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GESELLSCHAFT
ABPFIFF:
EINE KRITISCHE BILANZ
DER FUSSBALL-WM 2014
THOMAS FATHEUER UND CHRISTIAN RUSSAU
INHALT
Einleitung 2
ZwischenProtestenundTriumphalismus–
dieWMalspolitischerStreitfall 3
Geschäfte,RepressionundProteste–eineBilanz 7
Schneeballeffekt oder Gentrifizierung? 7
Infrastruktur – Versprechungen und Wirklichkeit 10
Die Fifa-WM – weniger Demokratie wagen 11
Keine Massenproteste – aber allgemeine Unruhe 14
Die anderen Proteste – der Hass der Elite 16
Die WM der Repression 17
Nach der WM ist vor Olympia 20
EINLEITUNG
2
Im Oktober endete in Brasilien ein lan- beigetragen – ob in Sieg oder Niederla-
ges politisches Jahr: Bei den Präsident- ge –, die Nation zu einen. Selten ist ein
schaftswahlen wurde mit einer denkbar Wahlkampf in Brasilien so polarisierend
knappen Mehrheit von 51,64 Prozent und hasserfüllt geführt worden wie der
Amtsinhaberin Dilma Rousseff wieder- des Jahres 2014. Die politische Polarisie-
gewählt, das knappste Ergebnis der letz- rung hat stattdessen ihren Teil dazu bei-
ten Jahrzehnte. Begonnen hatte das lan- gesteuert, dass die exorbitanten Ausga-
ge Jahr im Juni 2013, als während des ben für die WM nicht mehr durch einen
Confederations Cup zur allgemeinen nationalen Konsens getragen wurden –
Überraschung Millionen BrasilianerInnen wie etwa bei der WM in Deutschland
auf die Straße gingen und protestierten. oder sogar noch in Südafrika. Kurz vor
Und dazwischen lag die WM – genauer der WM befürchtete eine Mehrheit der
gesagt: die FIFA Fußball-Weltmeister- BrasilianerInnen sogar eher negative
schaft Brasilien 2014™ der Männer. Das Auswirkungen des Megaevents.
größte Medienevent des Planeten ist so Nun verlief die WM ohne große Proteste
sehr wie noch nie in den Strudel unruhi- und unter massiver Präsenz der Sicher-
ger Zeiten geraten und selbst zum Ge- heitskräfte weitgehend reibungslos –
genstand von Protesten geworden, dass wenn auch sportlich für Brasilien de-
das Modell Fifa-WM Brasilien wohl nicht saströs. Trotzdem sind die Fragen gültig
unbeschadet überstanden hat. Aber hat geblieben, die im Vorfeld der WM aufge-
die WM auch die Wahlen in Brasilien be- worfen wurden. In einer noch vorläufigen
einflusst? Viele hatten geglaubt, dass ein Bilanz wollen wir eine erste genauere
Ausscheiden der seleção zu einer Nieder- Schadensbesichtigung unternehmen:
lage der Präsidentin bei den Wahlen füh- Was hat die WM für die BrasilianerInnen
ren könnte. Das ist nicht geschehen – die gebracht, was für den Fußball? Hat sie
Präsidentin mag für vieles verantwortlich tatsächlich – wie versprochen – Entwick-
sein, aber die Mannschaft hatte Trainer lungsimpulse für das Land setzen kön-
Luiz Felipe Scolari aufgestellt, nicht sie. nen? Wer sind die Verlierer, wer sind die
Die WM hat allerdings auch nicht dazu Gewinner dieser WM?
ZWISCHEN PROTESTEN UND TRIUMPHALISMUS –
3
DIE WM ALS POLITISCHER STREITFALL
Der Juni des Jahres 2013 hatte alles geän- Infra struktur. Und oft hörte man die Fra-
dert. Aus Anlass des Confederations Cups gen: Was wird passieren, wenn Brasilien
waren Millionen auf die Straßen gegangen vorzeitig ausscheidet? Wird sich dann
und hatten demonstriert: gegen Fahrpreis- der Volkszorn in Unruhen oder gar Auf-
erhöhungen im öffentlichen Nahverkehr, ständen austoben?
gegen Missstände im Gesundheits- und Im Vergleich zu solch aufgeregten und
Erziehungssystem, aber auch gegen die hoch gepeitschten Spekulationen ver-
exorbitanten Ausgaben für die Fußball- lief die Weltmeisterschaft eher unauf-
WM und die Auflagen der Fifa. geregt – sieht man von dem sportlichen
Die Fußball-WM war im Vorfeld plötz- GAU (aus brasilianischer Sicht) im Halbfi-
lich politisiert, und zwar nicht nur durch nale einmal ab. Die Organisation des Tur-
eine intellektuelle Kritik, sondern durch niers war zumindest zufriedenstellend,
Massenproteste. Diese Proteste waren es gab keine gravierenden Pannen, Tou-
sicherlich diffus und vielleicht auch po- ristInnen wurden nicht massakriert, und
litisch zwiespältig, aber sie stellten vie- die Proteste erreichten nicht annähernd
le richtige und wichtige Fragen. Warum das Ausmaß des Jahres 2013. Das hatte
muss ein Land (wie Brasilien) Milliarden mehrere Gründe.
für ein Megaevent ausgeben, warum Die Zeit nach den großen Protesten bis
muss man sich den Auflagen der Fifa un- zum Beginn der WM war eine Zeit der
terwerfen? Ab Juni 2013 begleitete eine Unruhe in Brasilien. Unzählige dezent-
lebendige und vielfältige gesellschaft- rale Protestaktionen, aber auch größere
lich Debatte, immer wieder aufflammen- Streiks erschütterten das Land. Im Ok-
de Proteste, aber auch eine zunehmen- tober streikten die LehrerInnen und gin-
de Repression die Vorbereitung der WM gen zu Hunderttausenden auf die Stra-
2014. Noch nie war eine Weltmeister- ße, während des Karnevals streikte die
schaft derartig in den Mittelpunkt poli- Müllabfuhr in Rio de Janeiro, und kurz
tischer Kontroversen geraten, noch nie vor der WM legte ein Streik die U-Bahn
waren Ausgaben für eine WM so massiv in São Paulo nahezu lahm. Auch die städ-
kritisiert worden, und noch nie war die Fi- tischen Bewegungen für Land (MTST)
fa in einem solchen Ausmaß Gegenstand erreichten eine neue Dimension. Beson-
öffentlicher Proteste geworden. ders spektakulär war eine Besetzung in
Das hatte Erwartungen für die WM ge- unmittelbarer Nähe des Itaquerão, des
weckt. Bei den Protesten in ihrem Vorfeld WM-Stadions in São Paulo, in dem das
tauchte die Parole auf: «Não vai ter copa» Eröffnungsspiel der WM stattfand. Etwa
(es wird keine WM geben). Nur eine Pro- 10.000 Menschen besetzten ein Grund-
vokation oder eine – je nach Perspekti- stück und forderten Land zum Wohnen.
ve – reale Möglichkeit beziehungsweise Staatspräsidentin Dilma Rousseff be-
Gefahr? Viele BeobachterInnen erwarte- suchte persönlich die BesetzerInnen und
ten eine Wiederholung der Massenpro- versprach, ihre Forderungen zu erfüllen.
teste, andere befürchteten Chaos we- Dieses Beispiel ist symptomatisch: Vie-
gen unfertiger Stadien und mangelhafter le soziale Bewegungen nutzten den Mo-
ment vor der WM, um ihre Anliegen öf- der WM rühmt sich die Regierung, «1,19
4
fentlich zu machen – oftmals mit Erfolg.1 Milliarden Reais [ca. 400 Millionen Euro]
Es ging dabei weniger um Proteste ge- für 117.000 Sicherheitskräfte ausgege-
gen die WM als um die Durchsetzung ben zu haben, dreimal mehr als bei der
konkreter Forderungen. Offensichtlich WM 2010».2 Nicht nur die allgegenwär-
gab es die – durchaus nachvollziehbare – tige Präsenz der Sicherheitskräfte und
Einschätzung, dass die WM selbst kein ihr oftmals brutales Vorgehen hatten ab-
günstiger Moment für solche Mobilisie- schreckende Wirkung, auch die von den
rungen sei. Medien ausführlich dargestellten gewalt-
Anders als beim Confederations Cup im samen Ausschreitungen zwischen ein-
vergangenen Jahr wurde die politische zelnen DemonstrantInnen und der Polizei
Situation in Brasilien 2014 zunehmend insbesondere in São Paulo wirkten de-
durch die für den Oktober angesetzten motivierend.
Präsidentschaftswahlen geprägt. Die Und schließlich haben sich viele Brasili-
Schwierigkeiten bei der WM-Vorberei- anerInnen bei aller Kritik auf den Fußball
tung und die hohen Kosten kamen der gefreut und wollten sich einfach amü-
(rechten) politischen Opposition gelegen. sieren. Mit dem Anpfiff war die Zeit der
Sie warf der Regierung Inkompetenz vor Proteste vorbei, die Zeit des Festes ge-
und hatte gleichzeitig Angst, ein mögli- kommen. Und man wollte auch vor den
cher WM-Sieg Brasiliens könne die Amts- zahlreichen Gästen aus dem Ausland
inhaberin Rousseff im Wahlkampf be- ein gutes Bild abgeben, brasilianische
günstigen. Die Regierung ihrerseits warf Freundlichkeit und Offenheit zelebrie-
der Opposition eine Lust am Scheitern ren und nicht genau in diesem Moment
(«Fracassomania») und damit eine unpa- innenpolitische Auseinandersetzungen
triotische Haltung vor. In dieser politisch austragen.
aufgeladenen Situation war es schwierig, Das Ausbleiben von größeren Protes-
berechtigte Proteste gegen die immensen ten und von «Chaos» führte bei der Re-
Kosten der WM-Stadien und die Aufla- gierung zu einer triumphalistischen Aus-
gen der Fifa auf die Straße zu tragen, ohne wertung der WM. «Wir haben gesagt,
gleich ins Fahrwasser der Propaganda der wir werden die beste WM aller Zeiten
rechten Opposition zu geraten. In Zeiten haben. Und wir hatten die beste WM al-
des beginnenden Wahlkampfs nahmen ler Zeiten. […] Wir haben ohne Zweifel
Proteste eine ganz andere Bedeutung an pessimistische Voraussagen besiegt und
als 2013. Viele politisch aktive Menschen, haben mit der enormen, herrlichen Betei-
die der Regierung Dilma durchaus kritisch ligung des Volkes diese beste WM aller
gegenüberstehen, sehen sie dennoch ge- Zeiten organisiert», schwärmte Präsiden-
genüber der Opposition als kleineres Übel tin Dilma Rousseff im Juli.3
an und verzichteten auf öffentliche Kritik. Dieser Triumphalismus ist genauso un-
Die WM war kein guter Moment für politi- angebracht wie der politisch motivier-
sche Differenzierungen.
Sicherlich hat auch der massive Einsatz 1 Zu diesen Protesten siehe die ausführlichere Darstellung
unten, Teil 2.4. 2 Portal Brasil, 14.7.2014. 3 Zu diesem und
von Repressionskräften dazu beigetra-
den folgenden Zitaten der Präsidentin vgl. http://globoespor-
gen, dass der Protest weit weniger heftig te.globo.com/futebol/copa-do-mundo/noticia/2014/07/dilma-
lamenta-derrota-da-selecao-mas-afirma-tivemos-copa-das-
ausfiel als erwartet. In ihrer Auswertung copas.html.
te Pessimismus vor dem Turnier. Denn tifizieren. Und die Mannschaft nahm
5
die Kritik an den horrenden Kosten, an die Herausforderung bereitwillig an:
der Vertreibung Tausender Familien aus «Die Spieler der seleção übernahmen ab
ihren Wohnungen, an der fehlenden dem ersten Spiel der WM die Rolle von
Nachhaltigkeit der Sportstätten, an den ‹Rettern des Vaterlandes›, des Vaterlan-
ignoranten Auflagen der Fifa und dem des in Fußballschuhen. Und das Singen
zweifelhaften wirtschaftlichen Nutzen der Hymne a cappella! Überzeugt von
der WM bleibt ja bestehen. Die demons- der Macht der medialen Inszenierung,
trativ zur Schau getragene Euphorie da- dass sie Super-Helden seien, und einge-
nach erinnert fatal an die übertriebene stimmt durch eine starke soziale Emotion
Siegesgewissheit vor dem Turnier. Wo- schulterten sie die unerträgliche Last, die
mit wir beim Sport wären. Probleme des Landes zu überspielen.»5
Bei der WM ging es ja nicht nur um Po- Welche Bürde die emotionale Aufla-
litik und Proteste, es wurde auch Fuß- dung für die jungen Sportler bedeutete,
ball gespielt, und teilweise aufregender, zeigten die Weinkrämpfe bei dem sieg-
intensiver Fußball. Zweifelsohne wird in reichen Elfmeterschießen gegen Chile.
der Geschichte des Fußballs wie auch im Das Gewicht der Nation lastete schwer,
nationalen Gedächtnis Brasiliens das 1:7 zu schwer auf den Schultern der jungen
im Halbfinale gegen Deutschland eine Spieler.
überragende Stellung einnehmen. Wie Die brasilianischen Fußballfunktionäre
konnte das nur passieren? Ist dies eine hatten nichts getan, um der Überfrach-
rein fußballerische Angelegenheit, oder tung entgegenzuwirken. Ganz im Gegen-
hat die Niederlage mit dem Zustand des teil. Im Vorfeld der WM zeigten sie sich
Landes zu tun? Sagt sie uns nur etwas von einer unglaublichen Weltfremdheit
über die brasilianische Mannschaft aus und Arroganz. Gefragt, ob er sich vor-
oder auch etwas über die Nation? stellen könne, auch einen ausländischen
«Brasilien vom Fußball aus zu denken», Trainer für die seleção zu engagieren,
das hat im Land selbst eine lange Tradi- antwortete José Maria Marin, der Präsi-
tion.4 Zwar mag der Fußball Brasilien dent des brasilianischen Fußballverban-
nicht erklären, aber er war immer eine des CBF: «Ich kann versichern, dass wir
«Art und Weise, mit der die Nation vor- nichts von einem Ausländer lernen kön-
zugsweise ihre Rechnungen mit sich nen, insbesondere beim Fußball. Wir hat-
selbst ritualisiert», stellte José Wisnik ten immer die Besten der Welt in Brasi-
fest, einer der einflussreichsten Interpre- lien. Wir haben schon fünfmal die WM
ten des brasilianischen Fußballs. Nach gewonnen.» Und der Technische Direk-
der heftigen Niederlage wollten Trai- tor der brasilianischen Mannschaft, Car-
ner und Fußballverband aber nichts von los Alberto Parreira, verkündete: «Der
weitreichenden Erklärungen wissen, für Weltmeister ist gekommen. Wir haben
sie war es nur ein Blackout von sechs Mi- die Hand am Pokal. Die CBF ist das Brasi-
nuten, der die jahrelangen Erfolge nicht
ausradieren könne. Nun wollte man leug- 4 Mehr dazu und zu den politischen Ereignissen vor der WM
in: Dilger, Gerhard u. a. (Hrsg.): Fußball in Brasilien. Widerstand
nen, was man seit dem Confederations
und Utopie, Hamburg 2014. 5 Dieses Zitat – wie auch die fol-
Cup stets getan hatte: das brasilianische genden – stammt aus einer Analyse von Jorge Luiz Souto Ma-
ior; vgl. http://blogdaboitempo.com.br/2014/07/17/moral-da-
Team, die seleção, mit der Nation zu iden- copa-a-fantasia-clama-pela-racionalidade/.
lien, das Erfolg hat.» Solche Siegesrheto- derlage unbeschadet überstanden, le-
6
rik wurde täglich im Fernsehen reprodu- diglich Trainer Felipe Scolari (der die WM
ziert und verstärkt. Emotionalität wurde noch als fußballerischen Erfolg verkau-
zum letzten gedanklichen Horizont, wie fen wollte) musste gehen; aber die Er-
der argentinische Philosoph Pablo Ala- nennung von Carlos Dunga, der schon
barces treffend konstatierte. Dadurch bei der WM 2010 eine glanzlose Mann-
ging jedes Gefühl für eigene und fremde schaft trainiert hat, ist sicherlich kein Sig-
Schwächen und Stärken verloren. nal für einen neuen Aufbruch.
Der Versuch von Funktionären, Medien Und auch in der Politik ist nach den mar-
und Trainer, die offensichtlichen Defizi- kigen Ankündigungen der Alltag einge-
te der brasilianischen Mannschaft durch kehrt und wird die Niederlage rhetorisch
emotionale Aufladung zu kompensie- aufgelöst. In der bereits zitierten WM-
ren, funktionierte nur bis zum Spiel ge- Auswertung von Präsidentin Rousseff
gen Deutschland. «Die Verkleidung, die kommt sie auch kurz auf den Fußball zu
so sehr eingesetzt worden war, rächte sprechen: «Wir hatten da ein Problem,
sich und brachte die Realität zurück ins das war unser Spiel gegen Deutsch-
Spiel: ‹Deutschland 7, Brasilien 1›. Der land. Aber ich glaube, dass alles im Le-
Hochmut, die technischen Mängel, die ben Überwindung ist. Ich glaube, dass
fehlende Organisation, die exzessive die Zeile aus einem Samba von Paulo
Verbindung des Fußballs mit Politik und Vanolini, ‹Steh auf, schüttele den Staub
Kommerz führten zu dieser historischen ab und komm wieder hoch›, uns ein Bei-
Schmach. Aber das war notwendig, nur spiel geben sollte angesichts dessen,
ein GAU konnte Brasilien aus dem tiefs- was geschehen ist.»
ten Abgrund der Irrationalität herausho- Damit will sich die rechte Opposition
len, in dem es sich befand.» nicht zufriedengeben und versuchte,
Die Einschätzung, dass derbe 1:7 sei ein die Niederlage für einen Angriff auf die
Einbruch des Realitätsprinzips in eine Regierung zu nutzen. Charakteristisch
Welt der Überheblichkeit und fragwürdi- hierfür ist die Äußerung einer brasiliani-
ger Inszenierungen gewesen, eröffnet ei- schen Dolmetscherin nach dem 1:7, die
ne optimistische Perspektive: Die Realität das deutsche Fußballmagazin 11 Freun-
zu erkennen ist der erste Schritt zur Ände- de veröffentlichte: «Das war mehr als
rung. Dies erhofft sich auch Juca Kfouri, nur ein Fußballspiel. Es ist der Endpunkt
der vielleicht wichtigste Fußballkommen- in der Geschichte von brasilianischen
tator Brasiliens: «Das Vermächtnis der Schwindlern, die meinen, ihr Geld zu ver-
WM für den brasilianischen Fußball muss dienen, ohne zu schwitzen, die Staats-
die dringende Reform seiner Methoden männer werden wollen, ohne ein Stu-
und Organisation sein und damit die De- dium zu absolvieren.» Eine deutliche
mokratisierung seiner Praktiken.» Dem Anspielung auf Brasiliens Ex-Präsidenten
stimmte Präsidentin Dilma Rousseff zu: Lula, den die Opposition immer wieder
«Die große Lektion der WM ist die Not- als Semi-Analphabeten zu diffamieren
wendigkeit, den Fußball zu reformieren.» versuchte. So ist es also nun für manche
Den großen Worten sind bisher keine Ta- nicht mehr die Nation, das Team oder der
ten gefolgt. Die Spitzenfunktionäre des Verband, die auf dem Spiel und in der Kri-
brasilianischen Fußballs haben die Nie- tik stehen, sondern die Regierung.
GESCHÄFTE, REPRESSION UND PROTESTE –
7
EINE BILANZ
Schneeballeffekt und die renommierte Unternehmensbe-
oder Gentrifizierung? ratung Ernst&Young erstellt haben. Sie
Sportliche Megaevents werden üblicher- wurden im Vorfeld der WM immer wie-
weise nicht primär mit ihrem Spaßfak- der zitiert und als Beleg für die positiven
tor gerechtfertigt, nein, sie sollen einen Effekte herangezogen.6
Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung Eine fundierte Analyse der wirtschaft-
des Austragungslandes leisten. Sie sei- lichen Effekte der WM liegt bisher (Ok-
en nicht nur ein vorübergehendes Fest, tober 2014) nicht vor. Dennoch lassen
sondern hinterließen ein dauerhaftes «Er- sich – gerade angesichts der so hoch ge-
be» im Land und leisteten einen Beitrag schraubten Erwartungen – einige erste
zu dessen wirtschaftlicher Entwicklung. Schlussfolgerungen ziehen.
Nun sind die Auswirkungen der letzten Ein positiver makroökonomischer Ef-
beiden Weltmeisterschaften (in Deutsch- fekt der WM ist bislang nicht feststell-
land und Südafrika) auf Ökonomie und bar. Statt von einem Schneeballeffekt zu
Infrastruktur recht eingehend untersucht profitieren, weist die brasilianische Wirt-
worden, und es herrscht Konsens, dass schaft ausgerechnet 2014 die niedrigs-
positive Effekte – wenn sie überhaupt zu- ten Wachstumsraten seit Langem auf,
verlässig feststellbar sind – sehr gering die industrielle Produktion geht zurück.
oder eher lokal sind. Das sollte in Brasi- Der kleine Schneeball WM ist offensicht-
lien alles ganz anders werden. Im «Vater- lich in der makroökonomischen Hitze
land der Fußballschuhe» erschien es zu- ganz schnell und folgenlos geschmol-
mindest glaubwürdig, dass, anders als in zen. Schlimmer noch, ausgerechnet der
Südafrika, die fußballbegeisterte Bevöl- brasilianische Wirtschaftsminister Gui-
kerung die Stadien auch nach der WM do Mantega macht nun die WM für die
nutzen könnte. Aber die Regierung woll- enttäuschende ökonomische Perfor-
te und versprach viel mehr. «Die Ökono- mance verantwortlich. In dem Versuch,
mie wird sich wie ein Schneeball entwi- das schlechte Abschneiden der brasilia-
ckeln und in der Lage sein, den Effekt der nischen Wirtschaft im 2. Quartal 2014 zu
Investitionen zu vervierfachen. Über die erklären (0,6 Prozent Rückgang des Brut-
22 Milliarden Reais hinaus, die in die In- toinlandsprodukts), führte Mantega die
frastruktur der WM investiert werden, zusätzlichen Feiertage während der WM-
sollte die WM 112,79 Milliarden Reais in Spiele als einen Grund an.7
die Wirtschaft einspeisen. Von 2010 bis Das mag nun stimmen oder nicht, be-
2014 erwarten wir 3,63 Millionen neue merkenswert ist jedenfalls, dass im
Arbeitsplätze und 63 Milliarden Reais an Quartal, in dem die WM stattfand, die
zusätzlichen Einkommen für die Bevölke- brasilianische Wirtschaft schrumpfte.
rung.» Aber eine WM bringt natürlich TouristIn-
Diese fantastischen Zahlen stammen
nicht aus einer Propagandaschrift der
6 Vgl. http://fgvprojetos.fgv.br/sites/fgvprojetos.fgv.br/files/
Regierung, sondern aus einem Gutach- estudo_9.pdf. 7 Vgl. www1.folha.uol.com.br/mercado/
2014/08/1507858-mantega-diz-que-pib-ficou-abaixo-do-
ten, das die Fundação Getulio Vargas esperado-e-que-vai-rever-estimativas.shtml.
nen ins Land. Hat also wenigstens die- eine kontinuierliche Nutzung des Stadi-
8
ser Sektor profitiert? Unbestritten stei- ons ist nicht in Sicht. Zwar verlegen die
gen die Besucherzahlen anlässlich von populären Clubs aus Rio de Janeiro wie
Weltmeisterschaften deutlich an, insbe- Flamengo oder Fluminense gelegentlich
sondere in Städten, die sonst nicht am ihre Spiele in die Hauptstadt, aber die-
internationalen Massentourismus teil- se Gastspiele und einige Rockkonzerte
haben. Dies ist auch in Brasilien passiert. werden allenfalls die laufenden Kosten
Aber die Gesamtbilanz ergibt ein überra- begleichen können. «Im ersten Jahr seit
schendes Bild. Zwar nahm die Zahl der der Einweihung erzielte das Stadion Ein-
TouristInnen in Brasilien stark zu, und nahmen von 1,37 Millionen mit 30 Fuß-
das zuständige Ministerium preist deren ballspielen und Shows, darunter einer
Konsumfreudigkeit (1,58 Milliarden Re- mit Beyoncé […]. So wird es genau 1167
ais) als großen Erfolg. Aber zur gleichen Jahre dauern bis zur Amortisierung der
Zeit stiegen auch die Ausgaben der bra- Baukosten.»9
silianischen TouristInnen im Ausland – Die Gelder für die neue Spielstätte kamen
und die Bilanz ist negativ. Denn in den zu 100 Prozent aus öffentlichen Mitteln.
beiden Monaten der WM gaben brasi- Das Stadion Mané Garrincha bündelt
lianische TouristInnen im Ausland 4,41 somit die zentralen Probleme bei vielen,
Milliarden Reais aus.8 Die Weltmeister- aber keineswegs allen neuen Stadien: ex-
schaft als Förderung der heimischen plodierende Baukosten, fehlende dauer-
Wirtschaft – bisher ist dies durch Zahlen hafte wirtschaftliche Nutzung, und das
nicht zu belegen. alles zulasten der öffentlichen Hand.
Auch die vielfach vorgebrachte Kritik an Arena da Amazônia in Manaus: Die
den überteuerten Stadienbauten ist nach Schönheit hat 669,5 Millionen Reais ge-
dem Turnier nicht obsolet. Tatsächlich kostet, auch hier alles öffentliche Mittel.
haben die enormen Kosten der Baupro- Weil keiner der Clubs aus Manaus dort
jekte entscheidend dazu beigetragen, Fußball spielt, will die Landesregierung
dass die WM in Brasilien die teuerste al- das Stadion an private Investoren über-
ler Zeiten wurde. Drei Beispiele mögen geben. Eine Studie über die mögliche
das verdeutlichen Nutzung der Arena ist in Auftrag gege-
Das Nationalstadion Mané Garrincha in ben – bei Ernst&Young, denselben, die
Brasília: Die Baukosten von 1,78 Milliar- den Schneeballeffekt voraussagten. Sie
den Reais haben das Stadion der Haupt- jedenfalls gehören zu den Profiteuren der
stadt zu dem teuersten der WM und ei- WM, eine Million kostet allein das Gut-
nem der teuersten der Welt gemacht. achten, das bis Ende August vorliegen
Allerdings herrscht kein Konsens über sollte, aber bis jetzt (Oktober 2014) nicht
die tatsächlich ausgegebene Summe, veröffentlicht wurde. Aufschlussreich
die hier genannte Zahl stammt vom Lan- auch, dass ein Gutachten für die wirt-
desrechnungshof Brasílias (DF), die Re- schaftliche Nutzung des Stadions erst
gierung selbst gibt «nur» Kosten in Höhe jetzt erarbeitet wird.
von 1,4 Milliarden Reais zu. Ursprüng-
8 Vgl. http://g1.globo.com/economia/noticia/2014/08/gasto-
lich geplant waren 631 Millionen Re-
de-estrangeiros-no-brasil-sobe-60-na-copa-e-bate-recorde.
ais. Keiner der Fußballvereine in Brasília html. 9 Vgl. http://copadomundo.uol.com.br/noticias/reda-
cao/2014/04/04/estadio-mais-caro-da-copa-pode-levar-mil-
spielt in einer der drei nationalen Ligen, anos-para-recuperar-custo-ao-df.htm.
Maracanã in Rio de Janeiro: Das berühm- wie die Milliardensummen helfen sollten,
9
teste Stadion Brasiliens, Schauplatz des die Krise des brasilianischen Fußballs zu
Endspiels, wurde zur WM für sagenhaf- überwinden. Auch in der Meisterschaft
te 1,1 Milliarden Reais umgebaut. Da- 2014 kommt die erste brasilianische Liga
bei war es bereits für die Pan-Amerika- nicht über einen Zuschauerschnitt von
nischen Spiele 2007 komplett saniert 15.844 pro Spiel hinaus (Stand: Anfang
worden (Kosten 428 Millionen Reais), Oktober 2014).10 Das liegt zwar leicht
verbunden mit dem Versprechen, es sei über dem Wert von 2014 (14.955), aber
dann schon fertig, falls Brasilien den Zu- deutlich unter dem besten Wert der letz-
schlag für die Weltmeisterschaft 2014 er- ten zehn Jahre, 17.807 im Jahr 2009.
halten sollte. Der Umbau des Maracanã Die brasilianischen Fußballfunktionä-
illustriert eine Entwicklung, die man als re weisen darauf hin, dass die Durch-
Gentrifizierung bezeichnen kann und schnittszahlen in den neuen Stadien hö-
die viele Fußballfans ablehnen: Die Zu- her sind als in den alten – aber liegt das
schauerkapazität sank von ursprünglich an den Spielstätten oder an den Verei-
180.000 auf knapp 75.000, die Stehplät- nen, die dort spielen? Die populärsten
ze fielen weg, dafür baute man zahlreiche Clubs Brasiliens (Flamengo, Fluminense
Luxuslogen ein. und Corinthians) spielen in neuen Stadi-
Auch der Umbau des Maracanã wur- en, den augenblicklichen Zuschauerre-
de selbstredend mit öffentlichen Gel- kord hält aber der FC São Paulo im «al-
dern finanziert. Seine wirtschaftliche ten» Morumbi-Stadion, das für die WM
Nutzung hat die Stadtregierung nun nicht in Betracht gezogen wurde.11
aber einem privaten Konsortium über- Während die Zuschauerzahlen weiterhin
geben, das jährlich fünf Millionen Reais auf niedrigem Niveau vor sich hin düm-
an die Staatskasse überweist und sich peln, sieht es bei den Einnahmen und Ti-
verpflichtete, 600 Millionen Reais in das cketpreisen ganz anders aus. Seit 2002
Umfeld der Sportstätte zu investieren, stiegen die Eintrittspreise um 478 Pro-
unter anderem für den Bau eines Shop- zent (zum Vergleich, die Inflationsrate lag
pingcenters. Allerdings sind die dafür im selben Zeitraum bei 98,13 Prozent), al-
notwendigen Abrissmaßnahmen durch lein im Jahr 2014 um stolze 15 Prozent.
Proteste verhindert worden, sodass die Der durchschnittliche Eintrittspreis liegt
Erfüllung dieses Teils des Vertrages unsi- inzwischen bei 51 Reais (17 Euro), viel
cher ist. Geld in Brasilien. Wenn die WM hier ei-
Der Bau der Stadien für die WM in Bra- nen messbaren Effekt hat, dann ist es
silien war in die Logik des Megaevents wohl die weitere Forcierung der «Elitisie-
eingebettet. Die enormen Ausgaben für rung» des Fußballs.12
zwölf Stadien (mehr als die Fifa forderte)
sind nur als Teil eines nationalen Prestige-
projekts verständlich – und gerade des-
halb umstritten. Sie sind – von einigen 10 Vgl. http://globoesporte.globo.com/futebol/brasileirao-
serie-a/publico-brasileirao.html. 11 Eine Übersicht über die
Ausnahmen wie São Paulo oder Porto letzten zehn Jahre findet sich unter: http://globoesporte.globo.
com/platb/olharcronicoesportivo/2013/12/18/renda-recorde-
Alegre abgesehen – nicht mit den Struk-
publico-nem-tanto-o-brasileirao-2013/. 12 Eine Übersicht gibt
turen des lokalen Fußballs verknüpft, es unter: http://oglobo.globo.com/esportes/distante-do-pad-
rao-copa-futebol-brasileiro-ve-preco-dos-ingressos-disparar-
und es ist nicht ersichtlich, warum und 361-em-10-anos-13331403#ixzz3FFLHZdXK).
Description:das Modell Fifa-WM Brasilien wohl nicht . über die brasilianische Mannschaft aus .. 17 Vgl. http://apublica.org/2013/01/chefoes-mafia-fifa/.