Table Of ContentAMERIKA-DISKURSE DER SURREALISTEN
Susanne Klengel
Amerika-Diskurse
der Surrealisten
»Amerika« als Vision und als Feld
heterogener Erfahrungen
Verlag J.B. Metzler
Stuttgart· Weimar
Zugl.:Diss. in Lateinamerikanistikam Fachbereich
Ncucrc Frcmdsprachliche Philclogien derFreien Universitat Berlin
DieDeutscheBibliothet - CIP-Einheitsaufnabme
11:1 11..1.s ,
Amerika-DlskursederSurrealisten:"Amenka«alsVision und
al!FeldhererogenerErfahrungenI SusanneKtenget.- Stuttgart
:Metzler,199<4
(Mell:ler-Sludienausgabel
Zugl.:Berlin,PreteUrnv.,Diss.
ISBN978-3-476-01252-4
ISBN978-3-476-01252-4
ISBN 978-3-476-03557-8 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-03557-8
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©
1994 Springer-Verlag GmbH Deutschland
Ursprunglich erschienen bei J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel
Verlag GmbH in Stuttgart 1994
EIN BIJCH DER SPEKTRL'M FACHYERtACE GMBH
Einleitung
I. "Der Surrealismus zwischen Alter und Neuer Welt"
1. "Leibraume" des Surrealismus
Voraussetzungen einer surrealistischen Topologie 19
2. Zentrum und Peripherie - Dezentrierungsversuche
a) Ein peripherisches Paris 27
b) Ein marginales Europa 33
3. Vermessung der surrealistischen Topographie (I)
a) Exotismus und Internationalisierung 37
b) Imagologie der "Neuen Welt" 42
II. "Amerika" - ein utopischer Diskurs: Visionen einer neuen Kultur
l. Traum und Konstruktion eines idealen Ortes der Konvergenz 53
a) SchloB-Metaphorik und "mythe de l'androgyne" 54
b) "point supreme" und "mythe nouveau" 57
2. "Zurtick zum Ursprung" _..
Die surrealistische Sicht des autochthonen Amerikas
a) Antonin Artauds "Mexiko" 61
b) Das autochthone Mexiko und Amerika der Surrealisten 65
3. Pierre Mabille, Juan Larrea, Wolfgang Paalen, Alejo Carpentier:
Aspekte des real maravilloso 74
a) Mabilles Konzept der "egregores" und des "merveilleux" 75
b) Juan Larreas (n/N)eue Welt 81
c) "10 real maravilloso" - Carpentiers amerikanistische
Intertextualitat 90
v
III. Amerika- ein topologischer Diskurs
1. Avantgarde und Heterogenitat:
Surrealismus und die kulturell Anderen 105
2. Vermessung der surrealistischen Topographie (II):
Historiographie des Surrealismus und Neulekturen
(Frida Kahlo zum Beispiel ...) 116
3. Dekonstruktion des utopischen Diskurses:
Bretons "beaute convulsive" - eine offene Asthetik? 127
a) Teneriffa - eine surrealistische Insel? 130
b) Anzeichen fiir eine topologische Wahrnehmung 137
IV. Umschreitung / Umschreibung der Orte
1. Eine kulturelle Hermeneutik der Surrealisten? 153
a) Die "Anthologien" der Surrealisten als Suche nach einem
anderen Kanon 161
b) Kulturelle (Re-)Interpretationen und die "Kontamination"
der Diskurse auf den amerikanischen Terrains 167
2. Entstehung eines Wegenetzes
a) Walder, Labyrinthe 173
b) Insel-Aspekte 183
c) Die Vielfalt des Autochthonen 191
3. Topologische Aspekte bei Alejo Carpentier:
surrealistisch-ethnographische Blicke auf Havanna 203
4. Topologische Erfahrungen als Bestandteil der Amerika
Diskurse im Surrealismus - Zusammenfassung 210
Nachwort 215
Bibliographie 221
Abbildungen ab Seite 233
VI
Einleitung
Dans les annees 80. la relativisation desattitudes occidentales a debouche
sur une nouvelleapprochedescultures nonoccidentales avec unsentiment
fascine de la realite de leurdifference. vuenon comme un romantisme du
noble sauvage, mais comme un interet pour Ie futur, interet partage et
verirablementmutuellementdependant.
ThomasMcEvilley:"Ouverturedupiege:I'exposition postmodemeetMagi
densde laTerre"
Nicht vom "Anderender Natur",ihrem teilnahmslosen Selbstsein, sondem
vom "Anderen des Menschen", der Anerkennung des Mitmenschen in
seinem Selbstsein und Andersseinkonnen, das uns die Kunst zwanglos
vermittelt, sindNormen zuerwarten,die derVerantwortungdes Menschen
gegenuber derNaturgerechtwerden.
HansRobertJauB:Studien zum Epochenwandel derasthetischenModerne
SeitJahrzehnten stelltderSurrealismus einen facettenreichen Untersuchungs
gegenstand in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung dar, deren Dyna
mik bis heute kaum nachgelassen hat. Die erste umfassende Geschichte des
Surrealismus wurde bereits im Jahre 1945 von Maurice Nadeau verfaBt, dec
darin die Avantgardebewegung mit dem Jahre 1939 fur beendet erklarte.Wie
wenig diese Feststellung zutraf, belegen die wahrend dec Zeit des Exils in
Amerika und danach anhaltenden surrealistischen Aktivitaten und deren brei
te, internationale Rezeption ebenso wie der sich stetig erweiternde Bestand
historiographischer und kritischer Sekundarliteratur nicht nur zum Surrealis
mus der Zwischenkriegszeit, sondem auch zur Periode nach 1939. Wie die
Bewegung des Surrealismus selbst seit dem Jahre 1919 (Entstehung des Tex
tes Les champs magnetiques von Andre Breton und Philippe Soupault) ei
nem historischen Wandel unterworfen war, so haben sich auch in den ver
gangenen Jahrzehnten die Fragestellungen der Surrealismusforschung ver
andert, Von den zahlreichen historischen Untersuchungen in den 50er und
60er Jahren aus den Reihen der Surrealisten selbst (etwa Marcel Jeans Hi
stoire de la peinture surrealiste, Jose Pierres Le surrealisme, Jean-Louis Be
douins Vingt ansde surrealisme. 1939-1959, PatrickWaldbergs Lesurrealis-
me) hat sieh iiber eine politisehe und ideologiekritisehe Auseinandersetzung
in der Folge der 68er Ereignisse (etwa Peter Biirger in seiner Theorie der
Avantgarde) die wissensehaftliehe Auseinandersetzung auf ein immerbreite
res Feld mit Fragestellungen zur Gesehiehte, zur Theorie und Asthetik hin
geoffnet.' In den 80er Jahren reflektiert sieh in zunehmendem MaBe die in
ternationale diskurstheoretisehe Diskussion in dieser Auseinandersetzung,
und es rticken damit Momente des Surrealismus ins Blickfe1d, die vorher
keine oder eine eher unbeachtete Rolle gespie1thatten. Irn Rahmen der vor
liegenden Arbeit interessieren vor al1emdie kuIturtheoretischen Fragestellun
gen dieser internationalen Debatte- jenes breiteThema der Alteritat und der
kulturellen Heterogenitat, das in ihr einen zentralen Ort einnimmt. Eine er
neute Betraehtung des Surrealismus unter diesen Gesichtspunkten konzen
triert sich daher aufdie Begegnungen der Surrealisten mit den Realitaten der
kulturell Anderen und paradigmatisch auf deren Verhaltnis zu den nicht-ok
zidentalen Kulturen, die in der surrealistiseben Asthetik von Beginn an eine
wichtige Rolle spieIten.
Zwei internationale Kunstausstellungen der 80er Jahre, die nieht nur kunst
wissensehaftliehe, sondern auch kulturtheoretische Diskussionen auslosten,
machen dieses anders gelagerte Interesse am Surrealismus beispielhaft sicht
bar. Die Ausstellungen "Primitivism" in 20th Century Art. Affinity of the
Tribal and the Modern des New Yorker Museum of Modern Art im Jahre
19842 und Magiciens de la Terre des Pariser Musee de l'Art Modeme im
Jahre 1989 leisteten aus unterschiedlicher Perspektive zur Theorie tiber die
Kunst des 20. Jahrhunderts dadurch einen wesentlichen Beitrag, daBsie un
ter historischen und ku1turtheoretischen Vorzeichen der gewichtigen Rolle
der "cultures autres" Rechnung trugen.Beide Ausstellungskonzeptionen stan
den im Zeiehen des gewandelten asthetischen und kulturtheoretischen Dis
kurses, der sich im Rahmen der internationalen Postmoderne-Debatte der
80erJahre entfaltet hat.' Im Eingestandnis von William Rubin. dem Organi-
1 Vgl. die Aufsatzsammlung zumThema "Histoire - Historiographie"des Surrealismus in
Melusine XI,1990.
2=Rubin (Hg.)41988.
3 Bis heute dient daher auch die New Yorker Ausstellung im Rahmen von kulturtheoreti
schen Diskussionen immer wieder alsBezugspunkt (vgl.etwaJamesClifford: "Historiesof the
Tribal and the Modem" in Clifford 1988: 189-214undGarda Canclini 1990: 51 f.; vgl. auch
Kunstforum 118["Weltkunst-Globalkultur"], 1992.insb. 176-207).
2
sator der New Yorker Ausstellung, daB die Nichtbeachtung des Aspekts des
"primitivism" inseinen friiheren Ausstellungen tiberDada und den Surrealis
mus ein schwerwiegender historischer Fehler gewesen sei, kornmt dieser
Paradigmenwechsel, der sich in den letzten Jahrzehnten vollzogen hat, deut
lich zum Ausdruck."
Zwischen heiden Ausstellungen besteht jedoch ein wesentlicher Unterschied
in ihrer Fokussierung auf den kdnstlerischen Beitrag der kulturell Anderen.
Die New Yorker Ausstellung thematisierte die "affinity of the tribal and the
modem vor allem auf der Ebene der Gegenstande, durch die sich die
It
Avantgardekiinstler inspiriert fi.ihlten. In den Katalogbeitragen werden die
Lektureakte und Interpretationen der nicht-okzidentalen Kunstgegenstande
durch die Kunstler der Avantgarde unter ihren historischen Bedingungen
detailliert rekonstruiert. In der Ausstellung Magiciens de La Terre hingegen
sollten die kulturell Anderen in ihrer Subjektivitat selbst zu Wort kornmen
als Kiinstler, deren Werke gleichberechtigt neben den Werken der okzidenta
len Ktinstler stehen. Thomas McEvilley, der durch seine heftige Kritik an
der New Yorker Ausstellung Aufsehen erregt harte,' bezeichnete daher in
seinem Katalog-Beitrag das Pariser Ausstellungsprojekt als einen Versuch,
mit Hilfe einer postmodemen Ausstellungsstrategie die Dominanz eines noch
irnmer weithin giiltigen universellen, modernistischen Kunstkanons, der das
kulturell Andere bisher lediglich vereinnahmt habe, in Frage zu stellen:
"Magiciens de la Terre" est une tentative marquante d'execution d'une strategic
d'expositionpostmodeme- c'est-a-direune strategicqui essaieconsciemmentde
negliger les croyances modernistes vis-a-vis des canons universels, de l'histoire
dominee par Ieprogres,et de la realite transcendante de la forme pure,"
In beiden Ausstellungskonzeptionen wird auf die historischen Avantgardebe
wegungen und insbesondere auf den Surrealismus verwiesen. In der New
4 Rubin (Hg.)41988:IX; Rubin bezieht sich aufdie beiden von ihm organisierten Ausstel
lungen Dadaand Surrealism und Dada,Surrealismand theirHeritage im Jahre 1968(vgl.Ru
bin I968aund Rubin I968b).
5 Die New Yorker Aussteltung (Mitorganisator war Kirk Varnedoe) hat eine inzwischen in
die Annalender KunstkritikeingegangenePolemikzwischenden Organisatorenunddem Kunst
kritiker Thomas McEvilley hervorgerufen, der den Kuratoren eine mangelnde Reflexion ihrer
okzidentalen Perspektive vorwarf. Die Diskussion ist in Discourses: Conversations in Postmo
dunArt and Culture 1990:339-405 wicdergcgcbcn.
6McEviIley 1989: 22.
3
Yorker Ausstellung stehen die Avantgarde-Bewegungen im Zentrum einer
vorwiegend asrhetischen und historischen Auseinandersetzung, in der Pariser
Ausstellung werden sie (weniger ausftihrlich) unter kulturtheoretischen Ge
sichtspunkten erwahnt. Beide Kataloge enthalten jedoch die Abbildung eines
der wichtigsten Dokumente, das eine friihzeitige und weitreichende Beschaf
tigung mit den nicht-europaischen Kulturen belegt: Es handelt sich urn eine
surrealistische Weltkarte mit einer stark deformierten Darstellung der Kon
tinente, durch die das okzidentale Weltbild und die darin vermittelte Auffas
sung tiber das Verhaltnis von politisch-kultureller Zentralitat und Peripherie
polemisch ins Gegenteil verkehrt wird (vgl. Abb. I).
Nachdem in der Surrealismusforschung lange Zeit vor al1em der politisch
emanzipatorische Anspruch und die Kritik an der btirgerlichen Gesellschaft
im Vordergrund gestanden hatten, wird auf diese Weise der Zusammenhang
zwischen dem rationalitatskritischen Diskurs der Surrealisten und deren spe
zifiscbem Verhaltnis zu den nicht-okzideutalen Kulturen besonders hervor
gehoben. Dieser gewande1te Diskurs wirkte sich auch deutlich in der Aus
stellung tiber Andre Breton im Pariser Centre Georges Pompidou des Jahres
1991 aus. Unter dem Titel Andre Breton: La beaute convulsive wurde Bre
tons Asthetik durch die Rekonstruktion seiner Sammlungen in ihrer ganzen
Breite vor Augen gefiihrt. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Ge
stus der Enthierarchisierung, mit dem - vor einem breiten Publikum - Wer
ke vergangener Jahrhunderte, Gernalde surrealistischer Kunstler, objets trou
vis,ready-mades und die Gegenstande nicht-okzidentaler Kulturen (Masken,
Figuren, Puppen und lihnliches) gleichberechtigt nebeneinandergestellt wur
den, so wie es den ursprunglichen Anordnungen in den Privatsammlungen
entsprach.
Der Blick auf die drei genannten und vieldiskutierten Ausstellungen sollte
verdeutlichen, daBder Surrealismus im Rahmen der kulturtheoretischen und
asrhetischen Debatte der 80er Jahre rUckblickend in einen neuen Kontext
gestellt wurde. Bei dieser Neubetrachtung erweisen sich die Vielzahl und die
Verschiedenartigkeit der auftretenden Formen, der kunstlerischen Kodes, der
asthetischen Experimenteebenso wiedie Begegnungen mit Ausdrucksformen
anderer kultureller Universen in den historischen Avantgarde-Bewegungen
4