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OTTO PACHT
Altniederlandische
Malerei
Von
Rogier van der Weyden
bis Gerard David
Herausgegeben
von
Monika Rosenauer
Pre s tel
U mschlag9ild:
Hugo van der Goes
Der Sündenfall (Detail).
Wien, Kunsthistorisches Museum
Frontispiz:
Rogier van der Weyden,
Columba-Altar. Linker Flügel (Detail).
München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufilahme
Pächt, Otto:
Altn.iederländische Malerei:
Von Rogier van der Weyden bis Gerard David /
Otto Pächt. Hrsg. von Monika Rosenauer.
- München: Prestel, 1994
ISBN 3-7913-1389-4
NE: Weyden, Rogier van der [Ill.J
Konzept und Produktion
Michael Pächt
© Michael Pächt, München 1994
Reproduktionen: Schwitter AG, Basel (Farbe)
Karl Dörfel Reproduktionsgesellschaft mbH, München (Schwarz-Weiss)
Satz: Offizin Chr. Scheufele, Stuttgart
Druck und Bindung: Passavia Druckerei GmbH, Passau
Printed in Germany
Inhalt
•
Vorwort 7
Vorbemerkung 9
Rogier van der Weyden II
Farbtafeln 1-8 Seite 57-64
Petrus Christus 77
Aelbert van Ouwater 91
Dieric Bouts 99
Justus van Gent 145
Hugo van der Goes 155
Farbtafeln 9-24 Seite 177-192
Geertgen tot Sint Jans 21!
Hans Memling 227
Farbtafeln 25-32 Seite 223-240
Gerard David 245
Ausfalttafel nach Seite 252
Editorische Notiz - Dank 254
Anmerkungen 255
Bibliographie Otto Pächt 258
Verzeichnis der
angeführten Werke 259
Register 262
Photonachweis 264
Vorwort
Mit keinem anderen Thema der Kunstgeschichte hat sich Otto Pächt sein ganzes Leben
hindurch so kontinuierlich und gründlich auseinandergesetzt wie mit der altnicderländi
schen Malerei. Schon 1934 konnte der damals Zweiunddreißigjährige an seinen amerika
nischen Kollegen Meyer Schapiro schreiben: » Ich beschäftige mich seit etwa vierzehn
Jahren intensivst mit der altniederländischen Malerei ... , habe die Entwicklung aller be
deutenderen Künstlerpersönlichkeiten genau studiert und zu diesem Zweck unzählige
Einzelanalysen und zwar Strukturanalysen gemacht und es ist nur traurig, daß dieses
intensive Studium - eine Arbeit, die besonders um das Reifen des Sehens bemüht war -
aus meinem spät genug publizierten Aufsatz nirgends ersichtlich sein soll.« Mit dem
Aufsatz waren die 1932 veröffentlichten >Gestaltungsprinzipien der westlichen Malerei<
gemeint, der erste Teil von Pächts Heidelberger Habilitationsschrift, wo er es unter
nimmt, an Hand von exemplarischen Analysen ausgewählter Kunstwerke charakteristi
sche Züge, eben die Gestaltungsprinzipien, der flämischen und holländischen (übrigens
auch der französischen) Malerei des 15.Jahrhunderts nachzuweisen.
Von seinem achtzehnten Lebensjahr bis zu seinem Lebensende haben die Niederländer
Pächt nicht mehr losgelassen. Sein erster Aufsatz war einem Ouwaterproblcm gewid
met, diesem folgte ein wichtiger Beitrag zur Chronologie des Petrus Christus und eine
kühne Kritik an Friedländers drittem, Dieric Bouts gewidmeten Band seiner altnieder
ländischen Malerei. Einen der konzentriertesten und anspruchsvollsten Beiträge bilden
die schon erwähnten >Gestaltungsprinzipien<. Die Monographie über den Meister der
Maria von B11rgund und die fundamentale Kritik an Panofskys >Early Netherlandish
Painting< sind während der Emigration in England entstanden. Aus der Wiener Zeit
stammt ein Aufsatz, der eine neue Chronologie für Hugo van der Goes vorschlägt. Die
letzten eineinhalb Jahrzehnte seines Lebens hat Pächt der Katalogisierungjenes großarti
gen Schatzes an niederländischen Handschriften des 15.Jahrhundcrts gewidmet, den die
Wiener Nationalbibliothek beherbergt. Was bisher - wenigstens in gcdruckcr Form -
fehlte, war eine zusammenfassende Darstellung des gesamten Gebietes. Diese hat Pächt
seinen Studenten in zwei Vorlesungszyklen des Studienjahres 1965 / 66 an der Universität
Wien vermittelt. Die erste der beiden Vorlesungen über die Brüder van Eyck und den
Meister von Flemalle wurde 1989 veröffentlicht; nun liegt auch die zweite in Buchform
vor. Angefangen von Rogier van der Weyden, über Petrus Christus und Ouwater hin zu
Dieric Bouts, über Justus van Gent zu Hugo van der Gocs und schließlich über Geertgen
tot SintJans zu Memling und David wird der Leser mit den Protagonisten der altnieder
ländischen Malerei - oder richtiger: mit ihrer Kunst vertraut gemacht.
Der langjährige Umgang mit der Materie äußert sich insofern im Text, als bestim111te
Formulieruhgen und Wortprägungen an die Diktion der dreißiger Jahre erinnern - etwa
im Kapitel über Rogier die eindrucksvollen Wort-Ketten, die übrigens dem Phänomen
der Rogierschen Kunst ganz besonders gerecht werden. Im Kapitel über Petrus Christus
weist er eigens daraufhin, daß er Passagen aus seinem Aufsatz von 1926 übernimmt. So
nützlich der Hinweis auf die zeitliche> Vielschichtigkeit<f ür die Beurteilung des Textes
auch sein mag, so sollte er doch nicht den Eindruck erwecken, Pächt hätte seine Vorle
sungen aus älteren Texten einfach >kollagiert<. Seine Vorlesungen entstanden stets in
8 Vorwort
frischer Auseinandersetzung mit den Werken. Die Resultate dieser Augenarbeit - meist
hatte er Fotografien vor sich, daneben hat er immer wieder Reisen zu den Originalen
unternommen - hat er dann, praktisch druckfertig, in die Maschine geschrieben.
Als ausgezeichneter Pädagoge versucht Pächt seine Schüler und Leser zum selbständi
gen Sehen zu erziehen, sie optisch mündig zu machen. Für ihn ist das Kunstwerk ein
komplizierter Organismus, in den es sich gründlich einzusehen gilt - ein Exerzitium, um
dessen Wichtigkeit Pächt stets wußte. In dem zitierten Brief betont er bezeichnender
weise sein Bemühen um das »Reifen des Sehens«. Dabei geht es ihm darum, das Werk
nicht passiv von der Seite des Betrachters, sondern aktiv von der Seite des Künstlers zu
begreifen, die Probleme zu orten, mit denen sich der Künstler auseinanderzusetzen hatte,
wobei er gelegentlich so sehr in dessen Haut schlüpft, daß er zum Beispiel Rogier im
Zusammenhang mit der Grabtragungskomposition einen Regiefehler attestiert. Immer
wieder reflektiert er, wie sich Inhalt und Form gegenseitig bedingen, wie der Stil die
Gestaltung eines bestimmten Themas begünstigen kann.
Auch wenn die Unterteilung des Textes nach Künstlern den Eindruck einer Aneinan
derreihung von kleinen Monographien erwecken könnte, ist Pächt stets bestrebt, über
ein spezielles CEuvre hinaus Bezüge zu oft zeitlich weit entfernten Künstlern oder Kunst
werken herzustellen. Der Blick auf ein bestimmtes Kunstwerk soll durch Vergleiche mit
anderen Werken geschärft werden.
Die Resultate seines Sehens weiß Pächt stets auf souveräne Art in Sprache umzusetzen.
Aber es ist nicht nur das Auge, auf das es ihm ankommt. Das Wissen um die Historizität
des Kunstwerks bestimmt sein Denken und seine Anschauung. Man merkt dies auf
Schritt und Tritt - und es wird schon auf der ersten Seite deutlich, wenn er darüber
reflektiert, was es heißt, >zweite Generation< zu sein.
Eine immense Denkmälerkenntnis und - trotz der gelegentlich deklarierten Skepsis
gegenüber der Ikonologie - auch ein großes ikonographisches Wissen tragen zu neuen,
oft überraschenden Einsichten bei. Es beeindruckt zu beobachten, wie er es versteht, für
einzelne Werke Beziehungsfelder über weite Zeiträume hinweg sichtbar werden zu las
sen. Etwa, wenn er im Zusammenhang mit dem Johannes des Geertgen die Erinnerung
an die Anima aus dem karolingischen Stuttgarter Psalter, an Dürers >Melancholie< und
an meditierende Heilige oder Propheten im Schaffen Rembrandts evoziert.
Ohne Zweifel wird die Forschung über die altniederländische Kunst weitergehen.
Auch wenn damit zu rechnen ist, daß einzelne Ergebnisse in Zukunft modifiziert wer
den, so wird dieser Text zusammen mit dem .Eyck-Band für den mit sensiblen Augen
begabten Leser sicher noch lange die beste Einführung in die faszinierende und reiche
Welt der altniederländischen Malerei bleiben.
Artur Rosenauer
Vorbemerkung
Der Stoff dieser Vorlesung ist die Periode der altniederländischen Malerei, die nach der
Gründerzeit folgt, und ihre Entwicklung bis zum Ende des r 5. Jahrhunderts. Wir begin
nen mit Malern, die zweite Generation sind. Zur >zweiten Generation<z u gehören, ist ein
Wesensmerkmal auch des bedeutendsten unter diesen Künstlern, und das besagt, daß
zum historischen Verständnis ihrer Kunst die Kenntnis der Fundamente, auf denen sie
stehen, nötig ist. Mit anderen Worten, die Betrachtungen, die wir jetzt anstellen wollen,
setzen die Einsichten voraus, die wir im vergangenen Semester gewonnen haben. Da
aber selbst eine auszugsweise Rekapitulierung der Grundzüge der Neuschöpfung, die die
Malerei der van Eyck und des Meisters von Flemalle darstellt, den Rahmen der Vorle
sung sprengen würde, beabsichtige ich, nur fallweise durch gelegentliche flash-backs
dem Verständnis nachzuhelfen.
Was heißt das eigentlich, >zweite Generation< sein, was bedeutet es in unserem beson
deren. Fall? Je nach dem Grad der Abhängigkeit von den Pionieren und Schöpfern der
neuen niederländischen Malerei kann es Nachahmung oder Fortsetzung bedeuten, Fort
setzung im Süme einer Weiter- und sogar Höherentwicklung eines Wachstums, das be
reits eine erste Blüte getrieben hat. Für beides gibt es eklatante Beispiele in der Geschichte
der altniederländischen Malerei. Die sogenannte Exeter-Madonna des Petrus Christus
ist bekannt als Paraphrase der Kartäuser-Madonna des Jan van Eyck. Es ist zwar keine
Sacra Conversazione wie bei Eyck, auch keine Zentralkomposition, sondern eine, Anbe
tung der Mado1ma durch einen von einer Schutzheiligen empfohlenen Stifter, kein Trio,
sondern ein Duo, eine Konfrontation. Aber beinahe alle Motive, die in dieser etwas
anderen Situation verwendet werden, sind fast wörtlich aus Jans Bildwelt entnommen,
man könnte sagen, nicht viel mehr als eine Umstellung derselben Bausteü1e. Natürlich
hat die Entwicklung nicht ganz stillgehalten, ja das Bild des jüngeren Malers ist, wenn
man will, fortschrittlicher als sein Vorbild. Die Figuren stehen in einer luftigeren Halle,
das Verhältnis von Figur und Umwelt ist plausibler, die Perspektive ist richtiger als bei
Jan van Eyck. Und doch ist nicht ein Mehr, sondern ein Weniger das Resultat, eine
Simplifizierung, eine Verarmung: Eine geringere Intensität der Naturerfassung, kein
frisches Vis-a-vis der Natur gegenüber - das ließe sich besonders beim Porträt des Stif •
ters, der ja derselbe Kartäuserprior Dom Vos ist, leicht im einzelnen erweisen, ja in
manchem ein Rückschritt zu mittelalterlicher Formelhaftigkeit. Der Turm der hl. Bar
bara ist nicht ein Gebäude, das man wie zufällig im Fensterausblick hinter ihr sieht,
sondern wieder ein Attribut, das wie ein Architekturmodell hinter der Heiligen aufge
pflanzt ist und sogar von ihr gehalten wird. Die Darstellungsweise des Petrus Christus
hat nicht die unerbittliche Konsequenz der Eyckischen Schau, er ist bereit, einen Kom
promiß mit der ikonographischen Konvention zu schließen.
Das Gegenbeispiel ist das Verhältnis der Frühwerke Rogier van der Weydens zu ihren
Vorbildern oder Vorstufen im CEuvre des Meisters von Flemalle. Für jede Einzelheit im
Bildgut und der Motivik der großen Kreuzabnahme Rogiers wird man aus der Flemalle
schen Behandlung des gleichen Themas deutliche Ansätze, Vorahnungen, Vor-Bildun
gen nennnen können.' Aber trotz dieser massiven Entlehnungen und obwohl auch der
Gesamtentwurf der Komposition des Flemallers tief verpflichtet ist, ist die Ausprägung
der Bildgedanken, die sich Rogier angeeignet hatte, von einer so hohen Originalität, daß
seine und nicht seines Vorgängers Gestaltung des Themas sofort von den Zeitgenossen
IO Vorbe,nerkung
und weit bis ins r6. Jahrhundert hinein als die klassische Lösung empfunden und unzäh
lige Male kopiert und nachgeahmt wurde.
Vielleicht darf und soll man dazu auch sagen: Es ist nicht zufallig, daß Jan van Eyck
zwar den einen oder anderen Nachahmer, aber keinen Fortsetzer gefunden hat. Seine
Kunst war viel zu esoterisch und zu weit seiner Zeit voraus, als daß man von ihr eine
Brücke zu den von der spätmittclalterlichen Gesellschaft des Nordens noch immer als
legitim angesehenen künstlerischen Anliegen hätte schlagen können. Wir haben keinen
Grund anzunehmen, daß Jan nicht ganz auf dem Boden der zeitgenössischen Religiosität
und Pietät gestanden hat. Aber die in seiner Kunst sich dokumentierende Weltanschau
ung ist von der offiziellen Glaubenshaltung himmelweit entfernt. Ist doch seine Malerei
mit ihrer stummen Gegenstandswelt durch die vollkommene Neutralisierung des reli
giösen Ausdrucks oder Sentiments gekennzeichnet. Selbst diejenigen Forscher, die, wie
ich glaube zu Unrecht, in Jans Malerei einen religiösen Symbolismus verborgen sehen,
religiöse Ideen als Genremotive verkleidet, sprechen von einer pantheistischen Bejahung
des Universums in allen seinen Erscheinungen, gleichgültig ob Mensch, Tier oder tote
Materie. 2 Jedenfalls enthält selbst die These des verkleideten maskierten Symbolismus
implizite das Eingeständnis, daß in der äußeren Erscheinungsform religiöse Gedanken
säkularisiert wurden. Dies gilt für den Meister von Flcmalle ebenso wie für Jan van Eyck.
Bei Jan bedeutet der Stillebencharakter des Bildes noch das Stumm werden des Beseelten
und das Sprechendwerden des Unbeseelten, also eine wahre Umkehrung der im christli
chen Weltbild des Mittelalters herrschenden oder gewohnten Sinngebung und Akzent
verteilung. Die schwerste Gefährdung der Existenz der religiösen Kunst aber lag in ei
nem anderen Aspekt des Eyckischen Schaffens. Die radikale Reduktion der Gegenstände
der Malerei auf das rein Schau bare und die damit Hand in Hand gehende Eliminierung
alles Erzählerischen drohte mit einem Schlag die Altarmalerei eines Großteils ihres Re
pertoires zu berauben. Man bedenke nur: Im gesicherten CEuvre Jan van Eycks kommt
außer der Sacra Conversazione und der Verkündigung kein einziges der obligaten The
men vor. Hatte ein Altarmaler irgendein Thema aus der Heilsgeschichte oder den Heili
genlegenden zu gestalten, konnte er sich bei Jan keinen Rat holen. Mehr noch als das: In
Jans Bildsprache ließ sich für die meisten dieser Themen kein adäquater Ausdruck finden.
Selbst ein Meister wie Petrus Christus, der in Brügge ansässig war, also in der Stadt, in
der Jan im letzten Jahrzehnt seines Lebens gewirkt hatte, und der im weiteren Sinn als sein
Schüler gilt, nahm andere Vorbilder, wenn er größere Altaraufträge auszuführen hatte.
Für den einen von zwei Altarflügeln wählte er den Meister von Flemalle zum Vorbild, für
den anderen einen älteren Eyckischen Stil, den des Meisters des Turiner Stundenbuchs.
Modeme Formulierungen dieser Themen in der Eyckschule gab es offenbar nicht.
Unser Beispiel ist nur eines von vielen Symptomen einer Krise, in die der unum
schränkte Einbruch der phänomenalen Welt in die bildkünstlerische Gestaltung, der
grundsätzliche Empirismus der neuen Malerei die religiöse Kunst gestürzt hatte. Daß die
Gefahr eine reale war und nicht nur von uns in die historischen Fakten hineingesehen
wird, lehrt ein Blick auf die Entwicklung der zeitgenössischen englischen Kunst, {n der
es nach vielen Jahrhunderten produktiver und schöpferischer Tätigkeit gerade auf dem
Gebiet der narrativen Kunst - hundert Jahre vor der Reformation - zu einem völligen
Versiegen der einheimischen Produktion gekommen ist, so daß in steigendem Maß Aus
länder berufen werden mußten, um den noch existierenden Bedarf an religiöser Kunst zu
befriedigen. Den Niederlanden aber erstand noch ein Künstler, der der religiösen Malerei
neuen Lebensatem einblies, indem er den radikalen Impetus seiner großen Vorgänger in
konservativere Bahnen zu lenken verstand. Sein Name war Rogier van der Weyden oder,
wie er in seiner französisch sprechenden Heimatstadt genannt wurde, Rogelet.
Rogier van der Weyden
Aus den Urkunden läßt sich der Lebenslauf Rogiers in großen Zügen rekonstruieren,
wobei einige Nachrichten, die die Frühzeit betreffen, chronologisch nicht leicht zu rei
men sind und noch nicht ganz befriedigend interpretiert werden konnten.3 Um 1400 in
Tournai geboren, scheint er 1427 daselbst in die Werkstatt des Robert Campin als Geselle
eingetreten zu sein und sie 1432, im·Jahr der Vollendung des Genter Altars, als Maistre
verlassen zu haben. Im Mai 1436 war er bereits Stadtmaler von Brüssel und offenbar
schon hochgeehrt. Wir wissen ferner, daß er für das Rathaus der Stadt Gerechtigkeitsbil
der zu malen hatte, von denen zwei schon 1439 vollendet waren. Im Jubiläumsjahr 1450
pilgerte er, wie so viele, nach Rom. Mit dem Hof der Este in Ferrara war er anscheinend
schon vorher in Verbindung. Zu der Zeit war der Ruf der Kunst des >Rogerus Gallicus<
in Italien bereits weit verbreitet, für die italienischen Humanisten kam er im Rang gleich
nach Jan van Eyck, zu dessen Schüler sie ihn fälschlicherweise machten. r 464 ist er als
international berühmter Künstler in Brüssel gestorben.
Die Stilgeschichte sagt uns, daß der Meister von Flemalle Rogiers wahrer Lehrer ge
wesen sein muß, aus den Urkunden geht hervor, daß Rogier bei einem Robert Campin in
die Lehre gegangen ist. War der Werkstattinhaber auch zugleich die künstlerisch füh
rende Persönlichkeit, was im mittelalterlichen Atelierbetrieb keineswegs ausnahmslos
der Fall war, dann ist es gestattet, ja zwingend, den Meister von Flemalle mit Robert
Campin zu identifizieren. Aus Gründen aber, die ich an anderer Stelle bereits dargelegt
habe, bleiben wir bei dem Notnamen Meister von Flemalle. 4 Es ist so offensichtlich, daß
die stilistische Verwandtschaft zwischen einigen Werken des Meisters von Flemalle und
einigen frühen Bildern Rogiers eine derart enge ist, daß man es wagen konnte, dem noch
immer unkritischen Forum der kunsthistorischen Zunft die These vorzusetzen, es handle
sich um ein und dieselbe Person d. h. man behauptete, das von der Stilkritik mühsam
zusammengebrachte CEuvre des Meisters von Flemalle repräsentiere eine noch frühere
Phase des bekannten und von jeher berühmten Rogier van der Weyden. Heute braucht
diese These - der immerhin einer der größten Kenner der Materie, Max Friedländer
beizupflichten neigte5 - nicht mehr im einzelnen und expressis verbis widerlegt zu wer
den; hier möge es genügen, nur auf einen Umstand hinzuweisen, der für die Genesis der
Kunst Rogiers von großer Wichtigkeit ist und die verschiedene zeitliche Ausgangssitua
tion der beiden Maler deutlich erkennen läßt.
Die allerfrühestcn Werke, die wir mit Rogicr in Verbindung bringen können, setzen
nämlich nicht nur den Meister von Flemalle voraus, sondern auch Jan van Eyck. Es gibt
Anzeichen dafür, daß auch der Meister von Flemalle in einem seiner Spätwerke, dem
Werl-Altar von 1438, Eindrücke]anscher Kunst empfangen hat; aber es handelt sich um
die Entlehnung einzelner gefälliger, man möchte fast sagen sensationeller Motive wie
den Konvexspiegel des Arnolfini-lnterieurs, die innere Bildstruktur des Flemallers bleibt
unberührt. Anders bei Rogier van der Weyden. Hier ist Eyckischer Einfluß ein konstitu-
Farbtafel 1 ierendes Element des Bildaufbaus. In Rogiers früher Verkündigung erinnert nicht nur
die rote Bettstatt und der Hängeleuchter an das Brautgemach der Arnolfini, die Ände
J rungcn, die Rogier an dem Flemalleschen Vcrkündigungsszenarium, von dem er aus
geht, vornimmt, sind durch die Lehren bedingt, die er aus dem Eyckischen Interieur in
12 Rogier van der Weydcn
vollem Verständnis für seine neuen Ideen zieht. Die Ofenbank und der Kamin sind hinter r
den Engel auf die Maria gegenüberliegende Seite des Raumes verlegt, um einem Fenster Rogier van der Weyden,
Triptychon, Verkündigung.
Platz zu machen und jenen seitlichen Lichteinfall zu ermöglichen, der für ]ansehe Inte
Paris, Louvre;
rieurstimmungen charakteristisch ist, und der dazu dient, die Beleucl~tungssituation zu
Stifter und Heimsuchung.
individualisieren. Freilich verzichtet Rogier auch nicht auf den Fensterausblick ins Freie, Turin, Galleria Sabauda
wie er im Josephsflügel des Merodealtars oder im Barbaraflügel des Werl-Altars vor
kommt, so daß das Interieur der Pariser Verkündigung beides, Gegen- und Seitenlicht, 2
Jan van Eyck,
letzteres mit unsichtbarer Lichtquelle, aufweist. Verkündigung (Detail).
Auch im Figürlichen liegt eher eine Eyck-Flemalle-Synthese vor als eine eindeutige Washington, National Gallery
Flemalle-Schülerschaft. In Mariens Gesichtstypus, in der Massigkeit und der einseitigen of Art
Ausbreitung des Gewandes ist die Herkunft von der Verkündigungsmaria des Merodeal
tars unverkennbar, das Motiv des Betschemels hingegen ist uns nur aus der Washingto
ner Verkündigung Jans bekannt, und von Jan muß auch die Idee übernommen worden
sein, den Engel wie einen Geistlichen mit einem prunkvollen Brokatmantel zu kleiden.
Andererseits stimmt der Rogiersche Engel wieder mit dem Flemalleschen darin überein,
daß er kein Szepter und keinen Lilienstab trägt, sondern mit preziös gestikulierenden
Händen die Botschaft ausrichtet. Von beiden Vorbildern aber weicht Rogier darin ab,
daß er die Neutralisierung des Ausdrucks, durch die beide Bahnbrecher der neuen Male
rei, sowohl Jan wie der Meister von Flcmalle, gegen eine jahrhundertalte ikonographi
sche Tradition verstoßen hatten, seinerseits zurückweist und wiederum, wenn auch in
neuer Form, die Reaktion Marias auf die Anrede Gabriels schildert. Im Merodealtar
haben wir den Eindruck, Maria hätte die Ankunft des Engels überhaupt nicht bemerkt -
so versunken ist sie in ihre Lektüre. Rogiers Madonna ist durch des Engels Besuch jäh im
Lesen unterbrochen worden - der Betschemel zeigt, daß es eine fromme Lektüre war -
und antwortet mit einer halb Erschrecken, halb Abwehr ausdrückenden Geste ihrer
Hand. Vom Zustai1ds.bild kehrt Rogier zum religiösen Drama zurück. Es ist die Einlei
tung einer Gegenreformation in der Bildkunst.