Table Of ContentNordrhein-WestfaIische Akademie der Wissenschaften
Natur-, Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften Vortrage . N 411
lierausgegeben von der
Nordrhein-Westfalischen Akademie der Wissenschaften
BRIGITTE M. JOCKUSCH
Architekturelemente
tierischer Zellen
Westdeutscher Verlag
384. Sitzung am 3. Juni 1992 in DUsseldorf
Die Deutsche Bibliothek -ClP·Einheitsaufnahme
Jocku.ch, Brigitte M.:
Architekturelemente tieri",her Zellen I Brigitte M. Jocku.ch. -Opladen: Westdt.
VerI.,1995
(Vortrage / Nordrhein-Westfalische Akademie der Wissenschaften: Natur-,
In~nieur-und Wirtschaftswissenschafteo; N 411)
ISBN 978-3-663-01734-9 ISBN 978-3-663-01733-2 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-663-01733-2
NE: Nordrhein-Westfalische Akademie der W~senschaften (DUsseldorf): Vor
tdige / Natur-, Ingenieur-und Wirtschaftswisseos:hahen
Der Westdeutsche Verlag ist ein Unternehmen der Bertelsmann Fachinformation.
© 1995 by Westdeutscher Verlag GmbH Opladen
Herstellung: Westdeutscher Verlag
ISSN 0944-8799
ISBN 978-3-663-01734-9
Inhalt
Brigitte M Jockusch, Braunschweig
Architekturelemente tierischer Zellen 7
Literatur ...................................................... 19
Diskussionsbeitrage
Professor Dr. rer. nat. Hermann Sahm; Professor Dr. rer. nat. Brigitte M
Jockusch; Professor Dr. phil. Friedrich Scholz; Professor Dr. phil. Lothar
Jaenicke; Professor Dr. med. Volker Herzog; Professor Dr. rer. nat. Ulrich
Thurm; Professor Dr. rer. nat. Dietrich Neumann; Professor Dr. rer. nat.
Klaus Heckmann; Professor Dr. rer. nat. Eckart Kneller.... ......... .. 20
Die evolutionare Entwicklung von einzelligen Lebewesen zu vielzelligen Orga
nismen ist gekennzeichnet durch eine starke Spezialisierung der beteiligten
Zellen. Obwohl beim Vielzeller aIle Zellen aus einer einzigen Zelle, der befruchte
ten Eizelle, durch Teilungen hervorgehen, bilden die Tochterzellen haufig schon
sehr fruh in der Embryogenese andere Eigenschaften aus als die Mutterzellen. Das
genetische Material aller dieser Zellen ist identisch, aber eine zunachst durch ver
schiedene mutterliche Faktoren, au6ere Einflusse und spater yom Embryo selbst
gesteuerte differenzielle Genexpression fuhrt zu ganz verschiedenartigen Zell
typen. Diese Differenzierung betrifft dabei sowohl Bau wie Funktion der Zellen,
wobei sich die gleichartigen haufig zu Geweben organisieren. Am Ende der
tierischen oder pflanzlichen Embryogenese ist ein hochorganisiertes, komplexes
Lebewesen entstanden, dessen Zellen eine geregelte und genau programmierte
Arbeitsteilung durchfuhren.
Damit die Zellen im Hirn einer Katze andere Aufgaben ubernehmen konnen
als die der Leber, des Herzens oder der Haut, mussen sie nicht nur einen Satz hirn
spezifischer Biomolekule im Zellplasma aufweisen, sie mussen auch von verschie
dener Gestalt sein. Die Erforschung der funktionellen Morphologie und Differen
zierung von Zellen hat sich in den letzten zwei Ja hrzehnten zu einem faszinieren
den Kapitel der Zellbiologie entwickelt. Zur Identifizierung der fur die zellulare
Architektur verantwortlichen Molekule war es zunachst wichtig, geeignete Zellen
zu finden und Zellkulturmethoden so zu verfeinern, da6 die zellspezifische struk
turelle Organisation der Zellen auch in Kultur ausgepragt wird oder erhalten
bleibt. Diese Aufgabe war nicht trivial, da die Kulturbedingungen nur einen
unvollstandigen Ersatz fiir die Verhaltnisse im Organismus bieten. -So weisen viele
in Kultur genommene Zellen zum Teil innerhalb weniger Tage Dedifferenzie
rungserscheinungen auf (z. B. Glattmuskelzellen), andere entwickeln sich gar
nicht erst bis zu der im Korper erreichten Organisationsstufe (z.B. Skelettmuskel
zellen). Weitere Zelltypen, wie Blut- oder Nervenzellen, sind bereits beim neu
geborenen Saugetier "enddifferenziert" - d. h. sie teilen sich nicht mehr. Kultu
ren solcher Zellen haben damit nur eine begrenzte Lebensdauer.
Aus diesen Grunden gibt es bis heute in der Zellbiologie nur einige wenige
tierische und menschliche Objekte, an denen ZelImorphologie und "molekulare
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Anatomie" in Kultur erforscht werden. Dazu gehoren insbesondere Epithelzellen
der Augenlinse, der Haut, des Diinndarms und der Nierentubuli, Bindegewebs
zellen der Haut, Herzmuskelzellen und Zellen, die die BlutgefaBe auskleiden
(Endothelzellen). Gewonnen werden diese Zellen meist von Labornagern, aus
Material der Humanchirurgie und Geburtshilfe sowie von angebriiteten Hiihner
eiern. Insgesamt stellt somit die Zahl der verschiedenen Zelltypen, die fiir solche
Untersuchungen zur Verfiigung stehen, nur einen kleinen Ausschnitt aus der
Fiille der in der Natur entwickelten Zellformen dar.
Aus der Analyse solcher Zellkulturen und der Untersuchung von Zellen im
Gewebe haben wir nicht nur allgemeines Grundlagenwissen iiber die Gesetz
maBigkeiten der Architektur von Zellen und Geweben, der Mechanik der Ver
teilung von Erbmaterial wahrend der Zellvermehrung und die molekulare Basis
zellularer Beweglichkeit erhalten. Fehlerhafte zellulare Architekturelemente
konnten als U rsachen verschiedener angeborener Krankheiten des Menschen, wie
z. B. Muskeldystrophien, Myopathien, Karthagener's Syndrom und Epidermoly
sis bullosa simplex identifiziert werden, und der Nachweis gewebs- und zell
spezifischer Strukturelemente wird zur Diagnostik bei Tumorerkrankungen,
Herzinfarkten, Wundheilungsdefekten und verschiedener Fehlentwicklungen
beim U ngeborenen eingesetzt. Solche Beispiele zeigen, daB die Strukturanalyse
tierischer (und menschlicher) Zellen Grundlagenforschung von hoher biomedizi
nischer Relevanz ist.
Molekulare Gr~ndlage der Architektur tierischer Zellen ist ein Satz fibrillarer
Strukturelemente im Zellplasma, der aus Proteinen besteht und von innen heraus
die auBere Form bestimmt, vergleichbar dem Stangengeriist eines Zeltes oder den
Metallstreben eines Schirms. Dieses Stiitzsystem wird Zell- oder Zytoskelett
genannt. Man unterscheidet drei solcher fibrillarer Systeme, die (bis auf wenige
Ausnahmen) in allen Zelltypen der hoher entwickelten Tiere und des Menschen
gemeinsam vorkommen: die Mikrofilamente, die Mikrotubuli und die Inter
mediarfilamente. Zusammen bilden diese Elemente bis zu einem Drittel aller
Proteine in tierischen Zellen. Sie unterscheiden sich in den sie aufbauenden Pro
teinen, ihrer raumlichen Organisation und ihrer Funktion.
Nach heutigen Modellvorstellungen ist das Intermediarfilamentsystem fiir
Stiitzfunktionen und den Zell:Zell-Zusammenhalt im Gewebe verantwortlich
und erfiillt damit den Anspruch an ein Zell-Skelett im engeren Sinne. Die beiden
anderen Systeme tun das offensichtlich nur teilweise: Das Mikrotubuli-System
ist vor allem fiir zellulare Transportvorgange zustandig, wobei die einzelnen
Elemente als Schienen benutzt werden, an denen Vesikel und Organelle iiber
eigene "Motorproteine" und unter Energieverbrauch transportiert werden. Die
Gleise, die Mikrotubuli, sind dynamische Elemente, die von der Zelle nach Bedarf
auf-und abgebaut werden konnen, wobei erstaunlich lange Strecken iiberwunden
b
Abb. 1: Mikrofilamentbiindel als Architekturelemente in tierischen Zellen.
(a): Fluoreszenzmikroskopische Aufnahme einer Bindegewebszelle des Hiihnchens nach
Anfarbung mit einem fluoreszierenden Aktin-spezifischen Reagens (Rhodamin-Phalloidin).
Die Zelle ist in der Aufsicht zu sehen. Die im Foto weiB erscheinenden Balken entsprechen
parallel gepackten Mikrofilamenten, die aus Aktin und akzessorischen Proteinen bestehen. Sie
durchziehen das gesamte Zellplasma und spannen als "StreBfasern" die Zelle. Balken: 10/lm.
(b): Rotelzeichnung von Leonardo da Vinci (aus Mathe, 1980). In diesem Detail einer Zug
maschine werden Seile durch einen Ochsen gespannt, auf einen Punkt gebiindelt und mit dem
Erdboden verbunden. Ganz analog dazu stellt man sich vor, daB die StreBfasern der Zelle in
(a) iiber ein komplexes Molekiilaggregat von Strukturproteinen gebiindelt und punktformig
mit der Zellmembran verkniipft werden.
Abb. 2: Entwieklung von Zell:Substrat-Kon
takten bei einer Bindegewebszelle
des Hiihnchens. Diese Zellen wur
den in Kulturmedium suspendiert
und 4 Stunden vor der Analyse in
eine Plastikschale ausgesat. Die
mit Nomarski-Interferenzoptik des
Lichtmikroskops erzielte Aufnahme
in (a) zeigt die Oberseite einer Zelle
wah rend der Besiedel ung des Scha
lenbodens: Von einem dickeren
Zentrum aus, in dem sich der Zell
kern befindet, breitet sich das Zell
plasma als kreisrunder Schleier
gleichma6ig aus. Die waehsenden
Stre6fasern sind als diinne radiale
Speichen zu erkennen, die am Rand
punktformig an die Plasmamem
bran herantreten (Beispiele dureh
schwarze Pfeilspitzen markiert). In
(b) ist die U nterseite derselben Zelle
im Reflexkontrast abgebildet. Die
Enden der Stre6fasern erscheinen als
schwarze punkt- oder kommafor
mige Strukturen, da hier die Zell
membran direkt auf dem Schalen
boden aufliegt und das Licht total
reflektiert wird. In (e) ist die Vertei
lung des Proteins Vinculin durch
Markierung mit einem fluorochro
mierten Antikorper gegen Vinculin
im Fluoreszenzmikroskop sichtbar.
Vinculin ist im dickeren Zentrum
der Zelle konzentriert, au6erdem
aber bereits in den in (b) erkenn
baren, noeh jungen "Zellfii6chen"
angereichert (wei6e Pfeilspitzen).
Architekturelemente tierischer Zellen 11
Abb. 3: Zell:Substrat-Kontakte bei einer stationaren, fest verankerten Bindegewebszelle. Diese Zelle
gibt die Situation in einer Kultur 28 Stun den nach Aussaen auf Plastikschalen wieder. Die mit
der Nomarski-Interferenzoptik erzielte Aufnahme in (a) zeigt die flach ausgespannte Zelle mit
dem ovalen Zellkern in Aufsicht, die reliefartigen Endregionen der Stre6fasern sind deutlich
erkennbar (schwarze Pfeilspitze). Im Reflexkontrast (b) erscheinen nun die voll ausgebildeten
Zell:Substrat-Kontakte als prominente "ZellfiiBe" mit mehreren kommaartigen Substruk
turen. Dekoration mit fluorochromiertem Anti-Vinculin und Fluoreszenzmikroskopie (c)
zeigt, daB aile diese Strukturen Vinculin in hoher Konzentration enthalten (weiBe Pfeilspitze).
Vinculin ist damit als eine Komponente der Zellkontakte und bildlicher Bestandteil des
Ochsen der Zeichnung in (1 b) identifiziert.