Table Of ContentSchriften aus dem Berliner
Medizinhistorischen Museum
Band 2
Herausgegeben von
Thomas Schnalke
Gottfried Bogusch Renate Graf Thomas Schnalke
Auf Leben und Tod
Beitrage zur Diskussion
urn die Ausstellung
.Korperwelten'
Mit 62 Abbildungen
ISBN 978-3-7985-1424-9 ISBN 978-3-7985-1961-9 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-7985-1961-9
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detail
lierte bibliografische Daten sind im Internet iiber http://dnb.ddb.de abrufbar.
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschiitzt. Die dadurch begriindeten Rechte, insbesondere die der
Ubersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funk
sendung, der Mikroverftlmung oder der Vervielfaltigung auf anderen Wegen und der Speicherung in
Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Ver
vielfaltigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen
der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom
9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulassig. Sie ist grundsatzlich vergiitungspflich
tig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes.
http://www.steinkopff.springer.de
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2003
Urspriinglich erschienen bei Steinkopff Verlag, Darmstadt, 2003
Gesamtherstellung: druckerei justus kuch GmbH, Niirnberg
Umschlaggestaltung: Erich Kirchner, Heide1berg
SPIN 10931288 -Gedruckt auf saurefreiem Papier.
Inhalt
.Korperweltcn' und kein Ende
Zur Einfuhrung 1
THOMAS SCHNALKE
Demokratisierte Korperwelten
Zur Geschichte der veroffentlichten Anatomie 3
WILHELM KRIZ
Neuartig praparierte Anatomie -
ausgezeichnet durch die Akzeptanz der Besucher 29
REINHARD PUTZ
Der Anatom, das Leben und der Tod 35
ANDREAS WINKELMANN
Der endgultige Abschied vom Leib?
Mitihrer .Faszination des Echten" definiert die Ausstellung
.Korperwelten' auch, was echt ist und was nicht 43
BURGHARDT WITTIG
Was Gene bestimmen und was nicht 55
FRANZJOSEFWETZ
1stdie Wilrde der Toten antastbar? 61
KLAUS BERGDOLT
Installationen aus Menschenmaterial
oder die missbrauchte Didaktik 71
HORST BREDEKAMP
Grenzfragen von Kunst und Medizin 83
VomTod zum Leben
Eine Podiumsdiskussion zur .Korperwelten'-Ausstellung
mit Gunther von Hagens 109
Bildnachweis 125
Autoren und Herausgeber 127
Adressen
Prof. Dr. Dr. Klaus Bergdolt Prof. Dr. Reinhard Putz
Institut fur Geschichte und Lehrstuhl Anatomie I
Ethik der Medizin Anatomische Anstalt der
Joseph-Stelzmann-StraBe 9 Medizinischen Fakultat
Gebaude 29 PettenkoferstraBe 11
50931 K6ln 80336 Munchen
Prof. Dr. Gottfried Bogusch Prof. Dr. med. Thomas Schnalke
Institut fur Anatomie der Charite Berliner Medizinhistorisches
Philippstrafse 12 Museum der Charite
10115 Berlin SchumannstraBe 20/21
10117 Berlin
Prof. Dr. Horst Bredekamp
Kunstgeschichtliches Seminar Prof. Dr. FranzJosefWetz
Philosophische Fakultat III Loberstraise 18
Humboldt-Universitat zu Berlin 35390 GieBen
Unter den Linden 6
10999 Berlin
Dr. med.Andreas Winkelmann,MSc
Institut fur Anatomie der Charite
Prof. Dr. Renate Graf Philippstrafse 12
Institut fur Anatomie 10115 Berlin
Universitatsklinikum
Benjamin Franklin
Freie Universitat Berlin Prof. Dr. Burghardt Wittig
Konigin-Luise-Strafse 15 Institut fur Molekularbiologie
14195 Berlin und Biochemie
Freie Universitat Berlin
Arnimallee 22
Prof. Dr. med. Wilhelm Kriz 14195 Berlin
Lehrstuhl I am Institut
fur Anatomie und Zellbiologie
1mNeuenheimer Feld 307
69120 Heidelberg
.Korperwelten' und kein Ende
ZUf Einfuhrung
Scheinbar unaufhaltsam schreitet die .Demokratisierung der Anatornie" voran.
Weltweit sahen inzwischen uber 9 Millionen Menschen die Ausste11ung .Korper
welten', Tendenz steigend, und noch ist kein Ende des Stadteparcours abzuse
hen, auf dem der Heidelberger Anatom Gunther von Hagens seine Plastinate
prasentiert. Staunend stehen die Besucher vor posierenden menschlichen Pra
paraten, die - mit Kunststoff durchtrankt - diverse Korpereinblicke und Korper
anblicke bieten. Ein letztes Refugium der Wissenschaften so11 geoffnet werden,
der Blick unter die Haut in die Korpertiefen einem jeden gestattet sein. Anato
mischesWissen willvon Hagens fura11e zuganglich machen,die Menschen zum
Nachdenken uber Tod und Sterben anregen und mitseinen besonders aufwen
dig gearbeiteten Gestaltplastinaten neue, ungewohnte Korperperspektiven er
proben. Von Kunst sprachen die einen, von Scharlatanerie die anderen. Heftig
wurde landauf, landab uber das Fur und Wider dieser Schau gestritten. Politik
und Kirchen schalteten sich in die Debatten ein. Gerichte wurden bernuht. Die
Medien hatten ein Thema und inszenierten im Verbund mit den Ausste11ungs
machern die .Korperwelten' auch zu einem Medienereignis. jeder ,Skandal',
jeder schrille Ton hatte letztlich nur den einen Effekt: Die Darbietung wurde
noch popularer, Aus einem regionalen Projekt wurde, gemessen an der Reso
nanz, die erfolgreichste Sonderausste11ung a11er Zeiten.
Mitgroiser Konsequenzgehtder Plastinator seinen Wegweiter.Eine Fertigung
von menschlichen Praparaten in groisern Umfang schwebt ihm vor. Kunststoff
leichen so11ena11enthalben dieWeltbevolkern.Daran arbeitetGunthervon Hagens
sehr konkret in seinem privatwirtschaftlich organisierten Institut fur Plastination
in Heidelberg sowie in seinen beiden .Aufsenstationen' im chinesischen Dalian
und im kirgisischen Bischkek. Mit dem Geld aus dem Verkauf der Plastinate
mochte der Anatom seinen Traum verwirklichen - die Grundung eines Men
schenmuseums, bestuckt mit zahllosen Plastinaten.'
Aufdem Weg dorthin wird die populare Aufbereitung der Anatomie auch auf
anderen Feldern vorangetrieben. War bislang die Sektion eine exklusive Praxis
der Anatomen,Pathologen und Gerichtsmediziner,istsieseitdem 21.November
2002 offentlich. Vor surrenden Kameras und unter den Augen von 200 zahlen
den Gasten zergliederte Gunther von Hagens im alten Kesselhaus der Truman
Brauereiin der Londoner Brick-Lane den Leichnam eines 72jahrigen Deutschen.
Aus der Tiefe der Korperhohlen wurden Organe, einzeln oder im Verbund mit
benachbart gelegenen Korperstrukturen an die Oberflache gebracht, bisweilen
ein hartesStuckArbeitfurdie beteiligten Akteure.Die Presse berichtete uber das
zentrale Ereignis des "Londoner Herbstes" teils kritisch, teils genusslich in
aufserstdrastischen Worten.2
G. Bogusch, Auf Leben und Tod
© Steinkopff Verlag, Darmstadt, 2003
2 Einleitung
Da legt einer Hand an den toten Kerper. Er schneidet ihn auf, richtet ihn 20,
gestaltet ihn weiter und zeigt ihn vor. Alles geschieht ganz offen unter den
Augen der bffentlichkeit mit dem Hinweis auf den legitimen Anspruch auf Be
lehrung. Damit sind die .Korperwelten' beileibe nicht geschlossen, sondern
eigentlich erst eroffnet, Eslohnt, nach den Fragen 20 fragen, die sich in diesem
Zusammenhang stellen, die Grenzen zu benennen, die uberschritten werden,
und die Tabus 20 fassen,an welchen geri.ihrt wird. Diesem Ziel stellte sich eine
offentliche Vortragsreihe, die im Sommer 2001 parallel zur Prasentation der
.Korperwelten' in Berlin abgehalten wurde. Organisiert wurden die Themen
abende vom Berliner Medizinhistorischen Museum der Charite und den Arbeits
gruppen fur makroskopische Anatomie der Institute fur Anatomie der Freien
Universitat und der Humboldt-Universitat zu Berlin.Der vorliegende Band doku
mentiert die Beitrage sowie die abschlielsende Podiumsdiskussion mit Gunther
von Hagens.Stellungbezogen,der Breite der Thematik geschuldet,Vertreterun
terschiedlicher Disziplinen,so etwa aus Anatomie, Genetik,Medizinethik,Kunst
geschichte und Philosophie. Zur Abrundung des Themenspektrums wurden
zusatzlich zweiTexte aufgenommen, die sich mitder Geschichte der Veroffent
lichung des sezierten Korpers und dem Moment des .Echten' in der Diskussion
urn die .Korperwelten' befassen.'
Der vorliegende Band vereinigt bewusst auch gegensatzlich argumentierende
Auffassungen in der Diskussion urn die durch von Hagens beschworene Popu
larisierung des Korpers, Er mochte Hintergrundinformationen aus erster Hand
vermitteln und gleichzeitig Anhaltswerte fur eine Konsensfindung in gesell
schaftlichen Fragen geben,die zentraleAspekte des Umgangs mitdem toten wie
auch mit dem lebenden Korper beri.ihren.
Berlin,April 2003 Gottfried Bogusch, Renate Graf und Thomas Schnalke
1 Vgl.hierzujorgBlech:DerLeichenfabrikant.Der Spiegel,Nr.39,21.09.2002,S.190-193.
2 Vgl. beispielsweise Peter Nonnenmacher: Im Bann des Makabren. Frankfurter Rund
schau, Nr. 272, 22.11.2002,S.3.
3 Wir danken Kathrin Gerewitz fur die Verschriftlichung etlicher Redebeitrage, die als
Grundlage fur die Erarbeitung der Druckmanuskripte diente.
THOMAS SCHNALKE
Demokratisierte Korperwelten
Zur Geschichte der veroffentlichten Anatomie
.Erste offentliche Sektion seit 170jahren!" Mit dieser Feststellung warb der Hei
delberger Anatom Gunther von Hagens in Anzeigen und groisformatigen
Plakaten fur das zentrale kulturelle Ereignis des Londoners Herbsts 2002.1
Endlich, so die unterlegte Botschaft, sei es der Offentlichkeit wieder moglich,
hinter die Kulissen einer Wissenschaft zu blicken, die es seit Beginn des 19.
Jahrhunderts verstanden hat, ihr Tun unter Ausschluss der Offentlichkeitstattfin
den zu lassen. Nicht nur mit seinem letzten Coup bernuht von Hagens fur die
Umsetzung seines GroBprojekts einer .Demokratlsierung der Anatomie" die Ge
schichte. Die Berechtigung fur die offentliche Prasentation plastinierter Leichen
in seinerauisersterfolgreichen Ausstellung .Korperwelten'(Abb, 1) leitet er unter
anderem historisch ab und sieht sich dabei selbst in einer direkten, zwischen-
Abb. 1 Plastinate in den .Korperwelten'
4 Thomas Schnalke
zeitlich unterbrochenen, durch ihn jedoch wiederhergestellten Traditionslinie
anatomisierender Kunstler und popular agierender Kunstleranatomen, die im
Zeitalter der Renaissance und des Barock gewirkt haben. An allen Orten ihres
Auftritts zitierte die .Korperwelten-Ausstellung in groisformatigen Reproduktio
nen Illustrationen aus anatomischen Tafelwerken, die belebte und posierende
Skelette und Muskelmanner zeigten.' Einblicke in theaterartig gestaltete Kulissen
wurden wiedergegeben, die belegen sollten, dass in den Raumen der Anatomie
in jener Zeit ein offentliches Sezieren im groisen Stilebetrieben wurde, ja dass
manchedieser Einrichtunggeradezu alsanatomischeMuseen reussierten, inwel
chen die BesuchermiteinerInszenierunggestalteterund agitierenderLeichname
konfrontiert wurden, die zum Lernen und Nachsinnen anregen sollten. Zumin
dest in der Auftaktschau in Mannheim griffen die Ausstellungsgestalter auf ba
rockisierende Gestaltungselemente zuruck und adaptierten den Ausstellungs
raum zu einem frisch begrunten Lustgarten mit Podesten, Saulen und Arkaden.
Selbst der Hut des Plastinators hat sein geschichtliches Vorbild. Kein geringerer
als Rembrandt hatte damit 1632 den Amsterdamer Arztund Anatomen Nicolaas
Tulp imKreiseseiner Kollegen insBildgesetzt. DieSzene,so von Hagens, zeige
die Gruppe beim Sezieren. Stolz und selbstbewusst harte Dr. Tulp seine Kopf
bedeckung getragen. In dessen Nachfolge trete er nun ein.'
Mitseinem Gang in die 6ffentlichkeit instrumentalisiert Gunther von Hagens
die Geschichte im groisen Stil. Dieser Umstand bietet Anlass nachzufassen und
zu fragen, zu welchen Zeiten, mit welchen Zielen und in welchen Formen die
Medizin aus ihren Reihen heraus den sezierten menschlichen Leichnam offent
lich gemacht hat. Der vorliegende Beitrag zielt darauf zu fragen, ob die histori
sche auffindbaren Deutungen des schieren Korpers heute zeitgemaiseAntworten
auf Phantasien, Projektionen und Fragen bieten, die im Zusammenhang mit
Betrachtungen des menschlichen Korpers diskutiert werden, oder ob der Erfolg
der veroffentlichten .Korperwelten' nicht viel eher als eine Chiffrefur in unserer
Gesellschaft anzutreffende Korper- und Menschenbilder zu lesen ist, die gegen
wartig unter dem Eindruck der biologischen und medizinischen Bemuhungen
um eine Verstetigung des Lebens mithilfe genetischer, pharmakologischer und
prothetischer Mittelsowie um eine vorbeugende ,Selektion' und ,Optimierung'
des Lebens am Lebensbeginneinem starkenWandel unterliegen.Dabei erscheint
letztlich die Funktion des historischen Arguments in der Debatte selbst einer
Diskussion wert, woran sich wiederum Fragen nach Tabus und Grenzen anbin
den lassen, die sich aus dem Tun des Plastinators ergeben.'
Der neue Blick unter die Haut
Alsfruhester Popularisator der Anatomie, dessen beeindruckende Korperbilder
immerwiedergerne reproduziertwerden,giltvielen garkein Mediziner,sondern
ein Kunstler - kein geringerer als Leonardo da Vinci(1452-1519). Da Vincise
zierte ab 1485 zahlreiche Leichname von Menschen und Tieren. Seine Befunde
brachte er dicht gedrangt in grandiosen, kommentierten Skizzen zu Papier. Der