Table Of ContentVorwort
Umweltforschung bedeutet interdisziplinares Arbeiten, zumindest innerhalb der
beiden Forschungshemispharen der Natur- und Technikwissenschaften zum einen,
der Geistes- und Sozialwissenschaften zum anderen. Theorieanslitze, die als (cid:0)t(cid:0)r(cid:0)a(cid:0)n(cid:0)s(cid:0)~(cid:0)
disziplinare Paradigmen Verbreitung gefunden haben, sind Entwicklungstheorie
und Systemtheorie. Diese Schrift ist aus der Forschungs- und Lehrerfahrung heraus
erwachsen, dass Systemtheorie und Entwicklungstheorie gerade im Umweltbereich
eine geeignete Grundlage bilden.
1m Sinn einer solchen Aufgabenstellung enthlilt Buch I das kategoriale Geriist
einer systemischen Handlungs- und Entwicklungstheorie mit explizitem Umwelt
bezug, Buch II deren Anwendung auf die okologische Frage. Buch I kann auch als
Beitrag zur ,allgemeinen Soziologie in eigenem Recht gelesen werden. Es handelt
sich urn allgemeine Soziologie ebenso wie urn Umweltsoziologie. In der Schreib
weise UmweltSoziologie wird dies zum Ausdruck gebracht, analog dazu auch Um
weltBewusstsein, wenn das Bewusstsein im Allgemeinen und das Umweltbewusst
sein im Besonderen zugleich angesprochen werden, ebenso UmweltPolitik u.a.
Die Inhalte der Schrift haben ihre Form nach und nach im Verlauf der 90et Jahre
gefunden, abschlieBend bei Niederschrift 1999/2000. In dieser Zeit habe ich Er
munterung und Kritik, Hinweise und Hilfestellungen erhalten, fUr die ich danken
mochte, darunter Hmo Massa, Helsinki, Masafumi Matsuba, Kyoto, und Arthur
Mol, Wageningen, die an ihren Universitliten fUr mich wichtige Arbeitstagungen
tiber okologische Modemisierung durchfilhrten. Ebenso haben Wolfgang Zapf und
Udo Ernst Simonis noch in leitender Funktion am Wissenschaftszentrum Berlin mir
urnfangreiche theoretische und empirische Studien ermoglicht, die dieser Schrift
mit zugrunde liegen. Auch der langjlihrige Austausch mit Martin Jlinicke hat hier
verschiedentlich seinen Niederschlag gefunden. Katrin Fischer hat klarende Kritik
in Fragen der Psychologie beigesteuert. Matthias Kaufinann hat mir geholfen, Men
schenbilder zu benennen. Meine Mitarbeiter Karen Leonhardt und Axel MUller ha
ben wiederholt das Gesamtrnanuskript gelesen und zu seiner Verbesserung beige
tragen. Wertvolle Anregungen konnte ich auch aus kollegialen Arbeitskreisen mit
nehmen, darunter fachlichen Auseinandersetzungen zum Thema der nachhaltigen
Entwicklung mit Mitarbeitem des Wuppertal Instifuts und in der Sektion Soziologie
und Okologie der DGS, und mehr noch tiber Jahre hinweg aus den interdisziplinli
ren Arbeitstreffen im europliisch-amerikanischen Greening of Industry Network,
nicht zuletzt aus unseren Lehrveranstaltungen zur Umweltsoziologie an der Martin
Luther-Universitlit Halle. Roland Unger, verantwortlich fUr das Methodenlabor des
Instituts, hat mir geholfen, die informationstechnologischen Hiirden zu nehmen, die
sich einem Autor heute stellen.
Buehl
Systemisehe Handlungs- und Entwiekiungstheorie als
Grundlage der Umweltsoziologie
.1 UmweltSoziologie als systemisehe Handlungstheorie
Urn die Stellung von Mensch und Gesellschaft in der Natur modellieren zu konnen,
benotigt die Umweltsoziologie ein allgemeinsoziologisches kategoriales Riistzeug.
Dariiber hinaus bedarf die Umweltsoziologie auch einer interdisziplinar anschluss
flihigen, gesamtwissenschaftlichen Einbettung. Ein Ansatz, der diese Bedingungen
erfiillt, stellt das seit etlichen lahrzehnten sich entfaltende systemisch-evolutive Pa
radigma dar.l
Systemtheorien konstruieren sich vom System-Umwelt-Verhaltnis her. Das
macht sie brauchbar fUr eine Umweltsoziologie ebenso wie fUr jede andere Sozio
logie. ledoch ist der Umweltbegriff der allgemeinen Systemtheorie ein abstrakter,
gegenstands-unspezifischer. Dagegen besitzt der Begriff Umwelt in den Umwelt
wissenschaften einen konkreten okologischen Gegenstandsbezug. Eine Umweltso
ziologie, die dem Umweltbegriff nicht von vornherein diese Konkretion gibt: wird
ihren Gegenstand verfehlen. Allgemeine Umweltsoziologie befasst sich mit dem
Verhaltnis von Mensch und Gesellschaft zu ihrer Naturumwelt; etwas genauer ge
sagt, mit den gesellschaftlichen Bedingungen des Stoffwechsels zwischen dem
Menschen als einem Teil der Natur und der umgebenden Natur, die fUr den Men
schen diesbeziiglich geo-und biospharische Umwelt ist.
Zum Okologischen kommt etwas Anthropologisches. Umweltwirkungen, die
Mensch und Gesellschaft hervorrufen, entstehen dadurch, dass Personen etWas tun.
Weder Institutionen noch soziale Funktionssysteme hat man jemals am Werk gese
hen, dafUr umso mehr die Naturgewalten, Pflanzen und Tiere, und schlieBlich tlitige
Menschen mit ihren Werkzeugen und Maschinen. Es ware daher verfehlt, Mensch
und Gesellschaft in ihrem Verhaltnis zur Natur schon im Ansatz zu trennen, wie
dies zum Beispiel geschieht in der herkommlichen Humanokologie, die die Gesell-
1 Texte zum systemisch-evolutiven Paradigma sind Boulding '1978, Jantsch 1979, Prigogine/Stengers
1981, MaturanaIVare1a 1987, Haken 1981, HakenIWunderlin 1991, NicolislPrigogine 1987, Laszlo
1987, Cramer 1988, Bossomaier/Green 1999 u.v.a. Diese Texte sind prototypisch, nicht unbedingt re
prllsentativ, da es Letzteres weiterhin nicht gibt. Eine schlOssige Einschatzung gibt Lenk 1982, 105-
144. Die soziologische Systemtheorie nach Luhmann sowie die Arbeiten von Willke 1987, 1989, 1994
und BOhl1990 sind in diesem Zusammenhang ebenfalls zu nennen, nicht zuletzt wegen ihres Verdien
stes, das systemisch-evolutive Paradigma speziell in der deutschen Soziologie eingefllhrt zu haben.
Freilich bleibt gerade zu Luhmann's Schriften zu sagen, dass sie keinesfalls "die" soziologische Sy
stemtheorie schlechthin darstellen. Soziologische Systemtheorie kann und wird, selbst in Deutschland,
auch andere Wege gehen. Zur Entstehungsgeschichte einer Aligemeinen Systemtheorie in akademi
scher Perspektive vgl. MOller 1996.
14 1. UmweltSoziologie als systemische Handlung'stheorie
schaftlichkeit des Menschen ungenugend berticksichtigt, oder umgekehrt in der
jungsten funktionalistischen Soziologie, in deren Gesellschaftsverstmdnis filr den
Menschen kein Platz mehr zu sein scheint. Aber man muss die Gesellschaft vom
Menschen her erschlie13en. Eine Soziologie, die keine Anthropologie mehr sein
will, kann zumachen. Personlichkeits- und Bewusstseinsentwicklung zum einen,
Gesellschaftsentwicklung zum anderen erfolgen auf so inhiirente Weise miteinan
der, dass jeder Ansatz, der be ide getrennt behandelt, eher frilher als spater ins Leere
lauft. Umweltsoziologie ist ohnehin darauf angewiesell, das Verhaltnis der Men
schen in ihrer Gesellschaft zu wer Naturumwelt integrativ fassen zu konnen.
Unter diesen V orgaben kommt eine allgemeine Umweltsoziologie nicht umhin,
fUr ihre Zwecke selbst eine Speziflkation des systemisch-evolutiven Paradigmas
vorzunehmen. So wird im Folgenden ein allgemeines System- und Entwicklungs
modell der Gesellschaft als Ansatz zu einer systemischen Handlungstheorie darge
legt. Der Gedanke einer systemischen Handlungstheorie mag Reaktionen auslosen,
denn Systemtheorie und Handlungstheorie, sowie Systemtheorie und institutionell
historische Ansatze, stehen vermeintlich in Widerspruch zueinander. Aber der in
der jllngeren Theoriegeschichte konstruierte Gegensatz von Systemtheorie und
Handlungstheorie ist herbeigesucht. Jenseits gewisser personlicher Autoren-Idio
synkrasien sind Systemtheorie und Handlungstheorie kompatibel. Sie implizieren
einander geradezu. UmweltSoziologie sollte Systemtheorie sein. UmweltSoziologie
muss Handlungstheorie sein. Die altere Handlungstheorie kann systemtheoretisch
aufgehoben und damit zu einer systemischen Handlungstheorie werden. Auch funk
tionalistische Systemtheorien, die mit dem Subjekt- und Handlungsbegriff nichts
mehr zu tun haben wollen und stattdessen mit einem abgehobenen Sinn-, Kom
munikations- und Ereignisbegriff herumprobieren, konnen nicht anders, als camou
flierte Handlungstheorien zu sein.
Was andererseits die Kritiker von Systemtheorie angeht, so zeigt ein unvorein
genommener Blick auf die Geschichte sozialwissenschaftlichen Denkens, dass
Systemtheorie nicht etwas voraussetzungslos vom Himmel Gefallenes und gegen
andere Ansatze Stehendes ist, sondern ein naheliegender nachster Schritt der Para
digmen-Entwicklung. Bereits das dialektische und historische Denken bei Hegel,
Marx u.a. urn 1800-1850 enthalt etliche Aspekte des heutigen systemisch-evoluti
ven Paradigmas, darunter das Denken in Ruckwirkungen, in Kategorien von Teil
und Ganzem, Teil und Gegenteil, Quantitat und Qualitat, oder "widersprtichliche
Einheit" als wechselseitige Ergmzung und Begrenzung von Entgegengesetztem.
Mit dem historischen Denken des 19. Jahrhunde$ verbanden sich dann im Beson
deren natur- und sozialwissenschaftliche Evolutionstheorien, darunter die von
Comte, Marx, Spencer, Darwin. Diese Linien flossen ein in den Organizismus und
Vitalismus urn 1870-1940. Danach regelt sich der Organismus im Zusammenspiel
von funktional differenzierten Organen. Regelung und Reproduktion von Organis
mus und Organen erfolgen in dynamischen Kreislaufen, diese selbst eingewoben in
emergente und sich wieder aufhebende Lebenszyklen. Urn 1920-1970 wurde so
dann das Denken in strukturellen "Ordnungen" zu einem unmittelbaren Vorlaufer
1. UmweltSoziologie als systemische Handlungstheorie 15
des Systemdenkens, insbesondere in der Wirtschafts-, Staats-, Verwaltungs- und
Rechtswissenschaft. Von daher auch die Begriffe des politis chen und wirtschaftli
chen Systems. Der zugrunde liegende Ordnungs-oder System-Begriff, zumal in der
Marktokonomik, war bereits dynamisch und selbstregulativ bei gegebenen oder zu
setzenden Rahmenbedingungen. Seit etwa urn 1900-1920 hat sich auBerdem, u.a.
bei Tarde, Simmel, Weber, Sombart, Schurnpeter, die gesellschaftliche Modemisie
rungstheorie und okonomisch-technologische Innovations- und Entwicklungstheo
rie herausgebildet, unmittelbar konstitutiv fUr die evolutive Seite des Paradigmas.
Der sich anschlieBende Strukturalismus und Funktionalismus in der Anthropologie,
Soziologie und Linguistik des 20. Jahrhunderts waren weitere direkte Wegbereiter
der Systemtheorie. Die technische Kybemetik seit etwa urn 1950 wurde bereits zu
einem integralen Bestandteil des systemisch-evolutiven Paradigmas.
Heute bildet das systemisch-evolutive Paradigma eine kenntlich gewordene, je
doch Hingst nicht abgeschlossene oder einheitliche Methodologie. Es Uisst Raurn
fUr einen gewissen Pluralismus konkurrierender Ans1itze beziiglich gleicher Gegen
stande, auch wenn es sich dabei nicht urn beliebige Konstruktionen handeln kann,
wie manchnlal der Anschein erweckt wird. Modelle und Theorien von Systemen
milssen einem anderen Sachverhalt auBer sich selbst entsprechen und diesem an
gemessen sein in seiner Empirie und Erfahrbarkeit.
1m folgenden Kapitel werden zun1ichst sehr grundlegende Konstruktionsfragen
soziologischer Theorie behandelt, gleichsam Fragen der Grundlegung der G.rund
kategorien. In den Kapiteln 3-6 wird dann ein Systemmodell der Teilungs- und
Funktionsstrukturen der modemen Gesellschaft dargelegt. Dem folgen ab Kapitel 7
Darlegungen zur systemischen Entwicklungs-, Innovations- und Modemisierungs
theorie.
2. Mensch nnd Gesellschaft in den Seinsebenen
2.1 Sozialwissenschaft zwischen Physis und Noesis
Die Soziologie in der zweiten Halfte des 20. Jahrhunderts hat es vennieden, sich
mit einer Frage zu befassen, die zuvor stets grundlegende Bedeutung besaB: das
Materialismus-Idealismus-Problem, also die Frage, ob die Evolution eine materia
listische Aszendendenz darstellt yom Stofflichen und Korperlichen zu komplexeren
Fonnen des Geistigen, oder ob die Evolution eine idealistische Deszendenz dar
stellt yom Geistigen zum manifesten Materiellen.
Die Frage wurde freilich nur verdrangt, implizit gleichwohl beantwortet. Bei den
Richtungen der neueren Soziologie handelt es sich urn sinnbasierte konstruktivisti
sche Kommunikationstheorien. Von daher besitzt die neuere Soziologie eher eine
"idealistische" als "materialistische" Tendenz. Dies kann nicht anders sein, nicht
einmal in der Biosoziologie. Sozialwissenschaft, auch als empirische, ist nun ein
mal Geisteswissenschaft, auch dort, wo sie etwas anderes, venneintlich Drittes zwi
schen Geistes- und Naturwissenschaft sein mochte. Okologische Probleme aller
dings sind Stoffprobleme, namlich Probleme des anthropogenen Stoffwechsels in
der Geo- und Biosphare. Umweltsoziologie muss etwas dartiber aussagen, wie Stoff
und Geist sich diesbezilglich zueinander verhalten, insbesondere, wie sich mensch
liches Bewusstsein, Kommunizieren und Operieren in der Natururnwelt auswirken
und wie diese Umweltwirkungen auf die physischen und geistigen Lebensbedin
gungen des Menschen in der Gesellschaft zurUckwirken.
Von nichts kommt nichts. 1m Nichts ist nichts. Damit etwas Seiendes werden
kann, muss es bereits etwas geben, in dem und aus dem heraus es wird. System
theorie fragt diesbezilglich nach der Umwelt eines Systems, anders gesagt, nach
den Seinsmedien eines Systems. Dies ist ein anderer Aspekt der verdrangten Pro
blematik, abgetan mit Verdikten wie Ontologisierung oder Essenzialismus. Insbe
sondere seit den Nachkriegsjahren hat man die Frage nach der Substanz des Seien
den kurzerhand verabschiedet zugunsten der Untersuchung der Fonnen des Seien
den. Popper, seinerzeit der groBte Kritiker des Essenzialismus, verehrte Kant, aber
wohl nur als einen Promotor des Freiheitsdenkens und der Menschenrechte. Kants
Vemunft beruhte auf der Annahme von Ideen vor den Dingen der Welt.
Das Verdrangen der Materialismus-Idealismus-Problematik mag aus der Sicht
der 1940er Jahre, einer katastrophalen Kulminationszeit vorangegangener ideologi
scher Entwicklungen, verstandlich erscheinen. Das 19. Jahrhundert war noch relativ
iiberschaubar gewesen. Die Autklarung hatte sich urn 1800 herum aufgespalten
in diverse Stromungen, darunter auch ein utilitaristisch-geldbiirgerlicher und ein
romantisch-bildungsbiirgerlicher Strang. Der Utilitarismus verband sich mit dem
allgemeinen Vonnarsch des Materialismus in der Wissenschaft. Sozialwissen-
2.1 Sozialwissenschaft zwischen Physis und Noesis 17
schaftlich au/3erte sieh diese Verbindung als Positivismus oder Sozialphysikalis
mus. Damit entstand eine bis heute anhaltende Verwechslung von verbaler Klarheit
und nurnerischer Genauigkeit mit physischer Messbarkeit.
Typische Vertreter des positivistischen Denkens waren Auguste Comte (1798-
1857), Herbert Spencer (1820-1903) und ilberwiegend noch Emile Durkheim
(1858-1917), nieht zuletzt der altere Karl Marx (1818-1883). Dieser war ursprilng
lieh ein rur seine Zeit typischer Sozialromantiker, aber urn 1850 wendete er sich
zum sozialphysikalistischen "wissenschaftlichen Sozialisten". Dieser motivierte
seine Ziele nieht mehr mit der emp5rten Parteinahme fUr die Erniedrigten und Ent
rechteten, sondern deklarierte sie pseudo-naturgesetzlich als vermeintlich objektive
Notwendigkeit der "ehernen Gesetze" des Kapitalismus.
Mit den 1870/80er J ahren bildeten sieh gegen die sozialphysikalistischen Rich
tungen ideationale Gegenstr5mungen bis in die 1930/40er Jahre, darunter Varianten
des Neukantianismus, sodann historisch-institutionelle Schulen, und nicht zuletzt
der neoromantische Vitalismus, Richtungen der Lebens- und Geistesphilosophie.
Zu den Neukantianern geh5rte zum Beispiel Eduard Bernstein (1850-1932), einer
der ruhrenden Revisionisten des Marxismus. Den historisch-institutionellen Rich
tungen zuordnen, auch im Vorlauf zum spateren Strukturalismus und Funktionalis
mus, kann man u.a. Georg Simmel (1858-1918) und Max Weber (1864-1920),
auch noch seinen Schiller Karl Mannheim (1893-1947), Werner Sombari (1863-
1941), Webers Bruder Alfred (1868-1958), oder Carl Schmitt (1888-1985). In der
Richtung der Lebens- und Geistesphilosophien stehen u.a. Rudolf Eucken (1846-
1926), Ferdinand T5nnies (1885-1936), Max Scheler (1874-1928) oder Carl Gus
tav Jung (1875-1961). Weniger konstruktiv als bei diesen ergoss sieh die gleiche
Quelle in die recht dunkelbunten und teilweise irrational-destruktiven Elaborate
zum Beispiel eines Georges Sorel (1847-1922), Oswald Spengler (1880-1936)
oder Ludwig Klages (1872-1956). Deren Ambivalenzen waren bereits angelegt bei
Friedrich Nietzsche (1844-1900) und Henri Bergson (1859-1941).
Mit der Gemengelage der 1920/30er Jahre kam anscheinend kaurn noch jemand
auf vernilnftige Weise zurande. Dem extremen Auseinanderdriften det wissen
schaftlichen, kilnstlerischen und sonstigen 5ffentlichen Kommunikation entsprach
der Zusammenbruch der politischen Kultur in jenen b5sartigen Geschehensfolgen,
welche die Welt in Gestalt des Faschismus und Kommunismus zu erleben bekam.
Nach der versuchten Ausrottung der Juden und anderer missliebiger Bev5lkerungs
gruppen wollte man ab Ende des Zweiten Weltkrieges mit alldem nichts mehr zu
tun haben, besonders in Deutschland. Man wilnschte sich eine "entideologisierte",
eine m5glichst subjekt- und wertfreie Sozialwissenschaft. Eine nachvollziehbare
Reaktion mag dies schon gewesen sein, sachgema/3 und realistisch war sie nie.
Zum Beispiel Arnold Gehlen (1904-1976), wie Parsons ein Wegbereiter fUr
Luhmann, war das K5rper-Seele-Geist-Thema so leid, dass er es vorzog, das The
rna fortan erklarterma/3en zu ignorieren und nur noch ilber Institutionen und ihre
Funktionen nachzudenken (1986 70). Sein Selbstverstandnis als Anthropologe hob
er damit faktisch auf. Die Strukturalisten und Funktionalisten der zuruckliegenden
18 2. Mensch und Gesellschaft in den Seinsebenen
Jahrzehnte haben keine Humanwissenschaftler mehr sein wollen. Dies fUhrte in der
rein funktionalistischen Soziologie spater zur Konstruktion einer Gesellschaft ohne
Menschen. Man war anscheinend der irrigen Meinung, die leidige Frage nach dem
Wesen des Menschen werde sich durch die Analyse sozialer Funktionen irgendwie
von alleine beantworten. Damit dtirfte seinerseits zusammenhangen, dass die rein'
funktionalistische Soziologie keinen sachgerechten Zugang zur okologischen Frage
gefunden hat.
Talcott Parsons (1902-1979) hatte das Problem noch nicht unter den Teppich
gekehrt, sondem das Spektrum von Materialismus und Idealismus auf seine Weise
neu thematisiert. Er folgte dabei einer Vorstellung, die der Identitatsphilosophie
von F. W. J. von Schelling (1775-1854) nahe kommt. Dieser zufolge existiert das
Sein zwischen dem Pol des Materiellen und dem Pol des Geistigen wie ein Wech
selstrom. Dessen Entstehung wird gedacht als evolutive Auseinanderentfaltung
einer im Uranfang noch-nicht-differenzierten absoluten Einheit (Identitat), also
gleichsam als bipolares "Zerfallsprodukt" der Evolution von Raum und Zeit. Die
Welt ist Naturgeschichte und Geistesgeschichte zugleich. Alles Wirkliche bewegt
sich im Rahmen des bipolaren Spektrums und bestimmt sich dementsprechend
durch beide Seiten zugleich.
Es diirfte tatsachlich milBig sein, ilber die Substanz des Spektrums etwas aussa
gen zu wollen, etwa in der Art, das seien in materieller Aszendenz alles nur abge
stufte Formen der Materie und materiellen Energie, oder das seien in ideeler Des
zendenz alles nur Manifestationen des Hegel'schen Weltgeistes und seiner Infor
mation. Die Wenigsten aber wilrden bestreiten, dass es ein solches Spektrum des
Seienden gibt. Ein niltzliches Hilfsbild in diesem Zusammenhang stellt das Spek
trum der elektromagnetischen Wellen dar. Was ihre Substanz ist, wissen wir nicht,
wohl aber, dass es sie in einem Spektrum von Bandbreiten gibt. Technisch wird
damit wirkungsvoll gearbeitet. Das Spektrum gliedert sich in lange (tiefe) und kur
ze (hohe) Wellenlangen. Nur ein Bruchteil des Gesamtspektrums liegt im Fenster
sichtbaren Lichts, wahrend die Bereiche jenseits davon nur naturwissenschaftlichen
Messgeraten zuganglich sind. Es ist ungeklart, ob Anfang und Ende des Spektrums
auch seine absoluten Pole darstellen. Aber im zuganglichen Ausschnitt von Wel
lenlangen stellt sich das real Seiende in den verschiedenen Abschnitten des Spek
trums als signifIkant verschiedenartig dar - nicht unbedingt von anderer "Sub
stanz", aber von anderer Art, auf verschiedener Stufe mit verschiedenartigen Qua
litaten oder Eigenschaften.
Parsons hat seiner strukturell-funktionalen B'etrachtung der Gesellschaft in den
1950/60er Jahren deutlich ein solches identitatsphilosophisches Spektrum zugrunde
gelegt. In seiner Handlungstheorie liegen (1) das Verhaltensorganismus-System,
(2) das Personlichkeits-System, (3) das soziale System, und schlieBlich (4) das kul
turelle System wie Seinsschichten ilbereinander, quasi vom mehr Physischen zum
mehr Geistigen (vgl. Abb. 2D, S.36). Jedoch behauptet Parsons in den Wechsel
wirkungen zwischen den Systemebenen keinen materiellen Primat wie Marx, und
keinen ideelen Primat wie Scheler. Vielmehr gabe es zum einen eine "Hierarchie
2.1 Sozialwissenschaft zwischen Physis und Noesis 19
der kontrollierenden Faktoren", der Impulse, die vom Informationalen zum Phy
sisch-Organischen stromen, und gleichzeitig umgekehrt eine "Hierarchie der bedin
genden Faktoren", der Restriktionen, von Parsons auch "Energiefaktoren" genannt,
die vom Physisch-Organischen ausgehen in Ruckwirkungsrichtung auf das Infor
mationale. Damit wird identiUitsphilosophisch nicht nur eine bipolare Hierarchie
von Systemebenen benannt, sondem ebenso der Seinsmedien, der Umwe!ten, in die
die Systemarten eingelassen sind. In traditionaler Sprache heillen diese Seinsebenen
"Materie - Korper (Biosphare) - Seele (Psyche) - Geist".
Klar zutage liegt, dass Parsons den korperlichen Verhaltensorganismus der Bio
sphare zuordnet, die Personlichkeit der Psychosphare. Dies impliziert, dass nach
Parsons' Auffassung die soziale und kulturelle Systemebene daruber hinaus hOhere
Stufen seien, naher den "letzten Realitaten", wie er sich ausdruckte. Die Verortung
des Organismus in der Biosphare dilrfte unstrittig sein, die der Personlichkeit in der
Psychosphare in erster Annaherung ebenfalls. Verunklarend dagegen ist die fak
tische Verortung des sozialen und kulturellen Systems "daruber hinaus". Niklas
Luhmann (l9p-1998) hat diese Kategorienbildung nachfolgend noch radikalisiert.
Die Gesellschaft wird damit zu etwas rein Noetischem, Soziologie wird Noologie.
Dies ist nicht falsch, aber doch unvollstandig und kategorial schief liegend, wie
gleich noch weiter dargelegt wird.
Auch im hier vorgebrachten Ansatz einer systemischen Handlungstheorie wird
daran festgehalten, betreffende UmWelten - Systeme und ihre Seinsmedien - ent
lang der Materialismus-Idealismus-Achse zu gliedem. Tabelle 1 nachste Seite ent
halt eine Synopse der Kategorien von namhaften Schulen oder Autoren.
Der Bereich des Physischen wird okologisch unterteilt in die Geosphare und die
Biosphare. "Geo" ist ein sehr erdzentriertes Wort, aber in Ermangelung eines an
deren mag es angehen. Die Geosphare bezeichnet den anorganischen Bereich des
Stofflichen in allen seinen Aggregatzustanden und Energieformen. Die Geosphare
wird ihrerseits weiter untergliedert, unter anderem in die Bary-, Litho-, Pedo-, Hy
dro-und Atrnosphare.
Die Biosphare bezeichnet den organischen Bereich des Physischen, den Bereich
des organismischen Stoffwechsels, die Welt der organismischen Sinnes-Empfm
dungen und der hormonellen und neuronalen Korperimpulsionen, das lebende Leib
liche, die Pflanzen-, Tier- und Menschenwelt mitsamt ihrem okologischen Stoff
wechsel, der Gegenstandsbereich von Biologie, Medizin, Pharmakologie u.a.
Ber Bereich des Metaphysischen wird ebenfalls; untergliedert, zum Beispiel in
traditionaler Weise in Seele und Geist. Jedoch ist der Gebrauch dieser Begriffe
heute nicht mehr opportun, auch wenn man weiter von Geisteswissenschaften
spricht. Der Begriff der Seele ist weitgehend fallengelassen worden. Metaphysik
wird pejorativ gebraucht. "Meta"-Physik ist in der Tat nur eine Verlegenheitsbe
zeichnung ahnlich dem Gebrauch der Silbe "post-". Dennoch lasst sich nicht tiber
sehen, was Tabelle 1 gleichfalls deutlich macht, dass auch die heutigen Human-,
Sozial- oder Geisteswissenschaften die betreffenden Unterscheidungen weiterhin
aufrecht erhalten. Sie tun dies nur in anderen Worten, teils auch implizit. Und sie
20 2. Mensch und Gesellschaft in den Seinsebenen
gehen nicht mehr direkt davon aus, sondern betrachten diese Bereiche als materie
deriviert, denn fast alle Wissenschaftsrichtungen haben sich zunehmend auf einen
eigentlich naturwissenschaftlichen Ansatz verlegt und im Rahmen dessen auf den
Gedanken der materialistischen Aszendenz.
Tab. I Seinsebenen im Spannungsfeld von Physischem und Geistigem
Mittelalterl. Aristoteles (cid:0)P(cid:0)h(cid:0)y(cid:0)s(cid:0)i(cid:0)~(cid:0) Metaphysik
Klassifizierung_
Rene Descartes Res extensa Res cogitans
Naturwissenschaften Anorganische Organische
Materie Materie Immaterielles / Information
Traditionale christliche KOrper Seele Geist
Weltanschauung
Teilhard de Jardin, Geo Bio- Psycho- Noo-
Rudolf Eucken genese genese geneIse genese
Max Scheler Anorganische Leben, Trieb, Intelligenz SelbstBewusstsein, Ideen
Materie als "Realfaktoren" als "Idealfaktoren"
Kenneth Physical Biogenetics Noogenetics
Boulding Dytlamics Evolution
Sigmund Freud Es Ich Uberich
als seelische Reprasentanz des
Unbewussten Ich-Bewusstseins teils vorbewussten
und Somatischen Bewusstseins
Talcott Parsons, Physische und Organismische Psychische Soziale und
Niklas Luhmann maschin. Systeme Systeme Systeme kulturelle Systeme
Wilhelm Windelband u.a. Gegenstand der nomothetischen Gegenstand der idiograph-historischen
Igegen Ende 19. Jhd. Naturwissenschaften Kulturwissenschaften
Gemeinsamer Geosphare ' Biosphare : Psychosphare: Noosphare
Nenner bzw. : bzw. : bzw. : bzw.
Anorganische : Organische :Bio-nabe, Ich-und: Geistiges
Materie : Materie :PersOnl.spezifische:
:Psyche / Seelisches:
2.2 Geo-, Bio-, Psycho-, Noosphiire als Seinsebenen der Anthroposphiire
FUr Systemtheorien ist die Schichtung der Seinsebenen von einiger Bedeutung. Par
sons nahm anscheinend an, dass die Ebenen, die (cid:0)~(cid:0)r(cid:0) unterschied, konstitutiv sind fUr
Systemarten. Dies kann, muss man aber nicht so betrachten. Je nach Komplexitat
k5nnen Systeme in mehrere Seinsebenen eingelassen sein. Aquatische und atmo
spharische Str5mungssysteme, aus Wasser und Luft, geh5ren nur der Geosphare an,
noch nicht der Biosphare, wahrend Pflanzen der Biosphare und der Geosphare an
geh5ren, da sie deren Stoffe inkorporieren, noch nicht jedoch der Psychosphare.
An der Psychosphare haben erst h5here Tierarten teil. Sie besitzen in gewissem
2.2 Geo-, Bio-, Psycho-, Noosphllre 21
AusmaB Vorstellungsvermogen, Willenskontrolle, Gefiihl, Intelligenz, Intentiona
IWit, Arbeitsorganisation und symbolische Verstfuldigung. Auch konnen hOhere
Tiere einen gewissen eigenen Charakter besitzen. Sie leben in relativ ausdifferen
zierten Sozialsystemen. Aber als "Personlichkeiten" wiirde man sie normalerweise
nicht betrachten.
Die Begriffe der Person und der Personlichkeit reprasentieren offenbar eine
Struktur, die sich von biosozialen Gegebenheiten schon recht weit entfemt hat. Wir
behalten diese Stufe, im Zusammenhang mit der Ich-Organisation der Personlich
keit, dem Menschen vor. Tiere besitzen eine Psyche. Aber besitzen sie auch Geist?
Sie ruhren keine wissenschaftlichen Diskurse, sie haben keine Religion, sie musi
zieren und malen nicht. Sie stellen Bauten her und haben Technik, aber keine
Architektur und Technologie mit progressivem Verlauf. Die Ich-Organisation der
Person und das Bewusstsein des Menschen sind Ausdruck seiner Geistigkeit. In
diesem Zusammenhang von "Reflexivitat" zu sprechen, bringt eher Verlegenheit
zum Ausdruck. Ais wesentliches Merkmal der Unterscheidung des Menschen yom
Tier und (cid:0)d(cid:0)e(cid:0)~(cid:0) sonstigen Natur bleibt damit weiterhin - wie in der Soziologie zuletzt
bei Max Scheler, und in der Umweltsozialwissenschaft bei Kenneth Boulding - der
Umstand, dass die Menschen gattungsgeschichtlich in die Noosphare hineinge
wachsen sind und in signifIkant hOherem MaB als Tiere ein Bewusstsein ihrer Um
welt und ihrer selbst erlangt haben.
So gesehen ist der Mensch als einziges Lebewesen der Erde in alle der vier un
terschiedenen Seinsebenen eingelassen. Die unbelebte Natur bleibt auf die Geo
sphare beschrankt. Mikroben und Pflanzen leben dariiber hinaus auch in der Bio
sphare, Tiere zudem bereits auch in der Psychosphare, der Mensch zusatzlich in der
Noosphare. Anders gesagt, der Seinsbereich der meisten Tiere, wie derjenige der
Menschen, ist querschnittsartig in die Seinsebenen der Psycho-, Bio-und Geospha
re eingewoben. Aber nur der Seinsbereich der Menschheit, die Anthroposphare, ist
Seinsebenen-verbindend eingelassen in die Noo-, Psycho-, Bio- und Geosphare.
Die Anthroposphare wird damit in erheblichem MaB auch von ihren noetischen Ei
genschaften her impulsiert. Evolutiv gedacht, kommt das SelbstBewusstsein zuletzt,
mit und nach der Entwicklung der Psyche. Sobald aber vorhanden, bildet das
SelbstBewusstsein damit auch, durchaus im Sinne von Parsons, kaschiert bei Luh
mann, die erst- und letztkontrollierende Instanz.
Wir haben heute gelemt zu denken, wie die Biosphare sich aus der Geosphare
heraus entwickelt, und wie das Psychische sich aus dem Biologischen heraus ent
wickelt. Miihe bereitet immer noch der umgekebrte Gedanke: wie das Bewusstsein
die bionahe Psyche entwickelt, die Psyche das Biotische, und das Biotische die
Geosphare. Dabei zeigt sich in lebensgeschichtlicher Retrospektive unverkennbar
eine gewisse Formung der Psyche (des Wahrnehmens, Fiihlens, Denkens, Wollens)
durch das ich-organisierte Bewusstsein, und eine ebensolche Disziplinierung und
Formung des Korpers durch das Bewusstsein und psychische Prozesse. Ebenso
wissen wir gattungsgeschichtlich von der Uberformung der Tier- und Pflanzenwelt,