermogensgegenstand, ebensowenig der Aktivposten
"Verlustvortrag" oder der Aktivposten "Entnahmen des personlich Raftenden".
Passiviert man Wertberichtigungen, so geben die entstehenden Passivposten
keinen AufschluB tiber die Beteiligung von Personen am Gesamtkapital. Und
wenn zuweilen behauptet wird, Betriige in Hohe der Grundkapitalzahl gehor 
ten den Aktioniiren, Betrage in Hohe der Rucklagen aber dem Unternehmen
als solchem, so kann man diese Behauptung ideengeschichtlich als eine skurrile
Kreuzung zwischen der Ideologie vom "Unternehmen an sich" und miBver 
standenem Aktienrecht klassifizieren; man kann sie ferner dazu benutzen, un 
kundigen Aktioniiren Sand in die Augen zu streuen; man kann sie schlieBlich
auch dazu verwenden, Rtickschhisse auf den Bildungsstand derer zu ziehen, die
sie vertreten. Aber sonst kann man mit ihr schwerlich etwas anfangen. In
Wahrheit bleibt es dabei: Bilanz als Aufzeichnung in T-Konten ist eine Auf 
schreibetechnik, die es ermoglicht, auBer Addition auch Subtraktion darzustel 
len, ohne Minuszeichen benutzen zu miissen - und kein Deut mehr.
Buchfiihrung und JahresabschluB zeichnen sich zweitens vor anderen wirt 
schaftlichen Rechenwerken aus, daB in ihnen nur Geldgrofsen vorkommen, also
durchgiingig auf $ lautende Zahlen oder auf DM lautende Zahlen; wir sagen
kurz: nur Wiihrungsbetriige gleicher Wiihrung, keine Stiickzahlen oder physi 
kalisch zu messende Mengen, auch keine dimensionslose Zahlen, sondern nur
Wiihrungsbetriige, und zwar in zwei Auspragungen: als Bestandsgrbfsen (DM
an einem bestimmten Zeitpunkt) und als Stromgr6Ben (DM pro Abrechnungs 
periode).
Buchfiihrung und JahresabschluB zeichnen sich drittens dadurch aus, daB als
Merkmalstriiger, fiir die solche Wahrungsbetrage aufgezeichnet werden, keine
makrookonomischen Gruppen von Wirtschaftssubjekten, auch keine irgendwie
nach betriebswirtschaftlichen Kriterien herausgegriffenen organisatorischen
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Bereiche, wie Betriebe oder Betriebsabteilungen, in Betracht kommen, sondern
ausschlieBlich nach rechtlichen Kriterien abzugrenzende Gebilde, Unternehmen,
praziser: wirtschaftende Personen, noch praziser, unter Beriicksichtigung von
Korpersehaften, Gesellschaften, Stiftungen und sonstigen Sondervermogen:
Rechtspersonen, Haftungssubjekte.
(2)
Die Gesamtklasse der Wahrungsbetrage, deren additive und subtraktive Zu 
sammenstellung fUr ein Haftungssubjekt schlieBlich das darstellt, was wir all 
gemein unter BuchfUhrung und JahresabschluB verstehen, zerfallt im Hinblick
auf die Herkunft der einzelnen Wahrungsbetrage in mehrere Unterklassen. Da 
bei seiendrei Unterklassenvoneinander unterschieden.
Die erste Unterklasse der Gliederung nach Herkunft bilden die Wiihrungs 
betrage, die einfach durch Abziihlen ermittelt werden: So als wichtigstes Bei 
spiel der Kassenbestand in der Anfangsbilanz, die Kassenumsiitze in der Kas 
senbuchfUhrung, der Kassenbestand in der SchluBbilanz. All das sind Wiih 
rungsbetriige von der Art reiner Abziihlergebnisse.
Vollig anderer Herkunft sind die Wiihrungsbetriige, die etwa unter der Be 
zeichnung "Grundkapital", "Gesetzliche Riicklage", "freie Riicklage" in Bilan 
zen vorkommen. Sie entstehen nicht durch Abziihlen, iiberhaupt nicht durch
Beobachtung, auch nicht durch sachverstiindige Schiitzung, sondern alleindurch
Rechtsgeschiift. So entsteht und iindert sich der Grundkapitalbetrag allein
durch rechtmiiBige Eintragung eines giiltigen satzungsbegriindenden oder sat 
zungsiindernden Beschlusses in das Handelsregister-). So andert sich der Wiih 
rungsbetrag, der in den Bilanzen als gesetzliche oder freie Riicklage ausge 
wiesen wird, allein durch rechtmiiBigen BeschluB der fiir die Bestimmung der
Hohe dieser Betriige zustiindigen Gesellschaftsorgane. Entsprechendes gilt fUr
den Posten "Stammkapital" in der GmbH-Bilanz, den Posten "Bilanzgewinn"
in der AG-Bilanz und iihnliche Zahlen. AIle Wiihrungsbetriige, alle in Wah 
rungseinheiten dimensionierten Zahlen der Bilanz, die auf diese Weise ent 
stehen, seien zur zweiten Unterklasse zusammengefaBt: Wiihrungsbetriige, die
aHein schon und nur durch Rechtsgeschiifte entstehen.
Die dritte Unterklasse umfaBt danach alle iibrigen in Buchfiihrung und Bilan 
zen vorkommenden Wiihrungsbetriige, also alle Posten, die weder, wie der
Kassenbestand, durch bloBes Abziihlen, noch, wie z.B. "Grundkapital", allein
schon durch Rechtsgeschiifte zustande kommen: so z. B. die Betrage, mit denen
Gegenstande des Saehanlagevermogens oder Vorriite zu Buche stehen. Freilich
beruht der Umstand, daB iiberhaupt ein Betrag in der Bilanz erscheint, wie
z.B. der Buchwert einer vor liingerer Zeit angeschafften Maschine, auch hier
gewohnlich auf Rechtsgeschiiften, etwa dem Kauf der Maschine. Insoweit be 
steht kein Unterschied zu den Wiihrungsbetriigen der zweiten Klasse. Aber mit
welchem Betrag die Maschine mit Recht in der Bilanz aufgefUhrt wird, be-
1) Im Falle der bedingten Kapltalerhohung mull noch die Ausgabe der bedingt be 
grtindeten Aktien hinzutreten (§ 200 AktG).
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ruht zum Unterschied vom Grundkapitalbetrag nicht allein auf dem zugrunde
liegenden Rechtsgeschiift, dem Kaufvertrag, dem darin vereinbarten Preis,
sondern auf einem zusatzlichen, besonderen Akt, eben der beriihmten "Bewer 
tung". Kurz: Die Bilanzzahlen der dritten Unterklasse sind Bewertungsergeb 
nisse. Sehr hiibsch tritt der Unterschied zwischen den Wahrungsbetragen mei 
ner Klasse 2 und denen meiner Klasse 3 bei Geldforderungen zutage: Durch
Rechtsgeschiift wird bestimmt, welcher Geldbetrag geschuldet wird. Ge 
schatzt werden kann, welchen Betrag man voraussichtlich erhalten wird und
welcher Wert diesem erwartbaren kiinftigen Zahlungseingang beizumessen
ist. Denkbar ware, daf in Bilanzen der Forderungsbetrag selbst ausgebracht
werden mufste, Tatsiichlich ist z. Z. handelsbilanzrechtlich nicht der Betrag,
sondern - spatestens seit 1908, seit Fischers iiberzeugender Argumentation")  
der Wert der Forderung auszuweisen.
(3)
Den drei genannten Wegen, auf denen Bilanzzahlen zustande kommen, ent 
sprechen meBtheoretisch bestimmte Genauigkeitsgrade: BloBe Abziihlung  
Klasse 1 - fiihrt zu eindeutig pfenniggenauen Wiihrungsbetriigen. Ebenso sind
die Wiihrungsbetriige in Bilanzen, die allein auf Rechtsgeschiifte beruhen
- Klasse 2 - ihrer Natur nach eindeutig pfenniggenaue Betrage, Bewertung
_. Klasse 3 - kann nur in Ausnahmefiillen auf pfenniggenaue Betriige ge 
richtet sein.
(4)
Man kann die drei verschiedenen Wege auch als drei verschiedene Klassen
von Produktionsverfahren zur Gewinnung von Bilanzzahlen bezeichnen.
Bei Klasse 1 ist das allgemeine Produktionsrezept denkbar primitiv: Ziihle ab
und berichte wahrheitsgetreu! Man kann allerdings auf verschiedene Weise
Geld zahlen, Insofern gibt es auch innerhalb dieser Klasse immer noch ver 
schiedene Produktionsverfahren. Indessen enthalt die Skala zur Beurteilung
der Qualitiit solcher verschiedener Verfahren im Hinblick auf das MeBergebnis
nur zwei diskrete Werte: Richtig gezahlt oder falsch gezahlt; tertium non
datur.
Bei der Klasse 2 ist das Produktionsrezept schon komplizierter: Priife, was in
bezug auf Grundkapital, Riicklagen usw. rechtswirksam beschlossen ist und
bcrichte daruber wahrheitsgetreu! Auch hier gibt es, wie jeder Wirtschafts 
priifer weiB, verschiedene Erhebungsverfahren. Aber auch hier enthalt die
Skala zur Qualitiitsbeurteilung der Verfahren nur zwei diskrete Werte: Richtig
festgestellt, welche in Wiihrungseinheiten dimensionierte Zahl tatsiichlich als
Grundkapital zu bezeichnen ist, oder falsch festgestellt. Richtig ermittelt, daf
die als Bilanzgewinn bezeichnete Zahl nach allen Bewertungen und Beschlus 
sen rechtswirksam als Bilanzgewinn festgestellt wurde, oder falsch ermittelt.
Auch hier gibt es kein Drittes.
2) R. Fischer, Die Bilanzwerte, was sie sind und was sie nicht sind, Leipzig 1905/1908,
S. 160 und 162.
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Bei Klasse 3 sieht es in dieser Hinsicht vollig anders aus. Schon mangels
Pfenniggenauigkeit enthalt die Skala zur Qualitatsbeurteilung, die Skala zur
Qualitatsbeurteilung von Bewertungsverfahren, nie nur zwei diskrete Werte,
sondern stets eine lange Skala von Werten. Hinzu kommt aber noch ein wei 
teres.
(5)
Welche Instanzen sind das eigentlich, die uns die Mafistabe liefern, an denen
wir zu messen haben, ob ein Produktionsverfahren zur Gewinnung von Bilanz 
zahlen als besser oder schlechter zu charakterisieren ist? Wer bestimmt die
Zielfunktion bei dieser Entscheidung tiber Verfahrenswahl?
Bei Klasse 1 ist das schrecklich unproblematisch: Abzahlen heiBt die Erhebung
eines Befundes in der Welt der greifbaren und sichtbaren Dinge. Instanz zur
Qualifikation der gewahlten Verfahren ist dieselbe wie beim Abzahlen un 
versehrter Streichholzer in der nachsten Streichholzschachtel: Arithmetik und
schiere Evidenz.
Auch bei Klasse 2 ist unproblematisch, welche Instanz iiber die Qualifikation
der gewahlten Verfahren zur Ermittlung der Bilanzzahlen entscheidet, mag es
auch in Grenzfiillen dunkel bleiben, wie die Entscheidung im Namen dieser In 
stanz im einzelnen aussieht. Instanz zur Beurteilung, ob die Wahrungsbetrage,
wie z.B. Grundkapital, die allein auf Rechtsgesehaft beruhen, richtig in die
Bilanz eingestellt wurden, ist jeweils der Teil der Rechtsordnung, der die
zugrunde liegenden Rechtsgeschafte als solche normiert.
Kurzum: Zustandig dafiir, ob richtig gezahlt wurde, ist jeder Mensch mit ge 
sundem Verstand, der zahlen kann. Zustandig dafiir, ob der Wahrungsbetrag,
der als Grundkapital in der Bilanz steht, bei Bilanzaufstellung richtig ermittelt
wurde,ist der Gesellschaftsrechtler, im Grenzfall das Zivilgericht.
Wie ist es aber bei den Wahrungsbetragen der Klasse 3, den Bewertungs 
ergebnissen? Wer ist dafiir zustandig zu beurteilen, ob richtig oder wenigstens
einigermaBen sachgerecht bewertet wurde? Wie heiBt die Instanz, die die MaB 
stabe setzt, mit denen die Qualifikation von Bewertungsverfahren zu messen
ist? In wessen Namen wurde Z.B. behauptet, daB die Verfahren der dyna 
mischen oder der organischen oder der rein nominalen Bilanzauffassung die
besseren oderschlechteren waren? In wessen Namen setzt man Werturteile beim
pro und contra stille Reserven? In wessen Namen wird heute Z. B. von der
Bundesbank gefordert, daB von beiderseits noch nicht erfiillten zweiseitigen
Vertragen zumindest ein Typ, namlich die Effektenpensionsgeschafte, zumin 
dest von Kreditinstituten aktiv und passiv auszuweisen seien? In wessen
Namen wird gefordert, daf bei Leasing-Gesehaften, einem ganz ahnlich gela 
gerten Fall, die mietvertraglich bedungene Nutzungsmoglichkeit aktiviert und
die mietvertraglich geschuldeten Mietzahlungen mit ihrem gesamten Barwert
passiviert werden sollten? In wessen Namen wird behauptet, es sei gleichwer 
tig, ob Pensionsverbindlichkeiten in der Bilanz passiviert oder nur nachrichtlich
vermerkt werden? Woran, an welcher Zielfunktion, miBt man die Eignung all
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