Table Of ContentALLGEMEINE
PHYSIOLOGIE
VON
ALB RECHT BETHE
PROFESSOR EMERITUS
AN DER UNIVERSITÄT FRANKFURT A. MAIN
MIT 159 ABBILDUNGEN
S P R I N GER - VE R LAG
BERLIN . GOTTINGEN . HEIDELBERG
1952
ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAS DER ÜBERSETZUNG
IN FREMDE SPRACHEN, VORBEHALTEN
COPYRIGHT 1952 BY SPRINGER·VERLAG OHG .. BERLIN -GÖTTIN GEN • HEIDELBERG
SOFTCOVER REPRINT OF THE HARDCOVER IST EDITION 1952
ISBN 978-3-642-49464-2 ISBN 978-3-642-49746-9 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-642-49746-9
Geleitwort.
"Könnten Sie nicht ein Buch über da8 schreiben, was in den Lehrbüchern
nicht drinsteht ~" So fragten mich einige Studenten, als ich 1946 nach
achtjähriger, unfreiwilliger Pause zum erstenmal wieder die allgemeine Ein
leitung zur physiologischen Hauptvorlesung beendet hatte. Aus dieser An
regung erwuchs dies kleine Buch!·
Eigentlich trug ich mich mit der Absicht, eine allgemeine Physiologie
zu schreiben, schon vor einem halben Jahrhundert: Als jungem Studenten
drückte mir nämlich der Hirnanatom LUDWIG EDINGER die damals eben
erschienene erste Auflage von MAx V ERWORNs bekanntem Buch "Allge
meine Physiologie" in die Hand und sagte: "Das ist die wahre Physiologie!"
Ich las das Buch mit Begeisterung, aber doch nicht ganz ohne Widerspruch.
Selber eine allgemeine Physiologie nach meinen Ideen zu schreiben,
verschob ich vernünftigerweise auf ein reiferes Alter. Jetzt, wo ich keine
Pflichten mehr habe, fand ich die Zeit dazu. Als dann Herr Dr. SPRINGER
bereitwillig auf meinen Plan einging, begann ich mit der Arbeit.
Das jetzt fertig vorliegende Buch richtet sich nicht nur an junge Medi
ziner, die über die Grenzen ihres zukünftigen Berufs hinausschauen wollen,
sondern auch an Naturwissenschaftler, soweit sie ein Interesse an der be
lebten Natur nehmen.
Um auch den Angehörigen der Nachbarfächer verständlich zu sein, mußten Dinge kurz
erklärt werden, die dem Mediziner lind Zoologen geläufig, dem Botaniker, Chemiker und
Physiker aber ziemlich fremd sind. Auch das Umgekehrte kann der Fall sein. Diese Erläu
terungen sind meist in Kleindruck gesetzt. Die Anmerknngen bringen vorzugsweise Einzel
heiten, die zum Verständnis des Haupttextes nicht notwendig erscheinen.
Ehe über den heutigen Stand berichtet wird, ist bei den meisten Fragen
der Weg gekennzeichnet :~orden, den die Forschung genommen hat, um
zum Heute zu gelangen. Uber den Wandel der Anschauungen unterrichtet,
wird man es für nicht unwahrscheinlich halten, daß sich manches, was uns
jetzt als gan~ gesichert erscheint, später einmal als Irrtum erweisen wird.
Eine gemäßigte Skepsis bewahrt einen vor Enttäuschungen!
Ich habe versucht, ein allgemeines Bild der wesentlichsten Lebens
erscheinungen zu entwerfen. Manche Einzelheiten werden auch fertigen
Ärzten und Naturwissenschaftlern, ja sogar einigen Fachgenossen, fremd
sein und daher Anregungen geben. Hin und wieder werden sie auch auf
Ansichten stoßen, die nicht allgemein geteilt werden und zu Widerspruch
anreizen. Vielleicht sollte man solche subjektiven Stellungnahmen in einem
Buch vermeiden, das sich an einen größeren Leserkreis wendet; aber wenn
ich nur sagte, was einem jeden genehm ist, dann würde das Buch doch
zu unpersönlich geworden sein.
Frankfurt a. M., den 1. April 1952.
ALBRECHT BETHE.
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Definition des Organismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1
Die allgemeinen Grundzüge des Stoffabbaus und der Energieproduktion . . . . .. 4
Der Gewinn verwertbarer Energie und der Kreislauf der lebenswichtigsten Elemente in
der Natur. . . . . . . . 5
Kreislauf des Kohlenstoffs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
Kreislauf des Stickstoffs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
Energiespeicherung durch Schwefelbakterien und andere Mikroorganismen . 8
Ersatz verlorengegangenen, gebundenen Stickstoffs. 9
Die Lebensbedingungen 10
Die Temperatur. . . . . . 10
Das Wasser . . . . . . . 14
Die Nahrung. . . . . . . 16
Der "Verwendungsstoffwechsel" 21
Der Sauerstoff . . . . . . '. 23
Formen der Oxydation und der Reduktion 26
Das Prinzip der Arbeitsteilung, primitivste Lebewesen, freilebEmde Zellen, Zellkolonie,
Zellenstaat und "Individuenstaat" 27
Die Zelle. . . . . . . . . 28
Das Prinzip der Arbeitsteilung. . . . 31
Polymorphismus . . . . . . . . . . 33
Anhang: Leben, Tod und Lebensdauer 35
Grenzen des Zellbegriffs . . . . . . . 36
Allgemeine Eigenschaften der Protoplasten . 39
Die Plasmolyse (1) . . . . . . . . . . 39
Die Beziehungen zwischen Kern und Protoplasma 40
Der Aggregatzustand der lebenden Substanz. . . 42
Anhang: Inkorporation und Exkorporation von Fremdkörpern durch das Proto-
plasma (Gehäusebildung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
Wie schützen sich Protoplasten vor dem Verlust der zelleigenen Substanzen, und
wie gelangen lebenswichtige Stoffe in sie hinein? 48
Die semipermeablen Membranen und der osmotische Druck . . . 50
Plasmolyse (2) und Schlüsse auf die Natur der Plasmahaut . . . 54
Ist die Plasmahaut eine Realität? . . . . . . . . . . . . . . 56
Gibt es eine ganze Gruppe von Substanzen, welche ohne_ Schwierigkeiten in lebende
Zellen eindringen, und andere, denen der Eintritt in die Zellen prinzipiell versagt
ist? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
Analyse der Stoffaufnahme mit Farbstoffen. I. . 62
Das Verteilungsgleichgewicht . . . . 63
Die Akkumulation . . . . . . . . . . 64
Die aktive oder vitale Akkumulation. 64
Die passive Akkumulation . . . . . 67
Adsorbieren Eiweißkörper auch im Solzustand? . 74
Einfluß der Wandladung poröser Membranen auf die Beweglichkeit von Ionen. 75
Weitere Farbstoffversuche zur Aufklärung der Permeabilität der Plasmahaut und der
Akkumulationsvorgänge . . . . . . . . 81
Die Ladungshypothese ("Reaktionstheorie"). . . . . . . . . . . 83
Austauschversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
Der Stoffaustausch des Zellkerns. . . . . . . . . . . . . . . . 89
Rückblick auf den Stoffaustausch zwischen Zelle und Außenmedium 91
Das Süßwasser, die Körperflüssigkeiten und der Mineralbestand der Zellen 94
Die Durchlässigkeit der Körperoberflächen bei Wassertieren 100
Die biologischen Ionenwirkungen und der Ionenantagonismus 105
Aufbau des Seewassers . . . . . . . . . . . . . . . . 109
v
,Seite
Kolloidchemische Analogien zu biologischen Ionenwirkungen . 111
Die HOFMEISTERSChen Reihen . 111
Die Ionen des Wassers. . . . . . . . . . . 116
Methoden der Cn-bzw. der Pn-Messung 118
Die Glaskettenmethode . . . . . . . . 118
Die Indicatormethode . . . . . , . . . 119
Gepufferle Lösungen . . . . . . . . . 120
H- und OH-Ionen im Betrieb der Lebensvorgänge 122
Integrales Zell-pR . . . . 124
Tierische Zellen . . . . . . , . . . . . , . 124
Pflanzenzellen ..""......., 126
Das regionale Zell-pR . . . . . . . . . . . . 128
Der PR-Bereich säure- bzw., alkalibildender Bakterien 131
Die Abhängigkeit einiger Fermep"te vom PR . 133
Die Zweckmäßigkeitslehre oder Teleologie 136
Literaturhinweis I . . . . . . . . . . 139
Energiewandlungen und Energieäußerungen 140
Reiz und Erregung ......' . . . . . . . . 142
Die Reizarten und Allgemeines über ihre Wirkungen 144
Elektivität von Rezeptionsorganen ...... 144
Spezifität der Reizwirkungen . . . . . . . . . . . . 145
Zustandsänderungen, die nicht als Reize anzusehen sind 145
Reizgesetze . . . . . 146
Der elektrische Reiz 146
Der mechanische Reiz. 152
Der thermische Reiz . 153
Nachtrag. . . . . . . ........ 156
Der osmotische Reiz und seine Abgrenzung gegen den chemischen Reiz . . .. 157
Der chemische Reiz und seine Abgrenzung gegen die Einflüsse von Hormonen . 158
Das Acetylcholin . . . . . . . . . '. . . . . . . 159
Einfluß des Calciums auf die Erregbarkeit . . . . . 161
Die Wirkung von Kontraktursubstanzen auf Muskeln 162
Die FICKsche Hypothese der Muskelkontraktion . . . 163
Rolle der Kohlensäure bei der Atmung . . . . . . . . 165
Rhythmische Katalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . 167
Das Verhältnis der Hormone und Vitamine zu den eigentlichen akut wirkenden che-
mischen Reizstoffen . . . . . . . . . . . . 169
Die Kohlensäure als Hormon . . . . . . . . 169
Anhang I. 1. Wirkstoffe. Übersicht und Einteilung 171
Anhang Ir. Konditionalismus 178
Literaturhinweis Ir. . . . . 184
Reizeffekte und Automatie. . . 184
Die bioelektrischen Erscheinungen und ihre Beziehungen zu den Reizeffekten und
zur Automatie . . . . . . . . . . . . . . 187
Historisches über die Grundphänomene . . . . . . . . . .. .... . 187
Grundtatsachen der bioelektrischen Erscheinungen. . . . . . . . . . . . . . . 191
Potentialänderungen im Anschluß an äußere Reize . . . . . . . . . . . . . . . 192
Spontane Potentialänderungen ...................... , . 201
Autorhythmische Potentialschwankungen unter dem Einfluß veränderter Milieu-
bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
Dauerpotentiale . . . . , . . . . . . . . . . . . . 206
Theorie der galvanischen Erscheinungen bei Organismen 208
1. Molekular-Theorie (1848). . . . . 209
2. Alterationstheorie (1867). . . . . 209
3. Membrantheorie (BERNSTEIN 1902) 210
Zusammenfassung . . . . . . 216
Anhang. Die elektrischen Fische . . . . 217
Die Leuchtphänomene (Bioluminescenz) . 223
Der Chemismus des Leuchtvorgangs 225
VI
Seite
Mechanische Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
Grundsätzliches. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
Kräfte, welche mit Energieaufwand aufrechterhalten werden. 227
Allgemeine Physiologie der Bewegung und ihrer Mittel. . . . . 228
1. Bewegung durch Änderung des spezifischen Gewichts. . . 229
2. Bewegungen, die auf osmotische Arbeit zurückzuführen sind 229
a) Einmalige Bewegungen durch Entspannung eines Überdrucks . . . .. 229
b) Wiederholte Bewegung durch Entspannung und Wiederauffüllung eines
Uberdrucks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 230
c) Wachstumsbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . 231
3. Bewegungen durch Veränderungen der Oberflächenspannung . . . . . " 232
4. Bewegungserscheinungen organisierter Protoplasmastrukturen . . . . . .. 234
a) Was haben die Bewegungen von Muskeln, von Myoiden, von Wimpern und
Geißeln miteinander gemeinsam, und wodurch unterscheiden sie sich von den
Bewegungen des undifferenzierten Protoplasmas? 235
b) Flimmer-und Geißelbewegungen . .. ..... ....... 236
Wo hat die Automatie ihren Sitz? . . . ................ 236
Muskeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238
Zuckungsdauer der Muskeln und Leistungsgeschwindigkeit der zugehörigen Nerven 241
Erregung der Muskeln und Verlauf ihrer Kontraktion. . . . . . 242
Elektrische Reizung des Muskels ..... . . . . . . . . 243
Das Latenzstadium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
Ist bei allen Muskeln der gleiche GrundvOIgang anzunehmen? 245
Die Tragerekorde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
Energetik der Dauerverkürzung . . . . . . . . . . . . . . . .. 247
.. Die Empfindlichkeit verschiedener Muskelarten gegen nichtelektrische Reizung. 248
A.):lderungen des Muskelvolumens bei der Muskeltätigkeit . . . . . . . . . 250
Ist die Verkürzung der Muskeln oder ihre Verlängerung der aktivere Vorgang? 251
Ältere und neuere Ergebnisse myothermischer Untersuchungen. . . . . . . 256
Der augenblickliche Stand der Wärmebildung des Skeletmuskels während einer
Einzelzuckung nach den Untersuchungen von A. V. HILL . 259
Vergleich der Muskelzuckung mit einem Kippvorgang 262
Muskelproteine und Muskeltätigkeit 263
Schlußbetrachtungen . ......... 265
Vermittler zwischen den Teilen eines Organismus 267
Physikalische Vermittler . . . . . . . . . 267
Chemische Vermittler. . . . . . . . . . .. . 268
Leitungswege und ihre Beziehungen zu den Hormonen 269
Lokalwirkende Hormone. . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
Fernwirkende Hormone mit meist begrenztem Wirkungsbereich . . . . 272
Vergleich der Nerven- und der Hormonwirkungen mit technischen Einrichtungen 272
Die Erregungsleitung auf vorgebildeten Bahnen (Muskeln und Nerven) 273
Historisches ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
Nachweis chemischer Veränderungen während der Nerventätigkeit 276
Ist die Erregungsleitung ein kontinuierlicher Vorgang? 277
Saltatorische Erregungsleitung . . . . . . .. . 278
Literaturhinweis III . . . . . . . . . . . . . . . 281
Automatie, Rhythmik und Periodik . . . . . . . . . . 281
Rhythmische und periodische Erscheinungen aus inneren Ursachen. 283
Sachverzeichnis 292
Definition des Organismus.
Physiologie ist ein Teil der Biologie und Biologie die Lehre vom Lebenl•
Was aber ist das Leben, was ist lebendig 1 Naturvölker sind sehr weit
herzig mit dem, was als lebend, ja als beseelt angesehen wird, und auch
das klassische Altertum war es noch. Wir sind sparsamer geworden, obwohl
es noch in neuerer Zeit ernsthafte Naturforscher gegeben hat, die Liebe
und Haß bis zu den Atomen zurückverfolgen wollten.
Wir beschränken das Leben heutzutage auf Erscheinungen, die wir an
"Organismen" beobachten. Und so müssen wir wieder fragen: Was ist ein
Organismus, oder besser, was wollen wir als einen Organismus im Gegensatz
zur unbelebten Natur ansprechen 1 Mit wenigen Worten ist das nicht zu
definieren, denn es muß eine ganze Anzahl von Eigenschaften vorhanden
sein, um von einem Organismus sprechen zu dürfen. Vielleicht kann ml'J,n
diese so zusammenfassen:
Ein Organismus ist ein abgeschlossenes, charakteristisch geformtes,
wachstums- und vermehrungsfähiges Gebilde, aufgebaut aus "organischen"
und "anorganischen" Stoffen, begabt mit den Eigenschaften der Irritabili
tät, der Selbsterhaltung und des Stoffwechsels.
Wir fragen uns jetzt: Welche dieser Eigenschaften kommen auch an
unbelebten Naturobjekten vor, und müssen wirklich alle vereinigt sein,
um von einem Organismus zu sprechen 1
a) Eine Katze, ein Floh, ein Bacterium sind in sich geschlossene, charakteristisch geformte
Gebilde. Das gilt aber auch für einen Krystall aus Quarz, Zucker, Schwefelkies usw. und doch
zählt kein kritischer Mensch solche Gebilde zu den Organismen.
b) Wachstum kennen wir auch wieder bei Krystallen. Aber es erfolgt anders als bei
Tieren und Pflanzen, nicht wie dort durch Einlagerung des neu hinzugekommenen Materials
(durch Intussuszeption), sondern durch Anlagerung von außen (durch Apposition). Aufnahme
ins Innere finden wir aber auch bei hydrophilen Kolloiden und bei den flüssigen Krystallen -
also wieder keine .durchaus entscheidende Eigenschaft.
c) Die Vermehrungsfähigkeit kann man auch nicht als ein prinzipielles Reservat der
Organismen ansprechen - wenigstens nicht, wenn man die Vorgänge bei der Vermehrung
mancher einzelliger Organismen rein äußerlich zum Vergleich heranzieht. Hat das Wachstum,
zum Beispiel einer Amöbe, eine gewisse Größe erreicht, dann teilt sich die Zelle in zwei,
meist gleiche Teile. Denselben Vorgang kann man aber auch bei sich langsam vergrößernden
Flüssigkeitstropfen und nach den Angaben LEHMANNS bei flüssigen Krystallen beobachten.
d) Der Aufbau aus organischen und anorganischen Substanzen, sie mögen noch so gut
ausgewählt sein, macht gewiß noch keinen Organismus; jede Leiche lehrt es uns. Eine soeben
z. B. durch Erwärmen getötete Alge oder Amöbe enthält noch alle wichtigen Substanzen in
richtiger Zusammensetzung und doch ist "das Leben" verschwunden; es kehrt nicht wieder,
obwohl die charakteristische Form erhalten ist. Nun sind Amöben und Algen schon recht
hoch differenzierte Organismen; aber alle seit Erfindung d~s Mikroskops angestellten Ver
suche, einfachste Organismen unter einwandfreien Bedingungen aus leblosem Material zu
erzeugen, sind fehlgeschlagen. Im stillen Kämmerlein mögen bis in die neueste Zeit noch
Bestrebungen im Gange gewesen sein, die Möglichkeit einer "generatio aequivoca" zu beweisen;
aber es wird nicht mehr wie in früheren Zeiten darüber berichtet, weil sie eben zu keinen
positiven Resultaten führten. Und trotzdem sind wohl die meisten Naturforscher überzeugt,
1 Hier ist der Begriff Biologie im weitesten und wohl allein richtigen Sinn gefaßt. Es
gibt aber viele Forscher, die ihn viel enger fassen. Vor etlichen Jahren erlebte ich einen
kleinen Streit zwischen drei sehr bekannten Biologen. Jeder war der Ansicht, daß das, was
er betriebe, die eigentliche Biologie sei!
llethe, Allgemeine Physiologie. 1
2 Definition des Organismus.
daß zu irgendeiner Zeit einmal Bedingungen vorlagen, unter denen aus leblosem Material
das erste Leben entstand.
e) Auch die Irritabilität an sich ist keine Eigenschaft, die auf Organismen oder ihre über·
lebenden Teile (Muskeln, Nerven usw.) beschränkt ist. Versteht man nämlich unter Irri
tabilität die Fähigkeit eines Systems, auf eine äußere Zustandsänderung (Reiz genannt) mit
einer Entladung von Energie zu antworten, dann besitzt jedes geladene Schießgewehr und
jede gespannte Armbrust diese Eigenschaft ebensogut wie ein Frosch, der z. B. beim Druck
auf eine Zehe einen Sprung macht, oder ein Muskel, der auf einen elektrischen Reiz hin
zuckt. Allerdings: der Frosch hüpft und der Muskel zuckt auf einen zweiten Reiz von neuem;
das Gewehr aber muß wieder geladen und die Armbrust wieder gespannt werden. Auch hier
handelt es sich nicht um einen prinzipiellen Unterschied: Schon die Selbstladepistole ist
gleich wieder schußbereit, und weiter unten wird auf einige andre Systeme hingewiesen werden,
bei denen die Wiederaufladung ohne menschliches Dazutun geschieht.
f) Mit der Selbsterhaltung und dem Stoffwechsel kommen wir zu Eigenschaften, welche
den Organismen eigentümlich sind. Wohl kann man sich ein Automobil ausdenken, das bei
Bedarf selbsttätig die nächste Tankstelle aufsucht und ohne Hilfe Benzin und Schmieröl
aufnimmt; aber das würde so spezialisierte Einrichtungen auch in der Außenwelt verlangen
und würde so leicht in Unordnung geraten, daß es den Vergleich selbst mit schlecht auf den
Wecqsel der Außenbedingungen angepaßten Tieren und Pflanzen nicht aushalten könnte.
Um Sich zu erhalten (d. h. ihre Energievorräte wieder aufzufüllen), suchen freibewegliche
Tiere andre Stätten auf, wenn die Nahrung in der bisherigen Umgebung knapp geworden ist,
oder sie begnügen sich mit weniger geeignetem Futter und schließlich schmelzen sie ihre
eigenen Körpersubstanzen und nicht nur Reservestoffe ein. Auch bei ortsgebundenen Orga
nismen finden wir eine Anpassungsfähigkeit an veränderte Lebensbedingungen. Wenn z. B.
Hefezellen keinen Zucker mehr in ihrer Umgebung vorfinden, verbrennen sie bei Gegenwart
von Sauerstoff den vorher ~urch Gärung erzeugten Alkohol, um Betriebsenergie zu ge
winnen. Können wir etwas Ahnliches von dem erdachten Automobil erwarten?
g) Das ~ür die Organismen Charakteristischste ist aber wohl der Stoffwechsel: Der Aufbau
ihrer vielen verschiedenartigen. organischen Substanzen in eigener Fabrik und der fort
währende Abbau dieser Substanzen unter Energiegewinn, das unter normalen Verhältnissen
nie aufhörende Ineinandergreifen von "Assimilation" und "Diss'imilation".
Einige der vorher genannten Eigenschaften können im Lauf des Lebens
eines Organismus verlorengehen, oder auch bei einzelnen Individuen von
vornherein ganz fehlen, wie die Fortpflanzungsfähigkeit, manche können
auch ZUI;n Stillstand kommen, wie das Wachstum, und doch wird man
immer noch von einem Organismus sprechen. Der Art als solcher gehören
sie aber alle an, denn sonst würde sie - wenigstens auf die Dauer - nicht
existenzfähig sein. Selbst die Irritabilität und der Stoffwechsel können
zeitweise' aufgehoben oder auf ein Minimum reduziert sein, z.B. in der
Trockenstarre oder in tiefer Narkose, und doch ist potentia noch ein
Organismus vorhanden, wenn die aufgehobenen Qualitäten nach Rückkehr
zu normalen Verhältnissen wieder in Erscheinung treten. Denn oft kann
man einem tiefnarkotisierten Tier ebensowenig ansehen, ob es wieder
zum manifesten Leben erwachen wird, wie einem eingetrockneten Samen
korn, ob es noch keimfähig ist. Hier stehen wir an der Grenze zwischen
Leben und Tod; hier hört das Gebiet des Naturforschers auf und beginnt
das Tummelfeld des "Naturphilosophen".
Was lebend, was tot wir nennen wollen, ist die Frage der Definition,
und diese wird von manchen sehr eng, von andren sehr weit oder sehr
diffus gefaßt!. Versuch~n wir selbst, uns ein Urteil zu bilden!
Kein Biologe zweifelt daran, daß ein Gebilde, das alle Eigenschaften
besitzt, die wir einem Organismus zuerteilten, lebt. Jetzt zerstückeln wir
ihn. Da beginnt bereits das Dilemma, denn der Versuch fällt sehr ver
schieden aus je nach der Art, an der wir ihn ausführen. Immer bleiben
zunächst Eigenschaften erhalten, welche der Organismus als Ganzes besaß.
1 Der seinerzeit sehr gefeierte Naturphilosoph HERBERT SPENOER (1862) gab z. B. fol
gende Definition des Lebens: "Leben ist die fortwährende Anpassung innerer Relationen an
äußere Relationen."
Grenzen der Lebenserscheinungen. 3
Das abgetrennte Bein eines Frosches, ja seine einzelnen Ml;lskeln und Nerven,
zeigen noch Irritabilität und Stoffwechsel, das isolierte Herz schlägt noch
und einzelne Drüsen sezernieren weiter. Das dauert einige Stunden, unter
günstigen Umständen einige Tage, aber dann schläft alles langsam ein.
Wenn die Irritabilität schon lange erloschen ist, laufen noch manche Vor
gänge weiter, die man dem Stoffwechsel zurechnen kann; dann setzen auch
diese aus, aber noch lange dauern chemische Umwandlungen an, nehmen
sogar noch zu, die man als Autolyse bezeichnet und die auf der Gegenwart
von Fermenten beruhen. Wo soll man da die Grenze zwischen Leben und
Tod ziehen 1 Man nennt daher häufig vom Körper abgetrennte Teile
"überlebend", solange noch einige "Lebenserscheinungen" an ihnen wahr
nehmbar sind. Man will damit andeuten, daß sie nicht mehr vollwertig sind.
Nehmen wir einem Frosch nur ein Bein, so lebt er unter Umständen
bis an sein "natürliches Ende", aber einbeinig. Machen wir das gleiche
Experiment an einem Molch oder einem Taschenkrebs, so verhält sich das
amputierte Bein wie beim Frosch, aber nach einiger Zeit wächst dem
verstümmelten Tier ein neues Bein. Nehmen wir jetzt einen kleinen
Süßwasserpolypen (Hydra) und zerschneiden den Leib in kleine Stücke,
so zeigt jeder Teil selbständige Bewegungen, formt sich um, regeneriert
die verlorengegangenen Organe und wächst sich wieder zum Vollorganismus
aus. - Ähnliche Beispiele einer so vollständigen Regenerationsfähigkeit
lassen sich aus dem Pflanzenreich in großer Zahl anführen.
In allen solchen Fällen handelt es sich um Gewebe mit noch geringer
Spezifizierung. Bei den meisten "höheren" Tieren besitzen aber, nachdem
während der Entwicklung die Differenzierung zu Organen einen gewissen
Grad erreicht hat, gewöhnlich nur noch die Zellen der Keimdrüsen alle
Entwicklungspotenzen. Andre Zellarten vermögen meist nur noch die
eigene Art wieder zu erzeugen. Macht man, besonders im jugendlichen
Alter, Explantate von den einzelnen Geweben, so wachsen und vermehren
sich ihre Zellen in ihrer charakteristischen Form. Sie stellen dann gewisser
maßen Organismen eigener Art dar, die allerdings nur unter besonderen,
vom Experimentator geschaffenen Bedingungen existenzfähig sind und
bleiben, - Bedingungen, die in der Natur nicht realisiert sind (CARELL):
Explantate der ersten Anlage des Hühnerherzens erzeugen zunächst immer
wieder neue pulsierende Herzmuskelzellen, Bindegewebe Fibroblasten,
Skeletmuskelanlagen erregbare Muskelfasern, Corneastückchen Epithel
zellen, Pigmentepithel der Retina Pigmentzellen usw.
Hier habe,n wir also den Fall vor uns, den wir sonst nur von Einzelligen
und von den Geschlechtszellen der höheren Lebewesen kennen, daß das
Leben sich "ewig" fortzeugt. Wenn man nämlich von einem solchen
Explantat immer wieder neue Explantate abimpft, dann kann man durch
Jahre hindurch die Zellkulturen fortführen. Einzelne sterben zwar ab - an
"Altersschwäche" (wie auch die Körperzellen aller höheren Organismen) -,
aber die Kontinuität des Lebens an sich ist gewahrt, wie sie es ja auch
ist auf dem Wege der Fortpflanzungszellen bei allen existenzfähigen Tieren
und Pflanzen!
Wir müßten uns jetzt fragen: Welche Bedingungen müssen denn erfüllt
sein, damit Leben ist 1 Ehe wir aber auf die allgemeinen Lebensbedingungen
eingehen, müssen wir einen Blick auf das "Walten der Kräfte" bei den
Lebensvorgängen werfen.
1*
4 Grundzüge des Stoffabbaus.
Die allgemeinen Grundzüge des Stoffa bbaus
und der Energieproduktion.
Nach unserm heutigen Wissen ist die Quelle wohl aller energetischen
Leistungen der Organismen dIe potentielle Energie organischer Substanzen,
die in ihrem Körper aufgespeichert sind. Wir fassen also den Organismus
als "chemische Kraftmaschine" auf. Die Frage, woher diese Energievorräte
stammen, wollen wir zunächst beiseite lassen und uns hier auf die Energie
freisetzung, den "Energiegewinn", beschränken - also auf die Vorgänge,
die man gewöhnlich als "Dissimilation" bezeichnet. Wie die gewonnene
Energie verwertet wird, ob sie nur als Wärme in Erscheinung tritt, oder
zur Erzeugung mechanischer Arbeit, oder andrer Energieformen, oder zur
Umformung in andre chemische Verbindungen (eventuell höheren Energie
inhalts) verwandt wird, spielt für die allgemeine Frage keine Rolle.
Energie kann aus vielen organischen Substanzen auf zwei Wegen ge
wonnen werden, durch Spaltung und durch Verbrennung.
Verbrennung, d. h. Oxydation durch elementaren Sauerstoff (02)' kann
nur in Frage kommen, wenn freies O vorhanden ist!. Nun gibt es aber
2
zahlreiche Organismen, die des freien O nicht bedürfen, ja solche, für
2
welche Sauerstoff schädlich ist (fakultative bzw. obligate Anaerobier). Auch
bei den Luft atmenden Pflanzen und Tieren (Aerobier) sind Spaltungen
meist das Primäre. Der Energiegewinn aus Spaltungen ist nun aber ver
hältnismäßig sehr gering, so daß alle Anaerobier Verschwender sind, indem
sie Substanzen von hohem Verbrennungswert (z. B. Alkohol) als Stoff
wechselschlacken ausscheiden (Hefen, Eingeweidewürmer usw.).
Als Beispiel diene uns die Spaltung des Traubenzuckers in zwei Mole
küle Milchsäure, die - wenn auch indirekt auf recht komplizierten Wegen -
je 1 g nach folgender Bruttoformel (z. B. im Skeletmuskel und bei Milch
säurebakterien) verläuft:
CSH120S = 2CaHsOa + 185 cal.
Wird dagegen 1 g Traubenzucker verbrannt, dann wird 20mal soviel Energie
frei:
CSH120S+602 = 6C02 + 6H20 + 3785 cal2.
Für uns Aerobier handelt es sich im Endwert fast immer um Ver
brennungen - entweder von Leibessubstanzen oder mehr oder weniger
direkt aus der Nahrung übernommener organischer Substanzen. Als End
produkte der Verbrennung von Kohlenhydraten und Fetten und der nicht
aus Stickstoff bestehenden Eiweißanteile erscheint CO und H 0.
2 2
Ein einfaches Experiment zeigt uns die Ausscheidung der entstandeIl;en Kohlensäure
durch unsre Lunge: Läßt man die Einatmungsluft, die nur 0;2 % CO2 enthält, durch eine
Lösung von Bariumhydroxyd streichen, so trübt sich die Lösung erst nach längerer Zeit,
wäb..rend beim Hindurchleiten der Ausatmungsluft sehr schnell ein weißer Niederschlag von
Bariumcarbonat (BaC02l entsteht.
Bei diesen Oxydationsvcirgängen der Aerobier handelt es sich um eine langsame Ver·
brennung ohne erkennbare Flamme, ein Vorgang, der sich über eine relativ große Masse
verteilt. Wenn die Wärmemenge, die beispielsweise ein Mensch an einem Tag produziert
1 Über andre Arten der Oxydation s. S. 26.
2 Gemeint ist mit cal die kleine oder Grammcalorie, d. h. die Wärmemenge, die nötig
ist, um 1 g Wasser von 15 auf 16° C zu erwärmen. Allgemeiner bekannt ist ja die große
oder Kilogrammcalorie, nach welcher meist der Verbrennungswert der Nahrungsmittel an·
gegeben wird.