Table Of ContentDIE WISSENSCHAF1
1
SAMMLUNG VON EINZELDARSTELLUNGEN AUS DEN GE
BIETEN DER NATURWISSENSCHAFT UND DER TECHNIK
BAND 57
ALLGEMEINE PHYSIOLOGIE
DES TODES
VoN
DR. MED. ALEXANDER LIPSCHÜTZ
Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 1915
ALLGEMEINE PHYSIOLOGIE
DES TODES
VoN
DR. ALEXANDER LIPSCHÜTZ
MED.
PRIVATDOZENT DER PHYSIOLOGIE AN DER UNIVERSITÄT BERN
MIT 38 ABBILDUNGEN
Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 1915
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-663-03053-9 ISBN 978-3-663-04242-6 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-663-04242-6
Copyright, lG15, by Springer Fachmedien Wiesbaden
Urspriinglich erschienen bei Friedr. Vieweg & Sohn in Braunschweig 1915
Softcover reprint of the hardcover 1s t edition 1915
"Es stimmt mich oft melancholisch, wenn ich sehe,
wie unendlich viel solide und brave Beobachtungsarbeit
einfach verloren geht, wenn nicht einmal so ein verrückter
Kerl auf den Gedanken kommt, wieder einmal alles zu
lesen, und wie eine so aufreibende und spannende Arbeit,
wie die Orientierung in vorliegendem Gebiet doch eigent
lich als höchst verächtliche Schuhputzerei taxiert wird,
während jeder Anfänger sich durch ein paar planlos ge~
schundene Kaninchen die Unsterblichkeit zu sichern glaubt.
Modesache, wie so vieles, und die Reklame ist groß."
(Aus einem Briefe des Physiologen Fr. Mieseher t an
den Anatomen W. His sen. t.)
VORWORT.
Vielleicht auf keinem anderen Gebiet biologischer For
schung ist durch Mangel an kritischem Denken und durch
Einseitigkeit so viel Verwirrung gestiftet worden, wie in dem
Problem des Todes. Man schiebt der Kritiklosigkeit und
Einseitigkeit am ehesten einen Riegel vor, indem man ver
sucht, die vorliegenden Kenntnisse in einheitlicher Weise
zusammenzuschweißen. Ein Problem wird damit einer
weiteren wissenschaftlichen Bearbeitung ein gut StückWeges
nähergebracht. Eine Allgemeine Physiologie des Todes ist
heute um so eher berechtigt, als die jüngste Zeit uns eine
Reihe von Untersuchungen gebracht hat, die es gestatten,
das Problem des Todes in allgemein-physiologischer Rich
tung zu vertiefen.
Sollte aus meinem Ve rsuch, unsere Kenntnis vom Tode
zu einer Allgemeinen Physiologie des Todes auszubauen,
einige Anregung für die weitere wissenschaftliche Bearbeitung
des Todesproblems erwachsen, so wird der Zweck dieser
Blätter erreicht sein.
VI Vorwort.
Die Entwickelung, die heute das Problem des Todes ge
nommen hat, ist das beste Zeugnis dafür, wie fruchtbringend
die allgemein-physiologische Diskussion für die weitere Aus
gestaltung eines biologischen Problems zu sein vermag.
So scheue ich mich denn nicht zu sagen, daß mir dieses
Buch gleichzeitig Propagandaschrift ist für die Allgemeine
Physiologie schlechtweg.
Bern, den 13. August 1915.
Alex. Lipscbütz.
Inhaltsverzeichnis.
Seite
1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . 1
A. Definition des Todes . . . . . . . . . 1
B. Definition des Todes aus Altersschwäche 4
II. Das Problem des Todes bei den Protisten. 6
A. Allgemeine Physiologie und Zellularphysiologie 6
B. Weismanns Standpunkt in der Frage über den Tod der
Protisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
C. Die Protistenstudien von Maupas, Calkins u. Richard
Hertwig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
D. Formulierung des Gegensatzes zwischen Weismann und
Maupas-Calkins-Hertwig . 13
E. Untersuchungen von Woodruff 15
1. Züchtungsversuche . . . . . 15
2. Woodruffs Versuche über den Einfluß der Stoff
wechselprodukte auf die Teilungsgeschwindigkeit . 17
F. Die Auffassung von Weismann gegenüber den Befunden
von Woodruff . . . . .. . . . . . . . . . . . 31
III. Das Problem des Todes bei den Metazoen. . . . . 32
A. 'Ober das Vorkommen des Todes aus Altersschwäche bei
den Metazoen 32
B. Die Altersveränderungen in den Organen . . . 37
C. Die Altersveränderungen in den Zellen . . . . 44
1. Die Verschiebung der Kernplasmarelation 44
2. Die Zellausschaltung . . . . . . . . . . 49
3. Die Pigmentierung der Zellen . . . . . . 54
D. Der Ursprung des Pigments in den altersatrophischen Zellen 64
E. Die Wirkung der Stoffwechselprodukte im Metazoenkörper 71
F. Die Erscheinungen des .Rhythmus" (Woodruff und
Erdmann) und das Problem des Todes . . . . . . . 89
VIII Inhaltsverzeichnis.
Seite
G. Die Differenzierung der Zellen und das Problem des Todes 100
1. Die morphologische Auffassung von Minot 100
2. Physiologische Gesichtspunkte 103
H. Zellteilung und Tod . . . . . . . . . . . . . llß
IV. Das Problem der Lebensdauer ....... . 121
A. Die unbegrenzte Lebensdauer der Baumpflanzen 121
B. Die Gesetze der Lebensdauer . . . . . . . . . 125
1. Das Gesetz des konstanten Energieverhrauches von
Rubner .................. . 127
2. Cephalisationsfaktor und Lebensdauer nach Frieden-
thai .................... . 13S
3. Die Untersuchungen von Jacques Loeb über den
Temperaturkoeffizienten der Lebensdauer 139
4. Geschlechtsfunktion und Lebensdauer nach
v. Hansemann 147
V. Der Mechanismus des Todes beim Menschen 148
VI. Zusammenfassung . 164
Autorenregister . 171
Sachregister 173
I.
Einleitung.
A. Definition des Todes .
.Alle wissenschaftliche Diskussion über das Problem des Todes
hat zunächst einen Widerstand zu überwinden, der sich ihr, wie
auch jeder anderen wissenschaftlichen Diskussion, entgegenstellt.
Es ist schwierig, das Problem des Todes zu diskutieren, ohne schon
vorher den Begriff des Todes umschrieben zu haben, ohne vorher
eine klare und allgemeingültige, d. h. eine für alle Formen der
Organismen gültige Definition des Todes gewonnen zu haben. Eine
jede Definition aber, soweit sie mehr sein will als eine Namen
gebung, ist eine Prämisse, voll von hypothetischen Elementen 1).
Werden wir uns vor allem darüber klar, wie wir die De
finition des Todes fassen sollen. Der Begriff des Todes soll ab
gegrenzt werden gegenüber dem Begriff des Lebens, und er soll
gleichzeitig abgegrenzt werden gegenüber dem Begriff des Leblosen,
der anorganischen Welt. Was wir also von einer Definition des
Todes erwarten, das ist auf jeden Fall, daß sie den Tod setzt
in Beziehung zum Leben. Der Tod kann nur definiert
werden in Relation zum Leben2) •
.Auf den ersten Blick könnte es scheinen, daß mit dieser
.Auffassung eine unübersehbare Fülle von Möglichkeiten für eine
Definition des Todes gegeben sei, womit es j\L ausgeschlossen wäre,
eine Definition des Todes zu gewinnen, die wir zum .Ausgangs
punkt unserer Betrachtungen über den Tod machen könnten. Einen
vollkommenen Einblick in die speziellen chemischen Vorgänge
1) Siehe die hübsche Diskussion über die Definition in Spinozas
Briefwechsel, Brief Sund 9, S. 34 und 37. Leipzig, Reclam.- 2) Max
Verworn, .Artikel Tod im "Handwörterbuch der Naturwissenschaften",
Bd. IX. Jena 1913.
Li p schütz, Physiologie des Todes. 1
2 Definition des Todes.
in der lebendigen Substanz 1) besitzen wir nicht, und für jeden
einzelnen chemischeii Partialvorgang in der lebendigen Substanz
rücken heute noch zahlreiche biochemische Hypothesen ein. .Aber
doch: Was wir schon heute aus einer allgemein-physiologischen
Diskussion der Vorgänge in der lebendigen Substanz gewonnen
haben, das ist die Erkenntnis, daß der Stoffwechsel der lebendigen
Substanz beruht auf einer "Dissimilation", auf einer hydrolytischen
oder oxydativen Spaltung hochmolekularer Verbindungen, der die
".Assimilation" automatisch folgt. Ewald Hering2) hatte schon
in den achtziger Jahren den Versuch gemacht, mit den Beziehungen
zwischen Dissimilation und .Assimilation der lebendigen Substanz
ein allgemein-physiologisches Schema für den Stoffwechsel der Zelle
schlechtweg zu zeichnen, und Verworn S) hat aus der physika
lischen Chemie die theoretischen Mittel hervorgeholt, um die Be
ziehungen zwischen Dissimilation und .Assimilation der lebendigen
Substanz physikalisch-chemisch verständlich zu machen. Soviel
dürfen wir also sagen, daß über die Vorgänge in der lebendigen
Substanz, die wir als den Stoffwechsel der lebendigen Substanz
zusammenfassen, die allgemeine Physiologie schon heute eine ein
heitliche Vorstellung besitzt, an die alle biochemische Forschung
über die Partialvorgänge des Stoffwechsels anknüpft.
Ist somit das Leben in allgemeinster Form definiert als Dis
similation und .Assimilation von lebendiger Substanz, so ist uns
damit der Punkt gegeben, wo auch eine Definition des Todes an
zuknüpfen hat. Man wird hier zunächst geneigt sein, anzunehmen,
daß eine Definition des Todes in Relation zum Leben schon gegeben
sei mit dem Hinweis, daß der Tod den Stillstand des Stoff
wechsels, der Dissimilation und .Assimilation der lebendigen Sub
stanz, bedeutet. Verworn4) hat aber mit Recht darauf hin
gewiesen, daß das Moment des Stillstandes des Stoffwechsels allein
nicht genügt für eine Definition des Todes. Ver wo r n verweist
hier auf die von.Claude Bernard als "latentes Leben" bezeich-
1) Paul Jensen, Einige allgemein-physiologischa Begriffe. Ztschr.
f. allgem.Physiologie 1 (1902).- 2) Ewald Hering, Zur Theorie der
Vorgänge in der lebendigen Substanz. Lotos 9. Prag 1888. - 3) Ver
worn, Die Mechanik des Geisteslebens. Vgl. S. 30 der 3 . .Auflage. Leipzig
1914; .Allgemeine Physiologie. Vgl. S. 614 ff. der 6 . .Auflage. Jena 1915.-
4) Dersei be, .Artikel Tod im. Handwörterbuch der Naturwissenschaften",
Bd. IX. Jena 1913.
Definition des Todes. 3
neten Fälle, wo der Stoffwechsel eines Organismus über längere
Zeiträume hinaus stillsteht, ohne daß der Organismus tot ist:
denn unter veränderten Bedingungen können diese Organismen
aus dem latenten Leben wieder zu dem für sie charakteristischen
Stoffwechsel zurückkehren. Was in der Definition des Todes als
weiteres Moment zum Stillstand des Stoffwechsels noch hinzu
kommt, das ist der "irreparable" Stillstand des Stoffwechsels, wie
Verworn sich ausgedrückt hat. Eine allgemeingültige De
finition des Todes muß also den Tod charakterisieren
als einen irreversiblen Stillstand des Stoffwechsels der
lebendigen Substanz.
Man könnte dann behaupten, es sei ja eine ähnliche Definition
.des Todes in Relation zum Leben schon eingegeben allein durch
den Augenschein, daß der Tod irreversibler Stills.and aller Lebens
erscheinungen ist, und es bedürfe darum, wenn man eine allgemein
gültige Definition des Todes gewinnen will, gar nicht erst der
allgemein-physiologischen Analyse des Lebens, die uns das Leben
erkennen läßt als Dissimilation und Assimilation von lebendiger
Substanz. Aber sobald wir versuchen, tiefer einzudringen in die
Physiologie des Todes, ergibt sich uns der große Wert einer De
finition des Todes, die eine allgemein-physiologische Analyse des
Lebens zu ihrem Ausgangspunkt hat. Was wir als "Tod" im
Gegensatz zum "Leben" bezeichnen, ist nur das Endglied einer
Kette von Veränderungen, die sich in der lebendigen Substanz
abgespielt haben, bis es zu einem Stillstand des Lebens ge
kommen, bis der lebendige Organismus eine "Leiche" geworden ist.
Eine wissenschaftliche Analyse des Todes kann nun aber
nur darin bestehen, daß wir nach Möglichkeit sämtliche
Bedingungen erforschen, aus denen der Tod erwächst,
daß wir die ganze Kette von Veränderungen kennen lernen,
die den lebendigen Organismus zu einer Leiche werden
lassen, und eine in Relation zum Leben gefaßte De
finition des Todes kann nur dann einen wissenschaft
lichen \'Vert haben, wenn sie uns den Weg weist zu einer
Analyse dieserVeränderungen. der lebendigen Substanz:
d. h., wir brauchen eine Definition des Todes, die an eine
allgemein-physiologische Charakteristik des Lebens
anknüpft. Eine landläufige Definition des Todes als eines
"irreversiblen Stillstandes des Lebens" wäre für uns von gar
1*