Table Of ContentBruno Bleckmann
Athens Weg in die Niederlage
Die letzten Jahre des
Peloponnesischen Kriegs
Beiträge zur Altertumskunde
Herausgegeben von
Michael Erler, Ernst Heitsch, Ludwig Koenen,
Reinhold Merkelbach, Clemens Zintzen
Band 99
S
Β. G. Teubner Stuttgart und Leipzig
Athens Weg in die Niederlage
Die letzten Jahre des
Peloponnesischen Kriegs
Von
Bruno Bleckmann
B. G. Teubner Stuttgart und Leipzig 1998
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung
fur Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Bleckmann, Bruno:
Athens Weg in die Niederlage: die letzten Jahre des
Peloponnesischen Kriegs / von Bruno Bleckmann. —
Stuttgart; Leipzig: Teubner, 1998
(Beiträge zur Altertumskunde; Bd. 99)
Zugl.: Göttingen, Univ., Habil.-Schr., 1996
ISBN 3-519-07648-9
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© 1998 B.G. Teubner Stuttgart und Leipzig
Printed in Germany
Druck und Bindung: Röck, Weinsberg
ANNE UND BENEDIKT
VORWORT
Die Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg hatte einschneidende
Folgen für den Verlauf der weiteren Geschichte und gilt zu Recht als die große
Zäsur der griechischen Geschichte der klassischen Zeit, da sich in der Folgezeit kein
anderer Polisstaat mehr imstande erweisen sollte, Ägäis und griechisches Mutterland
als stabilen Herrschaftsraum zu organisieren. Entsprechend dieser historischen
Bedeutung standen die letzten Jahre des Peloponnesischen Kriegs immer im
Mittelpunkt des Forschungsinteresses, und dieses Interesse verrät sich in einer nicht
mehr zu überblickenden Fülle von Arbeiten. Gleichwohl wurde in jüngerer Zeit nur
eine einzige monographische Behandlung der Epoche vorgelegt, nämlich D. Kagans
Buch „The Fall of the Athenian Empire" (1987). Diese gut lesbare und an ein
breiteres Publikum gerichtete Darstellung bietet eine erste Orientierung für die
komplexe Ereignisgeschichte dieser Zeit, versucht aber im großen und ganzen ohne
kritische Untersuchungen und ohne eingehende Diskussion jüngster Forschungs-
ergebnisse auszukommen. Gemessen an den großen Gesamtdarstellungen Busolts,
Meyers und Belochs vermittelt sie dabei kein wesentlich neues Bild vom Dekelei-
schen Krieg.
Nun mag es für viele Phasen der alten Geschichte angesichts der Quellenlage
in der Tat unmöglich erscheinen, gegenüber den Forschem vergangener Generatio-
nen zu einer völlig neuen Rekonstruktion der Ereignisgeschichte zu gelangen. Auch
für den Dekeleischen Krieg ist der quantitative Zuwachs an neuem Quellenmaterial
eher gering zu veranschlagen. Gleichwohl hat die Beschäftigung mit dieser Epoche
insofern Ausnahmecharakter, als nur wenige Papyrusfunde genügt haben, um das
lange Zeit vorausgesetzte Verhältnis der beiden historiographischen Berichte, von
denen unser Geschichtsbild abhängt, grundsätzlich in Frage zu stellen.
Xenophons „Hellenika" und Diodors „Historische Bibliothek" bieten be-
kanntlich oft ganz konträre Darstellungen der gleichen Ereignisse. Im großen und
ganzen bestand lange Einigkeit darüber, daß Xenophon gegenüber Diodor bzw.
dessen Quelle Ephoros zu bevorzugen war. Die großen Darstellungen der griechi-
schen Geschichte von Meyer, Beloch und Busolt sind alle von dieser Entscheidung
zugunsten Xenophons geprägt. Diodor ist dort nur für einzelne militärische Episoden
wie die Wiedereroberung von Pylos und Nisaia durch die Gegner Athens als brauch-
bare Quelle angesehen worden, ferner für einige seiner Angaben zu in Athen selbst
getroffenen Entscheidungen, insbesondere für den recht ausführlichen Bericht über
die Ablehnung der spartanischen Friedensvorschläge nach der Schlacht bei Ky-
zikos1.
Als man aber Anfang des Jahrhunderts die Hell. Oxy. entdeckt hatte, wurde
sofort deutlich, daß Diodor letztlich auf dieses ausfuhrliche Geschichtswerk zurück-
gegriffen haben muß. Damit mußte auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen
Diodor und Xenophon neu gestellt werden. Zwar behandelt der 1908 publizierte
1 Vgl. hierzu 393-404.
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Londoner Papyrus nur die Vorgeschichte des Korinthischen Kriegs. Aber ein im
Londoner Papyrus enthaltener Riickverweis des Autors der Hell. Oxy. auf die von
ihm behandelte Geschichte des Dekeleischen Kriegs ließ bereits nach Entdeckung
dieses Papyrus erkennen, daß mit den Hell. Oxy. auch für den Zeitraum des Dekelei-
schen Kriegs als Quellengrundlage Diodors zu rechnen war. Dementsprechend
führte De Sanctis schon 1931 die Erzählung Diodors zur Schlacht von Notion auf
den Autor der Hell. Oxy. zurück. Er billigte dieser Erzählung eine höhere Autorität
als der Darstellung Xenophons zu und kam zu dem Ergebnis, „che tutti i racconti
moderni della guerra deceliana sono antiquati e da rifare'0. Als mit den Florentiner
Fragmenten tatsächlich ein Stück des Originalberichts der Hell. Oxy. zur See-
schlacht von Notion bekannt wurde, schien dies den großen Quellenwert der Dar-
stellung Diodors und die Notwendigkeit einer Neudarstellung des Dekeleischen
Kriegs zu bestätigen. Dieser Einschätzung des Quellenwerts Diodors sind - vor
allem nachdem durch den Kairoer Papyrus erneut bestätigt wurde, daß der Autor der
Hell. Oxy. die Geschichte des Dekeleischen Kriegs in Übereinstimmung mit Diodor
behandelt haben muß - gegenwärtig die meisten Vertreter der Forschung
verpflichtet, indem sie entweder den Bericht Diodors demjenigen Xenophons
vorziehen oder ihm zumindest den gleichen Rang zuerkennen wollen wie
demjenigen Xenophons3. Auch Kagan geht von der Neueinschätzung des
Quellenwerts Diodors aus. Doch kann seine bald harmonisierende, bald doch wieder
den Bahnen Busolts folgende Erzählung nicht als die neue, von De Sanctis gefor-
derte Geschichtsdarstellung des Dekeleischen Kriegs gelten.
Eine neue Geschichte des Dekeleischen Kriegs im Sinne von De Sanctis wird
auch mit der vorliegenden Arbeit nicht geboten, und zwar deshalb nicht, weil
zunächst überprüft werden muß, ob eine Neubewertung des Verhältnisses von
Diodor und Xenophon wirklich geboten ist. Die Schlußfolgerung von De Sanctis,
die allein auf einer Untersuchung der Traditionen zur Schlacht von Notion basiert,
könnte sich als voreilig erweisen. Die Frage, welcher der beiden Autoren -
Xenophon oder der letztlich von den Hell. Oxy. abhängige Diodor - den Vorzug
verdient, ist nur aufgrund eines vollständigen kritischen Vergleichs beider
Traditionen zu klären. Dabei können letzte Gewißheiten angesichts des nur
bruchstückhaften Papyrus-Materials und des Verlustes der Zwischenquelle Ephoros
zweifellos nicht erzielt werden. Immerhin läßt sich aber aus einer genauen
Betrachtung der Beziehungen, in denen Xenophon, Diodor und der Autor der Hell.
2 DE SANCTIS (1931/1951), 170.
3 Vgl. z. B. BRUCE (1967), 21 f.; SCHEPENS (1977), 95: „his narrative traces back via
Ephorus to sources (e. g. the Hellenica Oxyrhynchia) much more valuable than
Xenophon."; J. K. DAVIES, Das klassische Griechenland und die Demokratie, München
19914, 162: „Inzwischen hat man erkannt, daß der Bericht Diodors bis 386 letztlich von
dieser Quelle (den Hell. Oxy., Anm. d. Verf.) abhängt. (...) Ihre Qualität ist so hoch, daß
sogar die Zusammenfassung Diodors emstzunehmen ist. Aus diesem Grund müssen die
beiden Quellen (Xenophon und Diodor, Anm. d. Verf.) ständig gegeneinander abgewogen
werden."
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Oxy. zueinanderstehen, ein kohärentes Modell der Quellenbeziehungen gewinnen, in
dem Xenophon gegenüber dem Autor der Hell. Oxy. und den von ihm abhängigen
Historikern als glaubwürdiger und authentischer erscheint.
Von dem einmal skizzierten Modell der Quellenbeziehungen wird dann in
den beiden anderen Teilen der vorliegenden Arbeit ausgegangen werden, wobei im
Einzelfall weitere bestätigende Elemente hinzuzufügen sind und die Gegenprobe
gemacht werden soll. Aber die Feststellung der Quellenrelation ist in diesen Teilen
nicht das übergeordnete Erkenntnisziel. Vielmehr ist im zweiten Teil eine weitere
Grundfrage der Geschichte der letzten Jahre des Peloponnesischen Kriegs zu unter-
suchen. Ohne eine begründete Stellungnahme für die frühe Chronologie Haackes
oder die späte Chronologie Dodwells ist eine Darstellung der attischen Kriegführung
in den letzten Jahren des Peloponnesischen Kriegs nicht möglich, da je nach
angenommenem chronologischem System bestimmte in Athen getroffene
Entscheidungen verschieden zu deuten sind. Quellenkritische und chronologische
Untersuchungen sind beide notwendig, um den dritten, politisch-historischen Teil
der Arbeit zu fundamentieren.
Dieser dritte Teil bietet eine Skizze der attischen Politik und ihrer Wechsel-
wirkungen mit der Kriegführung zwischen den beiden oligarchischen Phasen von
411 und 404/403. Die Einschränkung des Gegenstands läßt sich zunächst dadurch
rechtfertigen, daß aufgrund der Quellenlage dieser Aspekt der Geschichte des
Dekeleischen Kriegs noch am besten bekannt ist, während unsere Kenntnisse über
die spartanische Kriegführung sich auf wenige Punkte wie etwa die Aktionen des
Lysandros beschränken4. Ferner erfaßt eine Skizze der attischen Politik und ihrer
Wechselwirkungen mit der Kriegführung wesentlich mehr als nur einen Teilaspekt
des Krieges. Denn Thukydides (II 65,12) macht in erster Linie die athenische
Innenpolitik und ihr Versagen für die Niederlage Athens verantwortlich. Da es - wie
zu zeigen sein wird - keinen Grund gibt, am Gewicht der Aussage eines überdurch-
schnittlich gut informierten Zeitgenossen von großer analytischer Intelligenz zu
zweifeln, muß dem Hinweis des Thukydides nachgegangen und untersucht werden,
in welcher Form die innerathenischen Rivalitäten tatsächlich den Untergang Athens
herbeigeführt haben könnten. Es erschien weiter nicht nur aus Gründen der Arbeits-
ökonomie sinnvoll, den Dekeleischen Krieg nicht in seiner Gesamtheit, sondern nur
für die Phase der restaurierten Demokratie ab 411 zu untersuchen. Während nämlich
jede historische Beschäftigung mit dem von Thukydides noch behandelten Zeitraum
mehr oder weniger auf eine Paraphrase des von Thukydides an die Hand gegebenen
Materials hinauslaufen muß, geben die schon quantitativ unzureichenden,
punktuellen und widersprüchlichen Berichte der „Fortsetzungen" des Thukydides
kaum eine geschlossene historische Perspektive vor. Der Historiker muß sich für
diese Phase aus den divergierenden Berichten und aus den Bruchstücken des übrigen
A Die spartanische Kriegführung in der zweiten Hälfte des Dekeleischen Kriegs ist
dabei bereits monographisch durch die gediegene Studie von LOTZE (1964) eingehend
gewürdigt worden.
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historischen Materials nicht nur erst diese Perspektive, sondern oft genug auch das
Tatsachengerüst selbst erarbeiten.
Hervorgegangen ist dieses Buch aus einer im Juli 1996 vom Fachbereich
Historisch-Philologische Wissenschaften der Georg-August Universität Göttingen
angenommenen Habilitationsschrift. Im Interesse einer besseren Lesbarkeit habe ich
die ursprüngliche Version durch Überleitungen und Zusammenfassungen umge-
staltet. Die Überarbeitung war im wesentlichen im Sommer 1997 abgeschlossen.
Vollständigkeit der Literaturerfassung konnte nur für den ersten quellenkritischen
Teil erstrebt, wenn auch wohl kaum erreicht werden.
Meinem akademischen Lehrer G. A. Lehmann verdanke ich die Anregung,
mich mit historiographischen und historischen Problemen des Dekeleischen Kriegs
zu beschäftigen. Er hat (m. E. mit guten Gründen) in seinen Arbeiten stets an der
von Busolt und Ed. Meyer entwickelten Theopomp-Hypothese festgehalten (vgl.
Lehmann [1984]). Zum 28. August 1998 seien ihm einige zusätzliche Argumente für
diese Hypothese zugeeignet. An dieser Stelle sei G. A. Lehmann auch mein beson-
derer Dank für langjährige Förderung und für ein Klima freundschaftlicher Zusam-
menarbeit während meiner Assistentenjahre ausgesprochen, das allein schon ganz
wesentlich zu einem raschen Gedeihen meiner Forschungen auf dem mir neuen Feld
der griechischen Geschichte beigetragen hat.
Mein Dank gilt ferner den übrigen Gutachtern des Verfahrens, nämlich
Jochen Bleicken, Klaus Nickau, Marianne Bergmann und Ernst Schubert, sowie der
Fondation Hardt, wo ich 1996 zwei ertragreiche Forschungswochen verbracht habe.
Clemens Zintzen habe ich für die rasche Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe
„Beiträge zur Altertumskunde" zu danken. Mit Gerrit Kloss und Jan Radicke, der die
gesamte Arbeit gelesen hat, habe ich zahlreiche philologische Einzelprobleme
erörtern können. Jan Radicke hat femer mit Ratschlägen zur besseren Disposition
der Arbeit beigetragen. Sven Abromeit, Kai Oltshausen, Katharina Wemer und ganz
besonders Klaus Scherberich haben mit großer Geduld Korrektur gelesen. Darüber
hinaus hat Frau Werner mir bei der Formatierung wichtige Hilfe geleistet. Der
Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften danke ich für
einen Zuschuß zu den Druckkosten. Die Kollegen und Freunde am Institut
d'Histoire romaine und an den anderen altertumswissenschaftlichen Instituten der
Universität Strasbourg II haben durch ihre Gastfreundschaft während meiner Zeit als
„professeur associé" nicht wenig zum Gelingen des Abschlusses dieser Arbeit
beigetragen.
Göttingen und Straßburg, im Juni 1998 Bruno Bleckmann