Table Of ContentHans J. Alpers / Ronald M. Hahn
Bei den Nomaden
des Weltraums
Band 4
aus der Reihe
„Raumschiff der Kinder“
ungekürzte Originaledition
der nicht mehr aufgelegten
Einzelausgabe von 1977
© Ensslin & Laiblin Verlag GmbH & Co. KG Reutlingen 1977. Sämtliche
Rechte, auch die der Verfilmung, des Vortrags, der Rundfunk und
Fernsehübertragung, der Verbreitung durch Kassetten und Schallplatten
sowie der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Printed in Germany.
ISBN 3770904036
Fremder an Bord
Sie lebten in ihrem Raumschiff weit draußen am Rande der Milchstraße.
Dort, wo die Sterne seltener sind als im Zentrum und die Galaxis wie der
flachgedrückte Körper einer Schildkröte aussieht. Ihr Ziel war das nächstge
legene Sonnensystem. Die große rote Sonne, von der man wußte, daß sie
Planeten besaß, hatte das Interesse der Besatzung geweckt.
Sie – das waren:
Harpo Trumpff, sechzehn Jahre alt, ein mittelgroßer Junge mit blondem,
lockigen Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel ...
Anca, seine Schwester, nun bald dreizehn, schwarzhaarig und gelegentlich
völlig zu Unrecht als Pummelchen bezeichnet ...
Micel Fopp, vierzehn, dunkelhaarig und mit verträumten braunen Augen.
Ihn umgab eine geheimnisvolle Aura. Obwohl man auf den ersten Blick nur
erkennen konnte, daß er viel zu kurze Arme besaß, weil seine Mutter wäh
rend der Schwangerschaft ungenügend erprobte Medikamente eingenom
men hatte. Was man nicht sehen konnte: Micel konnte die Gedanken anderer
Menschen lesen. Und nicht nur die von Menschen ...
Brim Boriam, vierzehn wie Micel, ein Afrikaner mit krausem Haar und
dunkler Haut. Sein Wissen um den menschlichen Körper, seine Krankheiten
und deren Heilung brauchte sich nicht hinter dem eines irdischen Arztes zu
verstecken – im Gegenteil. Das verdankte er einer kurzen Hypnoschulung
durch außerirdische Lebewesen, die auf vielen Planeten der Milchstraße als
Weltraummediziner oder Galaktische Ärzte bekannt waren.
Dieses Quartett hielt sich gerade in der riesigen Zentrale des riesigen
Raumschiffes auf, dem sie den Namen EUKALYPTUS gegeben hatten.
Die Besatzung bestand nicht aus ihnen allein. Da war zum Beispiel Karlie
Müllerchen, eine wahrhaft aufsehenerregende Erscheinung. Denn der sech
zehnjährige Karlie überragte mit seinen zwei Metern zwanzig jedes andere
Lebewesen im Umkreis einiger Lichtjahre. Den Riesenwuchs, die Fistel
stimme und den dünnen Kinnbart „verdankte“ er der bedrohlichen Verseu
chung der Erde. Eine Ursache, die auch für das abweichende Aussehen und
Verhalten der meisten anderen Besatzungsmitglieder verantwortlich war.
Außenseiter gab es an Bord der EUKALYPTUS nicht. Deshalb hatte auch
Karlie niemals seinen Humor verloren. „Irgendwie“, sagte er manchmal, „hat
eben jeder seine Macke. Hauptsache, daß mir die Kartoffelpuffer
schmecken!“ Und sie schmeckten ihm wirklich wie sonst nichts auf der Welt.
Seine zweite Liebe galt der Technik. Niemand an Bord konnte es mit seinen
geschickten Fingern aufnehmen, wenn es galt, die komplizierten Steuerappa
raturen zu bedienen.
Ausgenommen vielleicht Thunderclap Genius, den eine Krankheit an den
Rollstuhl fesselte. Thunderclap war fünfzehn, und er machte ein großes Ge
heimnis um seinen wahren Namen, den er für noch komischer hielt als den,
unter dem er lebte. Von frühester Jugend an auf den Rollstuhl angewiesen,
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hatte er viel Zeit damit verbracht, wissenschaftliche Bücher und Zeitschriften
zu lesen. Da er ein gutes Gedächtnis besaß und logische Folgerungen ziehen
konnte, war er lebendiges Lexikon und gewiefter Denksportler zugleich. Er
behielt immer den Überblick und konnte organisieren wie kein zweiter.
Harpo, der schon erwähnt wurde, litt unter Platzangst und fürchtete die
Dunkelheit. Ihm wurde leicht schwindlig. Sonst war er okay.
Der kleinste Mann an Bord war Ollie, von dem überhaupt niemand wußte,
wie sein Familienname lautete. Und Ollie war der sicherlich gerechtfertigten
Meinung, daß er als einziger Ollie an Bord sowieso mit keinem verwechselt
werden könne. Im Erfinden von Gruselgeschichten, bei denen sich jedem Zu
hörer die Nackenhaare sträubten, galt der Dreikäsehoch als unschlagbar.
Ollie war ein Elfjähriger mit Strubbelkopf und vielen Fransen an der
Trapperhose. Er war ein ziemlich cleverer Bursche – wenngleich er schon den
kleinsten Pickel auf seiner Haut für den Beginn einer tödlichen Krankheit
hielt.
Die beiden seltsamsten Wesen an Bord des Schiffes waren Lonzo und
Trompo. Lonzo war ein Roboter, der keiner sein wollte. Aber er hatte große
Ähnlichkeit mit den elf übrigen Robotern an Bord. Allerdings hatte er als
einziger eine Persönlichkeit entwickelt und sich schon auf die Seite seiner
heutigen Freunde geschlagen, als es an Bord des Schiffes noch ganz anders
aussah. Zweifellos war bei Lonzo irgendwo eine Schraube locker, da er stän
dig behauptete, ein ehemaliger Seeräuber zu sein. Er erklärte, bereits in
jungen Jahren ein Gefährte des Piraten Captain Kidd gewesen zu sein und mit
ihm im fünfzehnten Jahrhundert die damals noch sauberen sieben Weltmee
re unsicher gemacht zu haben. Auf jeden Fall war er nun ein unersetzlicher
Gefährte für die Raumfahrer auf der EUKALYPTUS.
Nun zu Trompo, einem Winzling, der äußerlich in mancher Beziehung
einem Elefanten ähnlich sah – einem nur kätzchengroßen Elefanten. Er hatte
ein rosarotes, weiches Fell, Miniaturstoßzähne und lange Schlappohren. Aber
Trompo war keineswegs ein Tier. Seine Heimat lag auf einem fernen, uner
reichbaren Planeten, und nur ein Zufall hatte ihn zunächst auf die Erde und
dann auf die EUKALYPTUS geführt. Er war sehr verspielt, zärtlichkeitsbedürf
tig und selten ernsthaft.
Die Zentrale der EUKALYPTUS war ein riesiges Rund mit einer durch
sichtigen Kuppel darüber. Abgesehen von einigen Lämpchen an den Steuer
instrumenten herrschte Dunkelheit. Das Licht der Sterne konnte ungehemmt
einfallen und bestimmte die Atmosphäre dieses Raums.
Hier residierte Schwatzmaul, das Bordgehirn. Das heißt, eigentlich steckte
ein Stück von Schwatzmaul überall an Bord, in jeder kleinsten Elektronik.
Aber in der Zentrale schlug gewissermaßen das Herz dieses Computers. Ohne
ihn wäre die Steuerung der EUKALYPTUS unmöglich gewesen. Als er einmal
für kurze Zeit ausfiel, bahnte sich eine Katastrophe an, denn Schwatzmaul
kontrollierte auch die Versorgung der Decks mit Licht, Luft und Wärme.
Wie der Name schon vermuten läßt, besaß er nicht nur eine Stimme, son
dern war auch ziemlich vorlaut und geschwätzig. Und das war gut. Die junge
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Besatzung, die nach einem Unglück unvorbereitet das Schiff übernehmen
mußte, wäre niemals in der Lage gewesen, die Symbolsprache eines norma
len Computers zu verstehen und ihm Anweisungen zu geben.
Alexander trat in die Zentrale. Er fehlt noch auf der Liste. Überall behaart,
auch im Gesicht, sah er auf den ersten Blick wie ein kleingebliebener, rotfel
liger Alaskabär aus. Aber er sah wirklich nur so aus. Die Kinder hatten auf
dem Planeten Nordpol, einer Schnee und Eiswelt, mit ihm Freundschaft ge
schlossen. Er war mit ihnen gekommen. So wenig ein Tier wie Trompo, zeich
nete er sich durch eine unersättliche Wißbegierde aus. Nur mit der
menschlichen Sprache haperte es noch ein bißchen bei ihm.
Gerade als Alexander den in einem weichen Schwenksitz liegenden Harpo
mit der Nase anstupsen wollte, schrillte eine Alarmklingel. Alexander verharr
te verdutzt mitten in der Bewegung, während Harpo seinerseits hochfuhr.
Auch Anca, Micel und Brim waren wie elektrisiert.
„Was ist denn los, Schwatzmaul?“ fragte Anca aufgeregt. „Oder wolltest du
uns nur ein bißchen munter machen?“
„Durchaus nicht“, antwortete die sonore Tonbandstimme des Computers
und verzichtete dieses Mal auf umständliche Umschreibungen. Gleichzeitig
ließ er die Alarmklingel wieder verstummen. „Ein unerklärlicher Vorfall auf
Deck 16.“
Die große Bildschirmwand leuchtete auf und zeigte auf zwanzig kleinen
Monitoren jene Teilansichten von Deck 16, die von den Fernsehkameras
erfaßt wurden. Aber mehr als eine leblose Sandwüste war dort nicht zu er
kennen.
„Ich registriere die Körperwärme eines Wesens von etwa menschlicher
Größe“, erklärte das Bordgehirn. „Leider hält es sich außerhalb des durch die
Kameras erfaßbaren Territoriums auf, etwas links von diesem Bildaus
schnitt.“
Schwatzmaul ließ jetzt nur den erwähnten Ausschnitt in starker Vergröße
rung auf der gesamten Bildwand erscheinen. Man sah ausschließlich Sand.
„Was macht dieses Wesen? Wo kommt es her?“ wollte Harpo wissen.
„Es verhält sich ganz ruhig, abwartend – wenn ich das so sagen darf. Wenn
mir diese Bemerkung gestattet ist: Ich glaube fast, daß es die Position der
Kamera kennt und sich ihr nicht zeigen will ...“
Harpo lachte laut auf. „Das ist bestimmt wieder so ein Scherz von Ollie.“
„Nein“, kam die Antwort. „Ich habe alle Besatzungsmitglieder im Bereich
der Kameras auf den verschiedenen Decks. Ollie zum Beispiel füttert gerade
Moritz mit einem großen Stück Fleisch ...“
„Aha!“ grunzte Alexander. „Deshalb heute beim Essen so verdächtige Bewe
gungen gemacht. Dabei Dackel Moritz sowieso viel zu dick!“
„Karlie befindet sich ...“ wollte Schwatzmaul fortfahren, aber Harpo fiel
ihm ins Wort. Er kannte den Genauigkeitsfimmel des Gehirns. Jetzt inter
essierten nur minutiöse Informationen.
„Wir glauben dir auch so, daß es sich nicht um ein Besatzungsmitglied
handelt!“ rief er. „Aber wer könnte es sonst sein? Vielleicht eines der Tiere, die
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wir bei unserer letzten Expedition von dem Wrack übernommen haben?
Nein, nein, das könnte unmöglich auf dieses Deck gelangt sein ...“
„Das Wesen ist weg!“ unterbrach Schwatzmaul.
„Was heißt ,weg‘?“ fragte Brim. „Es bbbbbbbewegt sich also irgendwo auf
Deck 16?“
„Weg heißt weg“, beharrte Schwatzmaul. „Ich kann es nicht mehr wahr
nehmen, es ist verschwunden. So plötzlich, wie es aufgetaucht ist.“
„Was denn?“ staunte Harpo. „Es ist aus dem Nichts aufgetaucht und jetzt
wieder im Nichts verschwunden? Meinst du nicht auch, daß es wahrscheinli
cher ist, daß deine Wärmesensoren defekt sind?“
„Ausgeschlossen! Eine Vielzahl meiner Instrumente hat die Anwesenheit
des Wesens angezeigt.“
„Du mußt dich irren. Schließlich gibt es keine Raumgeister oder Raumge
spenster!“
„Da ist es wieder!“ sprudelte Schwatzmaul los. „Dieses Mal auf Deck 40. Es
bewegt sich in den Bereich einer Kamera! Verdammt – oh, Verzeihung! –, die
Kamera ist ausgefallen. Aber Moment, ich schalte schnell um.“
Sekundenlang herrschte auf dem großen Bildschirm ein Tohuwabohu aus
gezackten Farblinien. Aber dann, für den Bruchteil einer Sekunde, sahen die
Freunde in der Zentrale vor dem Hintergrund einer grauen Metallwand tat
sächlich eine Gestalt. Sie trug einen Raumanzug mit einem durchsichtigen
Helm. Man sah gleich, daß der Anzug nicht aus den Werkstätten der EUKA
LYPTUS kam, obwohl es funktional Parallelen geben mußte. Das Wesen hatte
etwa die Größe und Statur eines Menschen, soweit man das aus dieser Per
spektive beurteilen konnte. Und hinter dem durchsichtigen Helm war ein
menschenähnliches Gesicht zu erkennen ...
Aber alles ging viel zu schnell. Aus unerklärlichen Gründen fiel auch die
zweite Kamera aus, und wenig später meldete Schwatzmaul, daß der Fremde
abermals verschwunden war. Sie warteten gespannt auf sein nächstes Er
scheinen, aber er kehrte nicht zurück. Keine neue Meldung erfolgte.
„Wir werden die beiden Decks untersuchen“, sagte Harpo schließlich.
„Und Schwatzmaul wird uns Fotoabzüge von dem Fremden machen. Wir
kommen schon noch dahinter, was das zu bedeuten hat!“
Nachdem sich die Aufregung ein bißchen gelegt hatte, kam Alexander end
lich dazu, seinen Freund Harpo anzustupsen. „Wollte nur sagen, daß heute
nix spielen können Schach mit dir“, sagte er. „Hab’ Verabredung mit Lonzo.“
Das klang recht geheimnisvoll, aber Harpo gingen andere Dinge durch den
Kopf. „Gut“, sagte er abwesend. „Wir holen die Partie morgen nach.“
Alexander gab Anca ein Zeichen, und beide verschwanden aus der Zentra
le. Der Antigravlift brachte sie schnell an ihr Ziel. Sie wurden bereits von
Lonzo und Karlie Müllerchen erwartet.
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Lonzo hat Probleme
„Was willste nun eigentlich?“ erkundigte sich Karlie Müllerchen und beugte
sich aus seiner luftigen Höhe zu Lonzo hinab. „Entweder du legst Wert dar
auf, von Captain Kidd als knallharter und rostfreier Freibeuter anerkannt zu
werden. Gut, aber dann darfste keinen Raumanzug tragen, kannst dich mit
Freund Alexander nur durch die Vermittlung unseres Computers Schwatz
maul unterhalten ...“
„Brrrr“, machte Lonzo und ließ alle Tentakel gleichzeitig wie Peitschen in
der Luft schnalzen, „der versaut mir wieder alle Poengten!“
„Die was?“ fragte Anca kichernd.
„Großes Steuermann Lonzo meinen Dinger, wo machen Witze witzig:
Pöngten!“ platzte Alexander heraus. Man sah ihm an, daß er sich auf seine
Vokabelkenntnisse einiges zugute hielt. Und das durfte er auch, denn für den
bärenhaft aussehenden Jungen vom Planeten Nordpol waren die bisherigen
Lernerfolge trotz seiner teilweise drolligen Aussprache eine stramme Leis
tung.
Trotzdem konnte Anca sich nicht zurückhalten, als sie merkte, daß Alex
ander es ernst meinte, und kicherte hinter vorgehaltener Hand.
Karlie gab ihr einen kleinen Knuff, denn er mochte nicht, daß sich jemand
auf Kosten anderer amüsierte. Außerdem war er sauer, weil es dem cleveren
Lonzo wieder einmal gelungen war, seinen ernsthaften Vortrag zu un
terlaufen.
„Also“, fuhr er gedehnt fort, damit ihm die gebührende Aufmerksamkeit
zuteil wurde, „die zweite Möglichkeit ist, daß man dir einen Raumanzug
schneidert, nebst Helm und Funkgerät. Dann kannst du mit Alexander so viel
quatschen wie du lustig bist.“
„Die Schneider an Bord dieses Schiffes sind aber miserabel“, klagte Lonzo
verzweifelt und fuhr hochnäsig fort: „Außerdem bezweifle ich, daß sie dazu in
der Lage sind, ein ansprechendes Gewand für meinen Luxuskörper zu
entwerfen. Mein preisgekrönter Korpus kommt nur nackt richtig zur Geltung.
Ihn durch Kleidung zu verdecken, wäre eine nicht wiedergutzumachende Be
leidigung für mich!“
Dabei stolzierte er wie ein Mannequin auf und ab, drehte seinen me
tallenen Körper hin und her und versuchte das Schwingen seiner nicht vor
handenen Hüften durch ein halsbrecherisches Schlingern seiner ganzen, aus
Kugeln gefertigten Gestalt zu ersetzen. Gleichzeitig ließ er die Schutzblenden
seiner Sehschlitze zur Hälfte herab und warf seinen Freunden Kußhändchen
und wilde Blicke zu, die wohl eindrucksvoll wirken sollten.
Anca, Karlie und Alexander fielen einander lachend und prustend in die Ar
me. „Jetzt verstehe ich auch“, keuchte Karlie nach einer Weile, während er
sich gleichzeitig mit dem Handrücken die Lachtränen aus den Augen wisch
te, „weshalb du dir damals selbst das Teddybärenfell über die Ohren gezogen
hast: Lonzo ist ein Exhibitionist!“
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Während Anca erneut loskicherte, weil sie die Bedeutung dieses Wortes
verstand, erstarrte Alexander mitten in der Bewegung und richtete die Ohren
steil auf. „Ein Exhubi... Exhabu...?“ grollte er wißbegierig. Das nachfolgende:
„Wat is’ dat denn?“ hatte er zweifellos von Ollie gelernt.
„Ein Exhibitionist“, half Karlie stolz aus, „ist jemand, der seinen nackigen
Körper anderen Leuten zeigt und Spaß dabei hat.“
„Aha“, brummte Alexander. „Aber weshalb hat kleines Pummelchen jetzt
gekriegt dicke rote Backen?“
„Ja, äh ... das ist nämlich so ...“ stotterte Karlie, aber Anca fuhr ihm sofort in
die Rede: „Ha! Pummelchen!“ rief sie Alexander empört zu. „Du sollst mich
nicht Pummelchen nennen, du ... du ... du dicker Bär! Und außerdem heißt
das nicht Backen, sondern Wangen! Wangen! So, und damit du es genau
weißt: Wenn ich dir meine Backen zeigen würde – dann wäre ich ein Exhibi
tionist!“
Alexander schüttelte verwirrt den Kopf. Jetzt verstand er überhaupt nichts
mehr. Dabei hatte er doch nur darum gebeten, ihm ein Fremdwort und das
für ihn unglaubliche Phänomen der Hautrötung zu erklären. Au weia, die
Menschen mochte verstehen, wer wollte! Für einen wissensdurstigen Rotpelz
waren sie manchmal ein Buch mit sieben Siegeln.
Zu allem Überfluß ließ jetzt auch noch Lonzo ein meckerndes „Hähähähä“
los.
„Was ist denn hier los?“ rief plötzlich eine Stimme von der Tür her, die so
eben lautlos auseinandergefahren war, weil sich das Rad eines Rollstuhls in
die Lichtschranke geschoben hatte. Thunderclap Genius tauchte auf. Hinter
ihm leuchtete von weither Harpo Trumpffs grinsendes Gesicht.
„Wir versuchen gerade Lonzo klarzumachen, daß er nicht drum herum
kommt, einen Raumanzug anzuziehen, wenn er Alexander mit seinen Pi
ratenstorys draußen besoffen reden will“, erklärte Karlie. Und etwas verlegen:
„Um ehrlich zu sein, wir sind dabei ein bißchen vom Thema abgekommen.“
„Ein Raumanzug für Lonzo?“ meinte Harpo skeptisch, während er den Kör
per des Eisenmannes einer eingehenden Musterung unterzog. „Das dürfte
aber schwierig werden. Vor allem, was den Helm angeht. Wenn ich Lonzos
Knubbelkopf so aus der Nähe betrachte ...“
„Ha, Elender!“ dröhnte Lonzo los. „Das ist Piratenbeleidigung! Zieht die
Messer, Jungs! Mein herrliches Lockenköpfchen als Knubbelkopf zu bezeich
nen! Welch ein Frevel!“ Er ließ empört einen seiner Tentakel wie einen Hub
schrauberrotor über seinem Kopf wedeln.
„Und was wollt ihr draußen?“ warf Harpo rasch ein. „Etwa ‘ne Prise Vaku
um schnuppern?“
„Denkste!“ rief Alexander. „Wollen uns nachgucken, ob Haut von famoses
Raumschiff EUKALYPTUS hat nich’ Beulen und Löcher!“
„Hm“, machte Harpo. Das war ein vernünftiger Gedanke. Denn seit ihrem
letzten Abenteuer auf dem im All treibenden Schiffswrack war ihnen klarge
worden, daß auch die EUKALYPTUS einem ständigen Trommelfeuer von kos
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mischem Staub und Meteoriten ausgesetzt war. Das Wrack hatte an seiner
Oberfläche wie eine Kraterlandschaft ausgesehen.
Sicher war es richtig, die Außenhaut der EUKALYPTUS vorsorglich zu un
tersuchen.
„Aber sorgt nicht Schwatzmaul mit seinen Robotern dafür, daß eventuelle
Lecks sofort abgedichtet werden?“ wollte Thunderclap wissen.
„Pah, Roboter“, sagte Lonzo überheblich. „Diesem selbstgefälligen
Quatschautomaten liefern wir uns doch nicht aus! Und den Blechkameraden
erst recht nicht. Trau keinem Roboter mit mehr als dreißig Schrauben! Ein
altes Sprichwort“, fügte er hinzu.
„Du bist doch selber ...“ setzte Anca an, biß sich aber im allerletzten
Moment auf die Zunge. Wenn Lonzo etwas ignorierte, dann die Tatsache, daß
er ebenfalls ein Roboter war.
„Bei der nächsten Batterieaufladung gibt es für Lonzo als Strafe einhundert
Volt weniger!“ dröhnte es aus den Lautsprechern. Das war Schwatzmaul, der
sich anscheinend auf die Zehen getreten fühlte. Lonzo schwieg, sichtlich be
troffen.
„Das verstehe ich nicht“, grübelte Thunderclap vor sich hin. „Erstens sitzt
Lonzos Lautsprecher auf der Brust. Da würde die Mikrofonanlage eines
Astronautenhelms gar nichts nützen. Und zweitens: Wäre es nicht wirklich
einfacher, wenn Lonzos Funkanlage durch einen Modulator ergänzt würde?
Funken kann er ja sowieso. Und der Modulator XL430 kann die Funksymbo
le gleich in Worte umsetzen.“
„Thunderclap!“ jauchzte Karlie Müllerchen begeistert. „Du bist ein As! Daß
mir das nicht gleich eingefallen ist!“ Er schlug sich mit der flachen Hand
gegen die Stirn.
„Juchhu!“ quietschte Lonzo lauthals. „Thunderclap – du bist ein richtiger
Genius! Jetzt werde ich dich auch niemals mehr mit deinem richtigen Namen
rufen, Pitter Sause...“
Die letzte Silbe wurde von Thunderclaps lautem „Ruhe“Gebrüll sofort ver
schluckt. Natürlich war es sinnlos, den richtigen Namen, den er trug, noch
immer geheimzuhalten, denn mittlerweile kannte ihn selbst das kleinste
Mäuschen auf der EUKALYPTUS.
Ohne zu zögern machte sich Lonzo daran, Thunderclaps Vorschlag in die
Tat umzusetzen. Er brummelte zwar so etwas wie: „Wo ist der Narkosearzt?“
und: „Die Monteure haben immer so eklig kalte Finger!“, verschwand aber
schließlich im schiffseigenen Ersatzteillager. Innerhalb von zehn Minuten
löste ein anderer Roboter den auf Lonzos Rückseite angebrachten Deckel
einer Montageöffnung, verlötete den nur daumengroßen Modulator XL430
mit dem Funkaggregat und schloß den Deckel wieder. Quietschfidel kehrte
Lonzo zurück. Er schien sehr zufrieden zu sein.
„Stell dir vor, Harpo!“ jubelte er und führte einen Freudentanz auf. „Er hat
überhaupt nicht gebohrt!“
Alexander hatte die Zeit genutzt und war in seinen Raumanzug gestiegen.
Der war natürlich maßgeschneidert wie alle anderen, weil man sich sonst in
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ihm nicht bewegen konnte. Die Raumanzüge aus dem Spezialstoff Bodyskin
hatten ihnen bereits bei ihrem letzten Abenteuer mit dem geheimnisvollen
Wrack nützliche Dienste erwiesen.
Die beiden waren zweifellos ein lustiges Paar. Lonzo tänzelte auf seinen
schlanken Metallbeinen voran und schlenkerte wild mit seinen drei Tenta
keln, während Alexander behäbig hinterhertappte. Selbst unter Bodyskin
Anzug und Raumhelm ließ sich seine Bärennatur nicht ganz verbergen – ob
wohl man ja von seinem roten Pelz nur das feinhaarige Gesichtsfell hinter der
Plexiglaskugel erkennen konnte. Alexander trug selbstverständlich Magnet
schuhe, während Lonzo keine benötigte: Er konnte nach Belieben Teile sei
nes Körpers magnetisieren und sich so an jeder Metallfläche halten.
Die beiden Inspekteure winkten ihren Freunden noch einmal zu, dann
verschwanden sie im GleitbootHangar. Die riesige Halle wirkte unter den
blauweiße Lichtbündel auswerfenden Deckenstrahlern wie ein nackter
Schlund, eine Vorstufe zur Leere des Weltalls. Zumindest dann, wenn man sie
mit den warmen und gemütlich eingerichteten Räumen verglich, die sie ge
rade verlassen hatten.
Im Hintergrund ruhten die Gleitboote auf ihren Magnetankern. Sie waren
nur schemenhaft zu erkennen und hatten Ähnlichkeit mit den gewaltigen
Walfischen, die einst zu hunderttausenden die Meere der Erde bevölkert
hatten. Heute gab es auf der Erde nicht einen einzigen Wal mehr. Jene Tiere,
die den Fangunternehmen ausbeuterischer Fischereigesellschaften ent
gingen – die sich den Teufel darum scherten, daß sie Raubbau an der Natur
betrieben –, waren inzwischen längst eingegangen. An durchaus menschli
chen Krankheiten wie Krebs oder Asthma. Denn die Meere waren zu riesigen
ChemieKloaken geworden, und die verseuchte Luft war wie ein Pesthauch in
die Lungen der Meeressäugetiere gedrungen.
Alexander kam nicht von der Erde. Er hatte nie im Leben einen Wal gese
hen. Sein Volk, die Rotpelze lebte – wie die Clans der Raufbolde und all die
anderen Lebensformen des Planeten Nordpol – in Einklang mit der Natur.
Aber auch er fühlte beim Anblick der Gleitboote einen leichten Schauer über
seinen Rücken jagen. Die fernen Schemen erschienen ihm wie fremde Götter
einer technischen Kultur, die er noch immer nicht ganz verstehen konnte.
Das Bewundern und Verwundertsein hielten sich bei ihm die Waage. Er hatte
längst begriffen, daß Technik im Grunde eine großartige Sache war – aber nur
dann, wenn die soziale Entwicklung garantierte, daß sie nicht gegen die
Menschheit, sondern für sie eingesetzt wurde.
„Tür braucht lange“, knurrte Alexander beim Beobachten der langsam zu
fahrenden Luftschleuse.
„Dafür ist dieser garstige Chefcomputer Schwatzmaul verantwortlich“,
knurrte Lonzo piratenhaft zurück. „Der macht sich einen Spaß daraus, uns
hier in der Kälte stehenzulassen. Wenn ich nicht diese Bärenruhe, sondern
das Temperament unseres tapferen Captain Kidd besäße, würde ich ...“
Dann öffnete sich vor ihnen ein Spalt und wurde schnell zu einem klaf
fenden Maul. Sie stapften hinaus in das nachtschwarze All.
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Ein seltsamer Komet
„Dort eure Heimat?“ flüsterte Alexander ergriffen und deutete auf ein grell
weißes Band, zu dem sich unendlich ferne Sterne gruppiert hatten.
„Das ist eine andere Galaxis“, erläuterte Lonzo. „Nein, nein, Captain Kidds
Welt, von der auch wir wackeren Fahrensleute stammen, liegt nicht so weit
entfernt. Aber immer noch derart weit, daß sie für uns unerreichbar ist.“
Alexander betrachtete nachdenklich einen der helleren Sterne. Er hatte ihn
schon oft von der Zentrale der EUKALYPTUS aus beobachtet; aber von hier
aus war das doch ein ganz anderes Gefühl. Das war die Sonne, um die seine
Heimatwelt Nordpol kreiste. Alexander unterdrückte den Impuls zu winken.
Eine alberne Idee. Es mochte schon sein, daß einer aus seiner Sippe in der
Nacht zum Himmel hinaufsah und sich fragte, wie es dem kleinen Alexander
und seinen Menschenfreunden wohl ergangen war. Aber so scharfe Augen
besaß auch auf Nordpol niemand, um ihn hier, Milliarden und aber Milli
arden von Kilometern entfernt, entdecken zu können. Nicht einmal mit dem
starken Teleskop in der Station des dortigen Galaktischen Mediziners war das
möglich.
Ohne Eile spazierten Lonzo und Alexander weiter. Der metallene Leib der
EUKALYPTUS wirkte aus dieser Perspektive so gigantisch, daß sich Alexander
immer wieder ins Gedächtnis zurückrufen mußte, daß dies die Außenhaut
eines Raumschiffes war. Eher konnte man annehmen, sich auf der Oberfläche
eines aus reinem Eisen bestehenden Metallmondes zu befinden: In der einen
Richtung krümmte sich die Oberfläche sanft dem All zu, der Horizont ent
schwand den Blicken. Sah man dagegen in die andere Richtung, so wirkte die
Raumschiffhülle wie eine riesige Talebene, die sich weiträumig zwischen
zwei mächtigen Wällen dahinzog.
Dieser Eindruck entsprach der äußeren Form der EUKALYPTUS, die
Ähnlichkeit mit einer Hantel besaß. Jemand hatte das Schiff sogar mit einem
Knochen verglichen und das gar nicht zu Unrecht: Ein mächtiger Zylinder
wurde von je einer riesigen Kugel abgeschlossen.
Dies alles zu wissen und es dann aus eigener Anschauung zu sehen, waren
durchaus verschiedene Dinge. Das stellte Alexander immer wieder fest, wenn
er sich vom Bordgehirn mit dem seltsamen Namen Schwatzmaul unterrich
ten ließ. Auf den dreidimensionalen Darstellungen erschien das Sternenschiff
wie ein Körper überschaubarer Größe, nicht länger als ein paar Meter. Aber
diese Aufnahmen waren aus einer Entfernung von vielen Kilometern ge
macht worden. So direkt auf der Außenhaut der EUKALYPTUS haftend, fühlte
sich Alexander eher wie eine Ameise, die an einem Fernsehturm hochkrab
belt. Es war sehr beeindruckend.
„Alles klar bei euch draußen?“ fragte Thunderclap über Funk.
„Aye, aye, Käpt’n“, erwiderte Lonzo. „Windstärke null, Wassertiefe unend
lich. Schiff macht stramme Fahrt. Nur die vielen Leuchttürme stören die
Sicht etwas. Ahoi!“
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