Table Of ContentHans-Peter Dürr
Auch die Wissenschaft
spricht nur in
Gleichnissen
Die neue Beziehung zwischen Religion und
Naturwissenschaften
Herausgegebenvon Marianne Oesterreicher
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FREIBURG ' BASEL-WIEN
Originalausgabe
7.Auflage 2010
©VerlagHerder Freiburg im Breisgau2004
AlleRechtevorbehalten —Printed inGermany
www.herder.de
Umschlaggestaltungund -konzeption:
R—M—MEünchen / Roland Eschlbeck, Liana Tuchel
Umschlagmotiv: RenéMagritte, Derwunde Punkt, 1960(Detail)/
©VGBild-Kunst, Bonn 2004
Satz:BarbaraHerrmann, Freiburg
Herstellung: fgb'freiburgergraphischebetriebe 2004
www.fgb.de
Gedruckt aufumweltfreundlichem, chlorfreigebleichtemPapier
Printed inGermany
ISBN 978-3-451-05486—0
Inhalt
VorwordterHerausgeberi.n......................... 7
1.Materie.Energie.Potenzialität..................... 11
2.Leben............................................. 47
3.KommunikationG. esellschaf.t.................... 71
4.AhnungR. eligion................................. 93
5.AbschließendeGsespräch......................... 116
Quellenhinwei.s..e...................... ............. 159
Vorwort der Herausgeberin
Alsim Laufeder Jahrhunderte Naturwissenschaft und Reli
gion einander nicht mehr so feindlich gegenüberstanden,
wie esseit Galilei für lange Zeit üblich war —in verschiede
nen Varianten zwischen Kampf, Angst und Spott —,einigten
siesich allmählich auf gegenseitigeDuldung. Die eine über
ließ der anderen unangefochten dasRevier,in dem sieselbst
nicht zuhause war.Religionwurde zur Privatsache, und die
Naturwissenschaftler fanden sichmit dem Gedanken ab,für
die Erkenntnis materieller Zusammenhänge zuständig zu
sein, aber von allem, wasmit Leben, Seeleund Geist zu tun
hat, eigentlichnichts zuverstehen.
Diese Form von Stillhalteabkommen funktionierte lange
Zeitziemlichgut und istjanoch heute sehrpopulär.
Die „moderne Physik“ aber brachte Erkenntnisse, die
eine nur ausschließende Grenzziehung zwischen Naturwis—
senschaft einerseits, Leben, Seele und Geist andererseits,
nicht mehr so wie zuvor zuließen. Naturwissenschaft und
Religionkönnen seitheralskomplementäre, aufeinander be
zogene Prinzipien gesehen werden. Man erkannte, dass
„Materie“ nicht aus „Materie“ besteht, sondern letzten En
des aus „Beziehungsstrukturen“, die nicht „greifbar“ sind
und die man deshalb auch „geistig“nennen könnte. In die
ser Situation muss der Physiker —neben der Mathematik —
auch Metaphern verwenden, um sich verständlich zu ma
chen, ja, eigentlich, um sich selbstzu verstehen. Und damit
betritt ereineEbene,aufder einesprachlicheVerständigung
mit dem Teilder Menschheit (oder seiner selbst), dem Reli
gion etwasbedeutet, nicht mehr ganz unmöglich erscheint.
Angesichts eines alles verbindenden „Untergrundes“, der
sich endgültigen Festlegungen entzieht, wird ihm klar, dass
letzten Endesnicht nur die Religion,sondern auch dieWis
senschaften,in Metaphern und Gleichnissensprechen.
Hans-Peter Dürr hat sich 50 Jahre lang als theoretischer
Physikermit derQuantenphysik auseinandergesetzt.Inseinen
Vorträgen,insbesondere dervergangenenzehnJahre,hat eres
immer wiederunternommen, einerbreiten Öffentlichkeitein
anden Erkenntnissendermodernen PhysikorientiertesWelt
bildnahe zubringen.
Mit der Herausgabe von wesentlichen Teilen dieser Vor—
träge soll dem Wunsch vieler entsprochen werden, deren
Hauptaspekte noch einmal im Rückblick,oder erstmals, zu
lesen.DieVorträgewurden für die Publikation in dem vor-'
liegendenBandzum großen Teilgründlich überarbeitet und
neu gefasst.
Darüber hinaus gabesnoch einenweiterenGrund, dieses
Buchzu machen. Wie Dürr mir erzählte, ergab sichbei die
senVorträgenimmer wieder dievon ihm bedauerte Situati
on: DieStichworte zur Beziehungdesim VortragDargestell
ten auf die Thematik Religion hatte er zwar auf einem
„Zettel in der Hosentasche“, aber aus Zeitgründen kam er
eigentlich regelmäßig nicht so richtig dazu, sie zu behan
deln.
Das vierte und fünfte Kapitel dieses Buches sind deshalb
ausdrücklich dieser Thematik gewidmet, das vierte in einer
Zusammenschau gesammelter und für dieses Buch oft neu
formulierter Textstellen.Im fünften Kapitel haben wir uns
noch vielZeitgenommen, um in einem—zeitweiligauch Per
sönliches berührenden —Gespräch auf weitere Fragen dieses
Zusammenhangs einzugehen.
Das erste Kapitel des Buches, das die quantenphysika
fische Grundlage für die folgenden Kapitel darstellt, wurde
um deseinheitlichen Argumentationszusammenhanges wil
len alsdurchgehender Textkonzipiert. Esbesteht in seinem
Grundgerüst aus einem 2001 im Institut für Zukunftsstu
dien und Technologiebewertungin Berlingehaltenen Jubilä
ums-Vortrag und aus eingeschobenen Textstellen anderer
Vorträge. DiesesBasismaterial wurde dann von Hans-Peter
Dürr noch einmal gründlich überarbeitet. Auf diese Weise
entstand ein reichhaltiger Text,der einerseits den tragfähi
genBezugsrahmen für diefolgenden Kapitelabgibt, aber an
dererseitsauch bereitsinwesentlichenPunkten aufdieThe
matik der anderen Kapitelvorausweist.
Auch das zweite Kapitel, das sich mit der Anwendung
quantenphysikalischer Erkenntnisse auf die Thematik Leben
auseinandersetzt, basiert auf zahlreichen Textstellen ver
schiedener Vorträge. Es wurde ebenfalls vom Autor noch
einmal überarbeitet und zu einem fortlaufenden Text er
gänzt.
Das Kapitel drei, Kommunikation, Gesellschaft, enthält,
wie das vierte,wesentliche Ausschnitte aus fünfzehn Vorträ
gen der Jahre 1995bis 2003. Hier bot sich die Auswahlvon
Textabschnitten an, die sichjeweilsgewissermaßen anekdo
tisch auf die Erörterungen der ersten beiden Kapitelbezie
hen. Siewurden so angeordnet, dass sichgleichwohlein gut
lesbarer Textverlaufergibt.
Der ÖkologischenProblematik wurde reichlich Raum ge
geben, da diese für Hans-Peter Dürr untrennbar mit den
Einsichten verbunden ist, die man traditionell „religiös“
nennt.
DieThematik diesesBuchesistsokomplex, dassmehrere
Aussagen in verschiedenen Varianten wieder, auftauchen.
Autor und Herausgeberin sehen darin keinen Nachteil, da
immer wiederneu beginnende „Rundgänge“eineVertiefung
dieserumfassenden Gedankengängeleistenkönnen.
Während der Arbeit an dem Manuskript dieses Buches
hatte ich einen merkwürdigen Traum. Der situativeZusam
menhang m der realenWeltwarder folgende:
Den Nachmittag über hatte ich mich mit Hans-Peter
Dürrs Vortragstexten über Glaube und Wissenauseinander—
gesetzt. Am Abend hörte ich meine Tochter für eine Biolo—
gie-Klassenarbeit ab.Esging dabei unter anderem um „Brü—
ckentiere“, das sind Tiere, wie das Schnabeltier, die die
Eigenschaften verschiedener Arten, z.B. Vogelund Säuge
tier, in sichvereinen.
Und danach derTraum:Ichstand mit Dürr amMeer.Auf
einer Art Tellerhatte ich einen Fisch, der war in der Mitte
durchgeschnitten. Auf dem Tellerlag nur noch die Hälfte
mit dem Kopf.Die Unterseite war weiß und blutend. Aber
der Fischlebte. Wir waren nun überzeugt, wenn esuns ge
länge,ihn zurück ins Meer zuwerfen,würde erwieder ganz
werden, und am Lebenbleiben. Wir standen auf einer Art
Aussichtsterrasse mit vielen Menschen, die mich in meiner
Bewegung behinderten und auf die ich zu viel Rücksicht
nahm. Ich suchte einen guten Platz,um den Fischvon dort
ausinsMeerzuwerfen.Aberichkam nicht soweit,und der
Fischlandete auf den Felsen.
Wir waren uns einig, es —was im Traum möglich er—
schien —noch einmal zu versuchen.
Sofort nach dem Aufwachendachte ich:Man mussweiter
werfen!
Das Schöne an dem Traum war: In der Gegenwart von
Dürr schien dasmöglich.
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1. Materie. Energie. Potenzialität
Aufden ersten Blickscheint eserstaunlich: Ein sotiefgreifen—
derUmbruch inunseremVerständnisderWirklichkeit,wieer
durch die Mikrophysik zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus—
gelöst wurde, ist auch heute, mehr als hundert Jahre nach
den bahnbrechenden Arbeiten von Max Planck und etwas
später von Albert Einstein, in unserer Gesellschaftund ihren
Wissenschaften kaum philosophisch und erkenntnistheo
retisch rezipiert, und auch im Bereich der Theologie nicht
ausreichend wahrgenommen worden. Dies liegt nicht etwa
an einem Versagender neuen Vorstellung:Die Quantenphy
sik,welchedieseneueEntwicklungauslöste,hat indenletzten
fast 80 Jahren seit ihrer Ausdeutung durch Niels Bohr und
Werner Heisenberg einen beispiellosen Triumphzug durch
alleGebieteder Physikangetreten und sichbiszum heutigen
Tage unangefochtenbewährt. Siehat in der Folgeungeahnte
technische Entwicklungen angestoßen, dieunserem Zeitalter,
zum Guten oder Schlechten, deutlich ihren Stempel auf
gedrückt haben. Was wären die moderne Chemie und die
heuteallgegenwärtigenKommunikations- und Informations
technologien ohne die auf der Quantenphysik basierende
Atom- und Molekültheorie bzw. die Mikroelektronik und
Halbleitertechnik? Wie anders sähe unsere Welt heute aus
ohne die inverschiedenerWeisebedrohliche Nukleartechnik
mit Kernwaffen und Kernreaktoren, die letztlich auf diese
neuen Einsichten zurückgeht? Wie alsoist zuverstehen, dass
alle diese vielfältigen, überraschenden und gewaltigen Kon
sequenzen wissenschaftlich und gesellschaftlich akzeptiert
wurden, ohnedassgleichzeitigauchdieinhohem Maßeüber
raschendenVorstellungenmit übernommen wurden, ausde
nen dieneue Physikim Grunde erstverständlichwird?
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Dieshat vieleUrsachen. Allenvoran: Der Bruch in unse
ren Anschauungen, zu dem die neue Physik auffordert, ist
tief. Er kann nicht einfach als ein Paradigmenwechsel im
Sinne von Thomas Kuhn in seinem Buch ,Structures of
Scientific Revolutions‘ interpretiert werden. Deutet_diese
Physik doch darauf hin, dass die Wirklichkeit, was immer
wir darunter verstehen,im Grunde nicht mehr „ontisch“ in
traditioneller Weise interpretiert werden kann. Die Frage:
Was ist, was existiert? verliert ihren Sinn. Wirklichkeit ist
keine Realität mehr in der ursprünglichen Bedeutung (lat.
res= Ding) einer dinghaften Wirklichkeit. Wirklichkeit of
fenbart sich primär nur mehr alsPotenzialität,alsein noch
nicht aufgebrochenes, gewissermaßen unentschiedenes „So
wohl/Als-auch“, nur als Kann-Möglichkeit für die uns ver—
traute Realität, die sich in objekthaften und der Logik des
„Entweder/Oder“ unterworfenen Erscheinungsformenaus
prägen kann. Potenzialität erscheint alsdas Eine—oder bes
ser: alsdas Nicht-Zweihafte —das sich nicht auftrennen, sich
nicht mehr zerlegenlässt.Aufdem Hintergrund unserer ge—
wohnten, durch das klassisch-physikalische Weltbild ent
scheidend geprägten Vorstellungenklingt diesparadox und
eigentlichunannehmbar, dawirprinzipiellimmer eineklare
Entscheidung,„jaoder nein“ (tertium non datur), erwarten.
Der Wegzu den neuen Vorstellungenwar dementsprechend
äußerst mühsam und schmerzhaft.DieEntdeckerderneuen
Physik,der Quantenmechanik, Planckund Einstein,die da
für mit dem Nobelpreis ausgezeichnetwurden, waren nicht
bereit, diesen Wegkonsequent zu Ende zu gehen. Obgleich
sie die Unausweichlichkeit der Schlussfolgerungen aner
kannten, hofften sie bis zuletzt auf einen konventionellen
Ausweg. Es war den Jüngsten unter den damaligen Physi
kern: Werner Heisenberg, Paul Dirac, Wolfgang Pauli und
anderen unter ihrem verehrten Kopenhagener Lehrer Niels
Bohr vorbehalten, die neue Einsicht in eine konsistente
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