Table Of ContentErziehungspsychologie
Erziehungs-
Psychologie
Begegnung von Person zu Person
Prof. Dr. Reinhard Tausch
und Prof. Dr. Anne-Marie Tausch †
11., korrigierte Auflage
Hogrefe 9 Verlag für Psychologie
Göttingen . Bern � Toronto � Seattle
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Tausch, Reinhard:
Erziehungspsychologie : Begegnung von Person zu Person / von
Reinhard Tausch und Anne-Marie Tausch. - 11., korrigierte Aufl. -
Göttingen ; Bern ; Toronto ; Seattle : Hogrefe, Verl. für Psychologie,
1998
ISBN 3-8017-1000-9
0 by Hogrefe-Verlag, Göttingen � Bern . Toronto � Seattle
Rohnsweg 25, D-37085 Göttingen
1963, 1965, 1968, 1969, 1970, 1971, 1973, 1977, 1979, 1991 und 1998
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Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, 87435 Kempten/Allgäu
Printed in Germany
Auf säurefreiem Papier gedruckt
ISBN 3-8017-1000-9
Einfühlendes Verstehen -
ein förderliches Verhalten
In diesem Kapitel haben wir ausführlich dargelegt, wie das einfühlende Ver-
stehen erfolgt. Der Erwachsene bemüht sich, die seelische Welt des Jugendli-
chen zu verstehen: Was fühlt sie/er? In welcher Bedeutung sieht er sich selbst,
seine Umwelt, mich, die Situation? Was macht ihr Schwierigkeiten?
Gesprächsausschnitte geben eine konkrete Veranschaulichung. Dieses einfüh-
lende Verstehen ist deutlich unterschiedlich zu einem bewertenden Diagnosti-
zieren oder zu einem analysierenden Erklären.
Warum ist einfühlendes Verstehen so förderlich? c> Die Handlungen und Ak-
tivitäten der Erwachsenen sind dann der seelischen Welt Jugendlicher ange-
messener. D Wenn Erwachsene das, was sie von der Erlebniswelt Jugendlicher
verstanden haben, ihnen im Gespräch mitteilen, dann sind diese Gespräche
sehr förderlich, z. B. für die Selbstklärung.
Vielen fällt es zunächst schwer, diese Haltung anderen gegenüber zu leben.
Durch Techniken oder schematische Anwendungen fühlt sich der andere nicht
wirklich tief verstanden. Einfühlendes Verstehen erfordert ein andauerndes in-
tensives Bemühen, ein Zentriert-Sein in der seelischen Welt anderer.
Die innere Erlebniswelt von Menschen. Jede Person lebt in ihrer eigenen
inneren Erlebniswelt. Sie nimmt Menschen, Gegenstände und Ereignisse in einer
nur ihr eigenen einzigartigen Weise wahr, mit nur von ihr empfundenen Bedeu-
tungen. Jede Person lebt i h r Fühlen und i h r e Erfahrungen. Das Zentrum dieser
inneren Welt ist sie selbst. Diese Erlebniswelt ist für sie selbst ,,Realität“. Auf
gleiche Reize reagieren Menschen häufig unterschiedlich. Sie nehmen unterschiedliche
Bedeutungen wahr und fühlen und handeln entsprechend unterschiedlich darauf.
Eine Person lebt danach, wie sie ihre Umwelt und sich selbst wahrnimmt. ,,Der
Organismus reagiert auf das Feld, das er erfährt und wahrnimmt. Dieses Wahr-
nehmungsfeld ist für das Individuum ,,Realität“. ,,Der beste Ausgangspunkt zum
Verständnis des Verhaltens ist das innere Bezugssystem des Individuums selbst“
(Rogers, 1973a, S. 427). Diese innere Erlebniswelt mit ihren gefühlten Bedeutungen
und Erfahrungen ist nur der Person selbst bewußt. Nur sie selbst kann sagen, was
sie fühlt, erlebt und wahrnimmt.
Häufig ist uns nicht gegenwärtig, daß jede Person in der nur ihr eigenen inneren
Erlebniswelt lebt und diese für sie ,,Realität“ ist. Denn bei vielen Gegenständen,
etwa beim Wahrnehmen von Autos auf den Straßen oder von Gegenständen im
Zimmer stimmen die Gegenstandswahrnehmungen anderer Personen mit den unse-
ren überein. Bemühen wir uns aber darum, zu erfassen, mit welchen gefühlten
Bedeutungen eine Person einen Gegenstand erlebt, ob er ihr gefällt, welchen Er-
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Einfühlendes Verstehen
lebniswert er für sie besitzt, welches Fühlen in ihr durch ihn ausgelöst wird, dann
stellen wir fest: Unsere Erlebniswelten sind unterschiedlich. Häufig meinen wir je-
doch fälschlicherweise, weil wir die Anzahl von Stühlen in einem Raum in gleicher
Weise wie andere wahrnehmen, daß wir auch in unseren wahrgenommenen Bedeu-
tungen und gefühlten Erfahrungen eine gemeinsame ,,Realität“ mit anderen hät-
ten. Aber das ist ein schwerwiegender Irrtum.
Einfühlendes Verstehen der inneren Welt des anderen. Wie können wir
diese innere Welt des anderen erreichen, etwas von ihr erfahren, an ihr teilhaben,
an ihr Anteil nehmen? Ferner: Wie können wir anderen die Erfahrung ermögli-
chen, daß wir sie in ihrer inneren Erlebniswelt verstehen, daß sie darin nicht alleine
sind? Und: Wie können wir diese innere Erlebniswelt des anderen fördern? Wie
können wir ihm helfen, seine Welt klarer, überschaubarer zu sehen, wenn er dies
wünscht? Wie können wir ihm bei der Änderung seines Wahrnehmungsfeldes hel-
fen, wenn er sich dadurch beeinträchtigt fühlt? Wie können wir seine innere Welt
bereichern und damit gleichzeitig auch unsere eigene?
Carl Rogers hat vor drei Jahrzehnten in genialer Weise die große Bedeutung des
Verstehens der inneren Welt des anderen erkannt. Er hat Möglichkeiten entwickelt,
ihrer teilhaftig zu werden und sie zu fördern. Er hat dies in zahlreichen Unter-
suchungen geprüft (Rogers, 1942; 1951). Dieser Vorgang des einfühlenden nicht-
wertenden Verstehens eines anderen ist folgender Art:
Eine Person sucht die innere Erlebniswelt des anderen samt seinem Fühlen und
persönlichen Bedeutungen, die dieser im jeweiligen Moment erlebt oder die hinter
seinen Äußerungen stehen, zu spüren, wahrzunehmen und sich vorzustellen. Und
zwar von der ,,Innenseite“ des anderen her, so wie dieser seine innere Welt erlebt.
Es ist äußerlich gesehen ein sensitives Hinhören auf die Äußerungen des anderen.
Darüber hinaus ist es ein intensives aktives Bemühen, sich in den anderen einzu-
fühlen: Was bedeuten für ihn seine Äußerungen? Was fühlt er dabei? Welche
persönliche Meinung drückt er damit aus ? Was sagen die Äußerungen über sein
Selbst? Was ist die ,,tiefere Botschaft“ seiner Äußerungen? Es ist ein sensibles,
einfühlendes, vorurteilsfreies, nicht-wertendes und genaues Hören der inneren
Welt des anderen. Ein Bemühen, gleichsam unter die Haut des anderen zu schlüp-
fen, in seinen Schuhen ein paar Schritte in seiner Welt zu gehen. Ein Bemühen,
seiner inneren Welt teilhaftig zu werden. Ein Bemühen, die leisen Klopfzeichen
des anderen zu hören, etwa seinen kaum wahrnehmbaren Schrei nach Anteilnahme,
Zuwendung, Zärtlichkeit und nach Anerkennung seiner kaum ausgesprochenen
Bedürfnisse. Eine in dieser Form verstehende Person hört, welche Bedeutung die
berichteten Erfahrungen und Erlebnisse für das Selbst, für die Person des anderen
haben, was sie für sein Fühlen bedeuten. Es ist ein nuanciertes, einfühlendes Wahr-
nehmen oder Vorstellen der inneren Welt eines anderen; dessen, was er tief im
Innern lebt, was er empfindet, fühlt, wahrnimmt, denkt. Ein einfaches Beispiel:
Jemand berichtet uns, daß er einige Stunden in der Stadt war, in der seine ver-
storbene Mutter gelebt hat. Wir bemühen uns, anhand seiner Äußerungen zu ver-
stehen und uns zu vergegenwärtigen, mit welchen Bedeutungen, mit welchem Füh-
len, mit welchen anklingenden Erinnerungen er die Gebäude und Straßen erlebte,
wie sie auf ihn wirkten, was sie ihm bedeuteten.
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Einfühlendes Verstehen
Was tun mit dem so Verstandenen? Wenn wir den anderen in seiner inneren
Welt hören und zu verstehen suchen, so erlebt er uns als einen geduldigen, ihn
akzeptierenden Partner. Er ist dankbar und häufig erleichtert, daß einer ihn hört
und ihm ein Sprechen über seine innere Welt ermöglicht. Manchmal mag er sich
schon allein aufgrund dieses Aussprechens hinreichend erleichtert fühlen und wird
zu einer gewissen Klärung seines inneren Erlebens und Fühlens kommen.
Es gibt jedoch zwei entscheidende Möglichkeiten, den anderen hierbei bedeutsam
zu fördern: 1. Wir teilen dem anderen im Gespräch jeweils das mit, was wir von
seiner inneren Welt verstanden haben, was die Äußerungen für sein Selbst und sein
Fühlen bedeuten. Geschieht dieses in einer konkreten, einfach verständlichen, erleb-
nisnahen, nicht-wertenden, akzeptierenden und anteilnehmend-sorgenden echten
Form, so werden folgende Vorgänge beim anderen ausgelöst: Der andere fühlt
sich in seiner inneren Welt tief verstanden, fühlt sich nicht alleine gelassen, ver-
kannt oder vergessen. Seine Selbstexploration, sein Bemühen, seine innere Welt
selbst zu verstehen und zu klären, wird erheblich gefördert. Wir selbst werden
bereichert durch die tiefen Einblickte in die seelische Landschaft des anderen. 2. Bei
einfühlendem Verstehen der inneren Welt des anderen und bei gleichzeitiger Ach-
tung-Anteilnahme sowie Echtheit-Offensein für unser eigenes Erleben werden
unsere Maßnahmen und unser Verhalten der inneren Welt des anderen angemessen
sein, auf sie Rücksicht nehmen, sie fördern und nicht beeinträchtigen. Wir ha n -
d e l n dann mehr entsprechend der inneren Welt des anderen. Wir sind dann
in unseren Äußerungen u n d in unseren Handlungen personenzentriert, zentriert
in der inneren Welt des anderen.
Was einfühlendes Verstehen n i c h t ist: D Keine oberflächlichen floskelhaften
Äußerungen wie ,,Ich verstehe, was bei Dir falsch ist.“ ,,Ich verstehe, was Dich so
handeln läßt.“ ,,Ich verstehe schon, was Du meinst, aber. . . - ,,Ich habe so etwas
Ähnliches erlebt wie Du, aber ich habe das anders gelöst.“ D Es ist kein Analysie-
ren, Diagnostizieren, Erklären und intellektuelles Interpretieren der Erlebniswelt
oder des Verhaltens des anderen. D Es ist kein Bewerten der inneren Erlebniswelt
des anderen, keine inhaltliche Beeinflussung seines Verhaltens und Denkens sowie
keine geheime manipulative Änderung. Sondern: Eine Person bemüht sich, heraus-
zuhören, wie die Erlebniswelt des anderen ist, wie er fühlt, wie er wahrnimmt.
Sie sucht dies aus Äußerungen und Handlungen des anderen zu schließen. Es ist ein
akzeptierendes, urteilsfreies, nicht-wertendes Einfühlen in die innere Welt des
anderen. D Einfühlendes nicht-wertendes Verstehen ist auch kein ,,Verständnis”,
wie es häufig von Lehrern, Schiilern oder Laien aufgefaßt wird (A. Tausch, 1963),
charakterisiert durch Güte, Freundlichkeit, durch Fehlen von Strenge, von Kritik
und von Vorurteil. Dieses ,,Verständnis“ hat nur folgendes mit einfühlendem
Verstehen gemeinsam: Fehlende Kritik, fehlende Bedrohung sowie Anteilnahme.
Beim einfühlenden nicht-wertenden Verstehen ist jedoch entscheidend: Das ein-
fühlende Heraushören und Verstehen dessen, was die geäußerten Erfahrungen
eines Menschen für sein Selbst bedeuten, wie seine innere Welt aussieht. D Ein-
fühlendes Verstehen ist kein Pseudo-Verstehen, kein Heucheln von Interesse und
Anteilnahme. D Es ist nicht Passivität oder ein schweigendes Anhören des anderen
ohne eigenes Berührtsein und anteilnehmende Aktivität. Es ist im Gegenteil ein
Vorgang von intensivem Bemühtsein um den anderen, der den Helfer auch oft
tief beeinflußt.
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Einfühlendes Verstehen
Überblicksskala über einfühlendes nicht-wertendes Verstehen der inneren Welt
des anderen durch eine Person, etwa in Schulen, Familien, Kindergärten, Hoch-
schulen oder Betrieben. Mit dieser Skala kann das Ausmaß des einfühlenden
nicht-wertenden Verstehens einer Person gegenüber einem anderen eingeschätzt
werden.
Eine Person versteht einfühlend und nicht-wertend die innere Welt
eines anderen und läßt ihn das erfahren
Kein Vollständiges
einfühlendes Verstehen einfühlendes Verstehen
. eine Person geht auf die Äußerun- . eine Person erfaßt vollständig die
gen des anderen nicht ein vom anderen geäußerten gefühls-
mäßigen Erlebnisinhalte und gefühl-
. sie geht nicht auf die vom anderen
ten Bedeutungen
ausgedrückten oder hinter seinem
Verhalten stehenden gefühlsmäßigen � sie wird gewahr, was die Äußerun-
Erlebnisinhalte ein gen oder das Verha l ten für das
Selbst des anderen bedeuten
� sie versteht den anderen deutlich
anders, als dieser sich selbst sieht . sie versteht den anderen so, wie
dieser sich im Augenblick selbst sieht
. sie geht von einem vorgefaßten Be-
zugspunkt aus, der den des anderen . sie teilt dem anderen das mit, was
völlig ausschließt sie von seiner inneren Welt verstan-
den hat
. sie zeigt nicht einmal, daß ihr die
vom anderen offen ausgedrückten . sie hilft dem anderen, die von ihm
Oberflächengefühle bewußt sind gefühlte Bedeutung dessen zu sehen,
was er geäußert hat
. sie ist entfernt von dem, was der
andere fühlt, denkt und sagt . sie ist dem anderen in dem nahe,
was dieser fühlt, denkt und sagt
. sie bemüht sich nicht, die Welt mit
den Augen des anderen zu sehen � sie zeigt in ihren Äußerungen und
Verhalten das Ausmaß an, inwieweit
. sie befaßt sich nicht mit den vom
sie die Welt des anderen mit seinen
anderen geäußerten gefühlsmäßigen
Augen sieht
Erlebnissen oder schmälert diese, in-
dem sie bedeutsam geringere gefühls- � sie drückt die vom anderen gefühlten
mäßige Erlebnisinhalte des anderen Inhalte und Bedeutungen in tiefgrei-
anspricht fenderer Weise aus als dieser es
selbst konnte
. ihre Handlungen und Maßnahmen
sind nicht der inneren Welt des an- � ihre Handlungen und Maßnahmen
deren angemessen, sie gehen an dem sind dem persönlichen Erleben des
Fühlen und den inneren Bedürfnis- anderen angemessen
sen des anderen vorbei
4 +
Kein V o l l s t ä n d i g e s *
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Verstehen Verstehen
*) Stufe 1 = kein einfühlendes nicht-wertendes Verstehen der inneren Welt des anderen
Stufe 3 = mäßiges einfühlendes nicht-wertendes Verstehen
Stufe 5 = vollständiges einfühlendes nicht-wertendes Verstehen
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Einfühlendes Verstehen
Das einfühlende Verstehen einer Person gegenüber einem anderen kann sich
verschieden ausdrücken: In Worten, im Verhalten, in Handlungen oder in Maß-
nahmen. Wir sehen es als günstig an, wenn sich sensibles Verstehen nicht nur in
Worten ausdrückt.
Worte: Eine Person äußert das, was sie von der inneren Welt des anderen verstanden
hat. Inhalt, Stimme und Sprechweise zeigen an, daß die Person bei dem Erleben des ande-
ren ist. Ihre Äußerungen sind dem gefühlten Erleben des anderen angemessen.
Maßnahmen: Die von einer Person getroffenen Maßnahmen entspringen einfühlendem
Verstehen der inneren Welt des anderen oder stehen in Übereinstimmung damit. So sagt
etwa ein Lehrer zu einem Schüler, der äußerte, daß für ihn die Hausaufgaben zu schwierig
seien: ,,Du denkst, Du schaffst sie nicht?! Komm bitte nach der Stunde zu mir, damit ich
Dir helfen kann!“ Oder er sagt: ,,Hier ist ein Buch, darin ist ganz einfach beschrieben, wie
Du dies rechnen kannst.“ Oder er sagt zu der Klasse: ,,Wer kann mit Klaus heute zusam-
men die Hausaufgaben machen?“ Der Lehrer läßt eine leistungsschwache Schülerin nicht
laut vor der Klasse vorlesen. Er hat sich einfühlend vergegenwärtigt, wie unangenehm das
für sie ist, wie ungünstig für ihre Selbstachtung. Als ein Schüler beim Vorrechnen einer
Rechenaufgabe an der Tafel in Schwierigkeiten kommt, sagt der Lehrer aufgrund seines
einfühlenden Verstehens der inneren Welt des Schülers: ,,Wenn Du möchtest, kannst Du
Dich gerne hinsetzen.“
Verhalten: Ein Lehrer hat sich vergegenwärtigt, daß sich die Schüler in seinem Unter-
richt langweilen und unruhig sind, weil der Unterrichtsstoff für sie zu schwer verständlich
ist. Er ändert den Plan seiner Unterrichtsgestaltung und sagt etwa: ,,Ich will es Euch noch
einmal einfacher erklären und mir mehr Mühe geben dabei.“ Der Lehrer schafft also er-
leichternde Bedingungen. Sie folgen daraus, daß er sich in die Erfahrungswelt seiner Schü-
ler eingefühlt hat.
Gestik und Mimik: Ein Lehrer umarmt tröstend ein Kind, das kurz zuvor erfahren hat,
daß seine Mutter verunglückt ist. Der Lehrer hört einem Kind intensiv zu, etwa mit Blik-
ken der Anteilnahme oder Ermutigung sowie mit Kopfnicken, während das Kind von
seinen Schwierigkeiten erzählt.
Einfühlendes nicht-wertendes Verstehen gemäß Beschreibungen von Carl
Rogers. Zur weiteren Verdeutlichung, was einfühlendes Verstehen ist, was dabei
in einer Person vor sich geht, im folgenden einige charakteristische Beschreibungen
aus den Büchern von Carl Rogers (1942, 1951):
D Der Helfer (Erzieher, Psychotherapeut, Lehrer) versteht, wie der andere sich augenblick-
lich fühlt, wie er sich erlebt und wie er sich selbst wahrnimmt.
D Der Helfer versteht, welche Bedeutung die Gefühle, Gedanken und Erfahrungen, die
der andere äußert und erforscht, für diesen haben.
D Der Helfer nimmt das Selbst des anderen wahr, wie es der andere kennt, und akzep-
tiert es.
D Der Helfer sucht ,,unter die Haut“ des anderen zu gelangen, sich ,,in seine Schuhe zu
stellen”.
D Der Helfer sucht sich in den anderen hineinzuversetzen und die von ihm zum Ausdruck
gebrachten Einstellungen und jede Nuance der Änderung zu erfassen.
D Der Helfer sucht das Erlebnis- und Wahrnehmungsfeld so lebhaft und genau mitsamt
seinen Bedeutungen für den anderen zu erfassen, wie er es vom anderen erfahren hat und
wie dieser bereit ist, es mitzuteilen.
D Der Helfer erfaßt das innere Bezugssystem des anderen so vollständig wie möglich. Er
versetzt sich in das Bezugssystem des anderen hinein. Er sucht sich die Einstellung des an-
deren vollständig zu eigen zu machen.
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Einfühlendes Verstehen
D Der Helfer zeigt durch seine Äußerungen das Ausmaß an, inwieweit er mit den Augen
des anderen sieht.
D Der Helfer hilft dem anderen zu klären und zu verstehen und die Bedeutung dessen
zu sehen, was dieser ausgedrückt hat und was die Äußerungen, Erfahrungen und Erlebnisse
für diesen bedeuten.
D Der Helfer läßt den Ort der Bewertung und Wertefindung bei dem anderen. Er will
nicht, daß der andere sich ihm anpaßt.
Die Skala einfühlendes nicht-wertendes Verstehen der inneren Welt des
anderen von Carkhuff (1969, II, S. 315) wurde häufig in der Psychotherapiefor-
schung verwendet. Deutliches einfühlendes Verstehen der inneren Welt des Klien-
ten durch den Helfer (ab Stufe 3.5) hing zusammen mit deutlicher Auseinander-
setzung des Klienten mit sich selbst (Selbstexploration) sowie mit günstigen Ände-
rungen am Ende der Psychotherapie. Die Skala ist auch zur Erfassung des einfüh-
lenden Verstehens in anderen zwischenmenschlichen Beziehungen geeignet.
Stufe 1: Eine Person (Helfer, Psychotherapeut, Lehrer, Eltern) befaßt sich in ihren
Äußerungen entweder nicht mit den sprachlichen und nicht-sprachlichen Äußerungen des
anderen (Kind, Jugendlicher, Klient) oder schmälert diese deutlich, indem sie bedeutsam
weniger gefühlsmäßige Erlebnisinhalte äußert als es der andere selbst tut. Die Person zeigt
nicht einmal, daß ihr die offen ausgedrückten Oberflächengefühle des anderen bewußt sind.
Sie mag gelangweilt oder uninteressiert sein, oder sie geht von einem vorgefaßten Bezugs-
punkt aus, der den des anderen völlig ausschließt.
Stufe 2: Eine Person geht zwar auf die vom anderen geäußerten Gefühlsinhalte ein,
aber sie läßt bemerkenswerte Gefühle, Erlebnisse und Bedeutungen außer acht, die der
andere mitteilt. Die Person mag sich der augenscheinlichen Oberflächengefühle des anderen
bewußt sein. Aber ihre Äußerungen setzen das gefühlsmäßige Niveau herab und verzerren
die Bedeutung. Die Person mag ihre eigenen Vorstellungen mitteilen, die jedoch nicht mit
dem übereinstimmen, was der andere äußert.
Stufe 3: Die Äußerungen, mit denen eine Person auf die vom anderen geäußerten Ge-
fühlsinhalte eingeht, sind im wesentlichen austauschbar mit den Äußerungen des anderen.
Sie drücken im wesentlichen dieselben Affekte und Bedeutungen aus. Die Person mag mit
treffendem Verständnis auf die Oberflächengefühle des anderen eingehen, aber sie geht
nicht auf das tiefere Fühlen ein oder mißversteht dies.
Stufe 4: Die Äußerungen einer Person tragen sichtbar zu dem bei, was der andere sagt,
indem sie die gefühlsmäßigen Erlebnisinhalte tiefer ausdrückt, als es der andere selbst
konnte. Die Person teilt ihr Verständnis der Äußerungen des anderen auf einem gefühls-
mäßig tiefergehenden Niveau mit und befähigt damit den anderen, sein Fühlen zu erfah-
ren und/oder auszudrücken, wie er es vorher nicht ausdrücken konnte.
Stufe 5: Die Äußerungen einer Person bereichern bedeutsam das Fühlen und die Bedeu-
tung der Äußerungen des anderen, indem sie die gefühlten Inhalte tiefergehend ausdrük-
ken als es der andere selbst konnte oder indem sie im Falle fortschreitend tiefer Selbstex-
ploration des anderen vollständig mit ihm gehen in dessen tiefsten Augenblicken. Eine
Person geht mit Genauigkeit auf alle tieferen sowie oberflächlicheren Gefühle des anderen
ein. Sie ist ,,zusammen“ mit dem anderen oder ,,auf seiner Wellenlänge“. Die Person und
der andere können dazu übergehen, bisher unerforschte Bereiche seiner persönlichen Exi-
stenz zu erforschen. Die Äußerungen der Person erfolgen mit voller Bewußtheit, wer der
andere ist, und mit umfassendem, genauem, tiefgreifendem Verständnis seiner tiefsten Ge-
fühle und Erlebnisinhalte.
Die folgende Skala einfühlendes Verstehen der inneren Welt des Kindes ist
eine etwas geänderte, vereinfachte Carkhuff-Skala. Sie wurde in mehreren Unter-
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Einfühlendes Verstehen
suchungen verwendet (A. Tausch u. a., 1976; Pixa-Kettner u. a., 1976). Einfühlen-
des Vers tehen der inneren Wel t von Kindern durch psychologische Helfer oder
Kindergärtnerinnen in psychotherapeutischen Einzel- und Gruppengesprächen oder
in alltäglichen Gesprächssituationen in Kindergärten hing zusammen mit größerer
Se lbs texplora t ion der Kindergar ten- und Schulk inder . Im folgenden die Skala ,
verdeutlicht durch Ein-Satz-Gespräche zwischen Kind und Helfer:
Stufe 1: Der Helfer geht in seinen Äußerungen nicht auf die vom Kind ausgedrückten
Gefühlsinhalte ein, auch nicht auf die vom Kind vorgebrachten äußeren Sachverhalte. -
Beispiel: Kind: ,,Wenn der Lehrer mich nach vorne ruft, dann fange ich schon an zu zit-
tern.” Helfer: ,,Das ist doch Unsinn, deswegen brauchst Du doch nicht gleich zu zittern!“
Stufe 2: Der Helfer geht kaum auf die vom Kind ausgedrückten Gefühlsinhalte ein. Er
äußert sich jedoch über irgendwelche vom Kind vorgebrachten äußeren Sachverhalte. -
Kind: ,,Mit der Ute vertrage ich mich gar nicht, weil sie immer so angibt.“ Helfer: ,,Ute
ist Deine Freundin?!“
Stufe 3: Der Helfer geht auf einen Teil der vom Kind ausgedrückten Gefühlsinhalte ein.
Er geht jedoch auf ein dem Kind nicht wichtiges Gefühl ein, auf welches das Kind nicht
das Hauptgewicht legt. - Kind: ,,Gestern mußte ich Strafarbeiten machen, obwohl ich
überhaupt nichts getan habe. Das finde ich so gemein!“ Helfer: ,,Das ärgert Dich, wenn Du
Strafarbeiten machen mußt?!“
Stufe 4: Der Helfer geht auf einen überwiegenden Teil der vom Kind geäußerten ge-
fühlsmäßigen Erlebnisinhalte ein. Er drückt ähnliche Gefühlsinhalte aus wie das Kind. Er
läßt nichts aus, fügt nichts oder nur weniges hinzu. Er erfaßt dabei einen großen Teil der
gefühlsmäßigen Erlebnisinhalte des Kindes, aber nicht alle vielfältigen Erlebnisinhalte, ins-
besondere nicht, was diese vom Kind geäußerten Erlebnisinhalte und Erfahrungen für sein
Selbst bedeuten. - Kind: ,,Mein Bruder hat es besser, wenn der etwas ausfrißt, dann sagen
meine Eltern nie etwas.“ Helfer: ,,Du fühlst Dich da benachteiligt von Deinen Eltern?!“
Stufe 5: Der Helfer erfaßt vollständig die vom Kind geäußerten gefühlsmäßigen Erleb-
nisinhalte. Auch bei äußeren Sachverhalten des Kindes äußert er sich über die für das Kind
möglicherweise für sein Selbst damit verbundenen Gefühle, Erlebnisinhalte und persön-
lichen Erfahrungen. - Kind: ,,Manchmal kann ich morgens gar nichts essen, wenn wir ‘ne
Klassenarbeit schreiben.“ Helfer: ,,Du bist da schon vorher sehr aufgeregt, Du spürst das
in Deinem Magen?!“
Skala für das Verstehen der Bedeutung von Erfahrungen und Erlebnissen
der Schüler durch den Lehrer (Aspy, 1972). Deutliches Verstehen (ab Stufe 3.5),
fes tges te l l t anhand von Tonaufnahmen des Unter r ich ts , s tand in Zusammenhang
z .B. mi t der Güte der kogni t iven Prozesse der Schüler in Unter r ich tss tunden .
Diese Skala ist recht einfach und elementar. Vielleicht aber ermöglicht sie Lehrern
einen ersten Zugang zum einfühlenden nicht-wertenden Verstehen der Erfahrungs-
welt ihrer Schüler.
Stufe 1: Weder die Stimme-Sprechweise noch die Worte des Lehrers drücken irgend-
welche Gefühle der Schüler aus, und/oder der Lehrer reagiert unangemessen auf das
Schülererleben.
Stufe 2: Die Stimme-Sprechweise des Lehrers drückt andeutungsweise Gefühle der
Schüler aus, die jedoch dem Schülererleben nur in etwa angemessen sind. Der Lehrer drückt
diese Gefühle nicht in Worten aus.
Stufe 3: Die Stimme-Sprechweise des Lehrers drückt Gefühle der Schüler aus, die ihrem
Erleben ziemlich angemessen sind. Er ist ,bei“ seinen Schülern. Er drückt diese Gefühle
jedoch nicht in Worten aus.
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