Table Of ContentHans-Peter Schwander
Alles urn Liebe?
Historische Diskursanalyse der Literatur
Herausgegeben von
Klaus-Michael Bogdal
Die Reihe "Historische Diskursanalyse der Literatur" bietet literatur
wissenschaftlichen Studien ein Forum, in denen die konkreten
Moglichkeiten und Regeln des Zustandekommens literaturhistori
scher Ordnungen erforscht werden. In dies en Arbeiten werden die
Gegenstande und Untersuchungseinheiten literaturwissenschaftlicher
Forschung selbst in Frage gestellt: der Text als koharentes, entzifferba
res Werk, der Autor als Schopfer von Sinn und die Geschichte als
totalisierbarer ProzeB. Nicht, welche ,Bedeutung' Texte, Subjekte und
Geschichte haben, wird untersucht, sondern auf welche Weise sie
konstituiert werden und welche heterogenen Praktiken sie biindeln.
In der Reihe werden Studien publiziert, die sich mit den wissen
schaftstheoretischen Grundlagen der Historischen Diskursanalyse
auseinandersetzen, die auf der Basis materialer Forschungen das
literaturhistorische Feld erweitern oder auf innovative Weise bislang
unerforschte Diskursbereiche erschlieBen.
Hans-Peter Schwander
Alles Liebe?
UlTI
Zur Position Goethes
im modernen Liebesdiskurs
Westdeutscher Verlag
D 25
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http://www.westdeutschervlg.de
U mschlaggestaltung: Christine Huth, Wiesbaden
Gedruckt auf saurefreiem Papier
ISBN 978-3-531-13021-7 ISBN 978-3-322-90307-5 (eBook)
DOl 10.1007/978-3-322-90307-5
InhaItsverzeichnis
Alles um Liebe? 7
1. "Dies Bildnis 1st bezaubernd schon" 16
Die Leiden des jungen Werther 19
Wilhelm Meisters Lelujahre 37
2. Der BegrifT "Liebe" 90
Theoretische Zugriffe 94
Goethes Au8erungen zorn Thema "Liebe" 112
3. Der Beginn einer gro8en Liebe 124
Erste Begegnung 125
Die Anverwandlung: Du sollst die ein Bildnis machen 138
4. Idealbilder 163
Die Neuformierung dec weiblichen Rolle 163
Das Problem dec Gleichberechtigung 177
Die Frau als Liebesobjekt 180
Frauencharakter 185
Frauenschicksal 205
s.
BeziehungsmodeUe 215
Rastlose Liebe 216
Eben und Eheversprechen 238
Dreierkonstellationen 255
6. Trennung und Entsagung 297
Ptlicht und Wunsch 298
Trennung als Schicksalsffigung 310
7. Liebe· Sehnsucht und Aufgabe 316
Die Sehnsucbt nacb dem Unerreicbbaren 317
Die Trennung von Begierde und GenuS 320
Strebende Liebe 340
Die Eliminierung der Prasenz 360
Dec Liebesdiskurs als Verflechtung von Geffibl und Leistung 373
Literaturverzeichnis 378
5
Alles urn Liebe?!
"Die Trauung hat mir etwas Grausenhaftes, gesteh' ich; in einer Kirche, wo Tote, Ver
wundete tags vorher lag en, wo man sicher erst aIle Spuren der vorhergehenden Tage
sorglich verwischt hatte, eine Zeremonie vorzunehmen, die jeder Mensch nur in den
glticldichsten Tagen seines Lebens oder nie feiern soIlte, dieses ist mir ein Gefiihl, das
ich nicht ganz verdriingen kann. Das Nachteilige des Eindrueks, den dieser Sehritt auf
die Gemiiter tun muB, ist nieht zu unterdriieken. Aueh ist es so ohne Nutzen und Zweek.
Ieh habe nieht Gliiek wiinsehen konnen, wie andere, und sehwieg lieber. Es war etwas
Unbereehnetes in diesem Sehritt, und ieh fiirehte, es liegt ein paniseher Sehreeken zum
Grund, der mir des Gemtits wegen wehe tut, das sieh durch seine eigene groBe Kraft
tiber die Welt hiitte erheben sollen.,,2
Es war die Trauung von Christiane Vulpius und Johann Wolfgang Goethe, tiber
die sieh Charlotte Schiller so schockiert zeigte. Offensiehtlich hatte sie etwas an
deres ffir angemessen gehalten: Weder der Zeitpunkt - Weimar wurde gerade von
Napoleons Soldaten gepliindert -, noch der art - eine Kirche, die als Notlazarett
diente -, noch die Wahl der Braut -die sie sieh nur aus dem panischen Schrecken
des Brautigams erklaren konnte -, stimmten mit ihrer Vorstellung von einer Ehe
schlie6ung tiberein. Eine Trauung war in ihren Augen der feierliche Eintritt in ein
gemeinsames Leben, und sie ffirchtete, Goethes Beispiel, der "sieh durch seine
eigene gro6e Kraft tiber die Welt hatte erheben soIlen", wfirde einen nachteiligen
Eindruck auf die Gemtiter austiben.
Diese Trauung en passant scheiDt eines SchOpfers literarischer Liebesheroen
nieht wfirdig. Goethe selbst hat vor allem okonomische Grtinde ffir den Schritt
geltend gemache: in den schwierigen Zeiten mochte er seine Beziehung legalisie
ren, damit er seine Frau versorgt wu6te und seinem Sohn "durch ein gesetzliches
Band, ... Vater und Mutter gab, wie er es lange verdient hatte"4.
Sein soziales Umfeld folgt einem anderen, weniger praktisch ausgerichteten
Eheideal: "in den gltickliehsten Tagen seines Lebens oder nie". Ftir eine Heirat
gibt es nur eine Begrtindung: Liebe. Von Goethe als Zentralfigur des literarischen
Die vorliegende Arbeit wurde unter dem Titel: "Hier ist die Frage nicht von einer liebe, die sich des
Gegenstands bemeistem will. " (Tasso). Eine Untersuchung von Goethes Beitrag zum liebesdiskurs
bei der Philosophischen Fakultiit der Albert-Ludwigs-Universitiit Freiburg a1s Dissertation eingereicht
2 Brief v. 24. November 1806 von Charlotte v. Schiller an Charlotte v. Stein; zit. nach Goethes Gesprii
che in vier Banden. Eine SammJung zeitgenOssischer Berichte aus seinem Umgang. Auf Grund der
Ausgabe und des Nachlasses von Aodoard Freiherm von Biedermann erg. und hrsg. v. Wolfgang
Herwig. ZUrich 1965-1984. Bd.II. S.147. Zitierweise im folgenden: Goethes Gespriiche. Biedermann.
Bandangabe in rom .• Seitenangabe in arab. Zahlen.
3 Die niiheren Umstande der Eheschlie6ung hat Siegfried Unseld (Goethe und seine Verleger. Frankfurt
und Leipzig 1991) ausfiihrlich erOrtert; s. dort S.386-401
4 Brief vom 25.12.1806 an Herzog Carl August. 1m selben Brief bittet er urn Oberschreibung des Hau
ses am Frauenplan mit dem Hinweis. daB er neben sich "geliebte Figuren hiitte. an die ich zu denken
genotigt werde wenn Freund Hein zuniichst an meine TOr klopft." Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe
4 Bde. hrsg. und kommentiert von Robert Mandelkow; Hamburg 1962-1967; bier Bd.III. S.34ff. Zi
tierweise im folgenden: Briefe HA. Bandangabe in rom.. Seitenangabe in arab. Zahlen.
7
Liebesdiskurses besonders wurde offenbar eine Realisierung der idealen Liebe
erwartet -oder weise Entsagung. So wurde er an den Idealen der "romantischen
Liebe" gemessen, an deren Produktion er selbst mitgewirkt hatte: an der Vorstel
lung, daB Mann und Frau sieh in Liebe finden und zu einem Paar erganzen, das
dann eine Familie begIiindet und sein Leben zusammen verbringt. Es blieb, wie
sieh zeigen wird, nieht bei dieser einen Vereinnahmung.
Das Ereignis, das hier kommentiert wurde, fand in einer Phase statt, in der der
Liebe eine neue und elementare Bedeutung zugescbrieben wurde. Die Geschichte
der Entstehung dieser modemen Vorstellung von Liebe ist in den letzten fUnfzehn
Jahren ein bevorzugtes Forschungsfeld geworden. Besonders diskursanalytisch
orientierte Untersuchungen beschliftigten sieh mit der Wandlung des Liebes- und
Ehediskurses im 18. Jahrhundert. Als fruchtbare Ausgangspunkte erwiesen sich
vor allem die Arbeiten von Miehel Foucault Sexualitat und Wahrheit5 und von
Niklas Luhmann Liebe als Passion6• Friedrich Kittler untersuchte die Darstellung
des von der Sozialisierung in der Kleinfamilie gepragten Begebrens im Werther7
und Wilhelm Meister8, und analysierte den Liebesdiskurs in Anlehnung an
Foucaults These von der Intensivierung und Fonnung des sexuellen Begehrens.
Nikolaus Wegmann verfolgte die Diskurse der Empjindsamkeit9 in ihrer Entwick
lung von der Gegenposition zum Adel bis zur Durchsetzung als Sprachregelung
fUr das Zusammenleben von Individuen in Freundschaft, Liebe und Familie; Jutta
Greis untersuchte in Dramen des 18. Jahrhunderts die Durchsetzung des Liebes
diskurses als Grundlage der Ehe10; Julia Bobsinll verglich AusfUhrungen zum
Thema Liebe und Ehe in rechtsphilosophischen, medizinischen, padagogischen
und popularphilosophischen Diskursen der zweiten Hlilfte des 18. Jahrhunderts
und benutzte diese als Folie fUr die Entwieklung der Liebessemantik in Goethes
Werther, Jean Pauls Hesperus und Schlegels Lucinde. Das Wichtige an diesen
Arbeiten ist die Relutivierung des Liebesbegriffs in doppelter Hinsieht: daB Liebe
immer nur in einer historischen Fonn existiert und daB sie nieht Resultat einer
spontanen GefUhlsauBerung ist, sondem Teil einer Sprachregelung, die einem
sozialen Kontext zuzuordnen ist. Ein gemeinsamer Mangel der diskursanalyti
schen Untersuchungen, die zu den von mir erforschten Texten vorliegen, ist je
doch, daB sie soziale Veranderungen nur auf der Ebene der Entwieklung von Dis-
5 Foucault, Michel: Sexualitilt und Wahrheit 1. Der Wille zum Wissen, Frankfurt 1983
6 Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimitat, Frankfurt 1982
7 Kittler, Friedrich A.: Autorschaft und liebe, in: Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaf
ten. Programme des Poststrukturalismus, hrsg. v. Friedrich A. Kittler, Paderborn 1980, S.142-173
8 Kittler, Friedrich A.: Ober die Sozialisation Wilhelm Meisters, in: Dichtung als Sozialisationsspiel.
Studien zu Goethe und Gottfried Keller. G6ttingen 1978, S.13-124
9 Wegmann, Nikolaus: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines GefOhls in der Literatur des
18. Jhts., Stuttgart 1988
10 Greis, Julia: Drama Liebe. Zur Entwicklungsgeschichte der modernen Liebe im Drama des 18. Jahr
hunderts. Stuttgart 1991
II Bobsin, Julia: Von der Werther-Krise zur Lucillde-liebe: Studien zur Liebessemantik in der deutschen
Erziihlliteratur 1770-1800. Tiibingen 1994
8
kursen ansiedeln12, gesellschaftliche Interaktion im Bereich der Arbeit, des Wa
rentauschs und der politischen Herrschaft aber weitgehend ausblenden. Dariiber
hinaus ftibrt die Analyse insbesondere bei Greis und Bobsin durch die strikte Ein
grenzung des Untersuchungsgegenstandes zu einer Verengung der Ergebnisse.
Die Entwicklung, die sie aufzeigen, gilt immer nur fUr den untersuchten Bereich,
etwa fOr das Drama im 18. Jahrhundert; die so erhobenen Untersuchungsergeb
nisse konnen dann leieht auf einer imaginaren Linie verortet werden, die zum
prognostizierten Ziel fUhrt, in unserem Fall zum romantischen Liebesideal.13 Von
diesem Ziel her, der Vereinigung der Liebenden in der Ehe, wird rOckwlirts alles
als Durchsetzung dieser Tendenz aufgerollt. Vereinigung der Liebenden wird ge
sucht - und gefunden14, auch wenn die Texte einem weniger voreingenommenen
Blick ein viel widersprOchlicheres Bild zeigen.
Dies stellt ein generelles Problem solcher Anslitze dar, die ihre Methoden und
Resultate in anderen Forschungszusammenhlingen erworben haben und nun an
die Untersuchung von literarischen Texten mit einem Fundus von zu erwartenden
Erkenntnissen herangehen. Das vorgefertigte Suchraster und die oft schon festlie
genden SchluBfolgerungen konnen "neue" Perspektiven eroffnen, bergen aber die
Gefahr, zentrale Aussagen der Texte zu verfehlen. Das gilt auch fUr psychoanaly
tische Interpretationsanslitze. DaB die psychische Prlidisposition des Autors fUr
mein Thema von hOchster Relevanz ist, steht auBer Frage. In welcher Form und
wie dominierend sie sieh auf sein Schreiben auswirkt, kann nur durch eine sorg
faltige Untersuchung der Texte ausgemacht werden.
Unbestreitbar finden sich in Goethes Werk gehliuft narziBtische Begeh
rensstrukturen und HeIden, die sich nieht aus der Bindung an die Schwester oder
an die Mutter gelOst haben. Damit ist allerdings zunlichst nur eine psychoanalyti
sche Erkenntnis tiber den Autor besmtigend verdoppelt, weiter ist nichts gekllirt.
Eine individuelle Pathologisierung zumal wOrde das wiehtigere Problem verfeh-
12 Eine so verstandene Diskursanalyse verzichtet auf die wesentliche Frage nach den "historischen Mog
lichkeitsbedingungen von Aussagen" (Kamm1er. 37). Will man ilber eine positivistische Konstatierung
der Entwicklung von Diskursen binausgehen. kommt dieser Frage in einer historischen Diskursanalyse
zentrale Bedeutung zu. s.d. Kammler. Clemens: Historische Diskursanalyse (Michel Foucault). in:
Klaus-Michael Bogdal (Hg.) Neue Literaturtheorien. Eine Einfilhrung. Opladen 1990. S.31-56; dort
isb. S.37-43
13 Wie die Untersuchungsmethode und das vorgegebene Ziel die Ergebnisse vorprogrammieren. kann
man besonders gut an Julia Bobsins Studien zur Liebessemantik (Von der Werther-Krise. ... 1994) se
hen. Sie kommt zu dem Resultat. daB Werthers Liebe zu Lotte am fehlenden Diskurs scheitert. "In Er
mangelung eines realen Codes fur die Gestaltung einer ganzheitlichen Liebe mull sich Goethe mit der
psychologisierenden Revision des Petrarkismus und mit einer romanimmanenten metasprachlichen
Kritik an seiner Formelhaftigkeit begnilgen." (94) "In der Semantik filr Intimitlit um 1774 -so eine
Plausibilisierung fUr die Unlosbarkeit des Liebeskonfliktes -ist eine Werther-Liebe nicht codierbar."
(96) Da er Lotte unma6ig Iiebe. wiirde er die bilrgerliche Form der Ehe sprengen. So sieht sie denn in
Lucinde die Erfiillung von Goethes Progranun: "25 Jahre spater wird Schlegel in seiner Lucinde eine
gelingende Werther-Liebe schildern." (96) Goethe wird die Logik der romantischen Liebe unterstellt;
daB sie nicht zur Anwendung kommt. wird als Problem des Entwicklungsstandes der Liebessemantik
gesehen. Diskurse werden bier als Baukastensystem aufgefaBt. bei dem die vorhandenen Teile benutzt
werden. ob sie passen oder nicht
14 Jutta Greis (Drama Liebe. 1991) sieht darin das Wesentliche der neuen Form des Zusarnmenlebens:
"Distanziosigkeit zur Person des anderen ist oberstes Gebot des neuen Liebesideals." (36)
9
len: der EinfluB des Liebesdiskurses, wie er beispielsweise durch den Werther
verbreitet wurde, leann nur so gewaltig sein, wenn er der Bedfufnisstruktur vieler
entspricht. Was aber sind diese Bediirfnisstrukturen, die von Goethes Liebesdis
kurs bedient werden, und wie komrnen sie zustande? Was findet Eingang in die
Neuformierung des Liebes- und Ehediskurses und was wird ausgeschlossen? Was
sind die Bedingungen, die die nachhaltige Wirkung des neuen Partnermodells
ermoglichen und fUr dessen allgemeine Anerkennung sorgen? Die Untersuchung
dieser Fragen beginne ich mit einer Beschreibung und Systematisierung der von
Goethe gestalteten Liebesdiskurse, theoretische ErkIarungsmodelle vorab brachten
eine zwangslliufige Fokussierung des Blickfeldes auf die einschlagigen Fragestel
lungen mit sich.
Einschrankungen durch die Fragestellung lassen sich ebenso fUr feministische
Arbeiten geltend machen oder fUr historisch-materialistische Ansatze, die von der
Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise und von der Klassenfrage
ausgehend ihre Interpretation entwickeln. Ich will den Punkt hier nicht weiter
verfolgen, sondern es vorerst bei diesen allgemein-methodischen Uberlegungen
belassen. Ich setze mich mit verschiedenen Arbeiten dieser Ansatze im Laufe
meiner Untersuchung dort auseinander, wo sich Beriihrungspunkte aus der Ana
lyse erg eben.
Den tiblichen Bescheidenheitstopos, daB man Bibliotheken mit Sekundarlitera
tur zu Goethes Werk fUllen konne und es deshalb als ungeheures Wagnis er
scheine, noch eine Untersuchung hinzuzufUgen, um es dann doch zu tun - ihn
mOchte ieh mit dieser Anmerkung abgeliefert haben. Erstaunlicherweise fmdet
sich zu dem von mir untersuchten Therna aber gar nicht so viel Literatur: es lie
gen einige altere Untersuchungen zurn Thema "Liebe" bei Goethe vor, wovon vor
allem Wilhelm Bodes Materialsamrnlungen15 zu diesem Thema hervorzuheben
sind, es gibt die urnfangreiche Studie von Paul Kluckhohn zum Liebesbegriff in
der Literatur des 18. Jahrhunderts16, wo der Abschnitt tiber Goethe gerade zehn
Seiten umfaBt. Kluckhohns Forderung von 1922 jedoch, daB "eine Gesamtdarstel
lung von Goethes Erleben der Liebe und von der Auffassung und der Darstellung
der Liebe und der Frauen in seinen Werken,,17 noeh zu sehreiben sei, blieb unein
gelOst. Am eingehendsten besehaftigten sich die Biographen mit dem Thema;
Richard Friedenthals Goethe-Biographie war eine der ersten, die aus dem Kanon
des verklarenden Nachempfindens von Goethes Liebesauffassung ausbrach und
auf eine tiefsitzende Angst vor der Liebe vor aHem in Goethes Frauenbeziehungen
15 Bode, Wilhelm.: Goethes Uebesleben, Bern 1970 (Nachdruck d. Ausgabe Berlin 1914); ders.: Weib
und Sittlichkeit in Goethes Leben und Denken. Berlin 1916; ders.: Neues iiber Goethes Uebe. Berlin
1921
16 Kluckhohn, Paul, Die Auffassung der Uebe in der Literatur des 18. lahrhunderts und in der deutschen
Romantik. Tiibingen 1966 (Erstauflage 1922); dort isb. S. 273-283
17 ebd. S.273
lO
hinwieslB• Auch fOr die Psychoanalyse war Goethes Liebesstreben ein bevorzugtes
Thema. Eisslers psychoanalytisch-biographische Studie19 analysierte mit immen
sem Aufwand und akribischer Auswertung des Materials die Beziehungsstrukuren
zwischen den Familienmitgliedern und davon ausgehend die wichtigsten Liebes
beziehungen, die Goethe einging. Er konnte dabei auf eine Vielzahl von Einzel
studien zmiickgreifen, die sich mit Goethes Liebesbegebren bescMftigt und in
diesem Zusammenhang eine Reihe pathologischer Erscheinungen konstatiert hat
ten.20
Ein bedeutender Teilbereich des Themas, die Gestaltung der Frauenfiguren, die
als Liebesobjekte von den Protagonisten erwahlt werden, ist in den letzten Jahren
vor allem in der feministischen Forschung ausfUhrlich bearbeitet worden. Neben
den grundlegenden Arbeiten zur Umgestaltung des Frauenbilds im spaten 18.
Jahrhundert von Karin Hausen21 und Silvia Bovenschen22 gibt es auch eine Reihe
von Spezialuntersuchungen zu den Frauenfiguren Goethes.23 Diese Untersuchun
gen haben jedoch einen anderen Blickwinkel: sie analysieren Goethes Vorstellung
von der "Frau", die sich hinter den Frauenbildem und -gestalten verbirgt, lassen
aber die Beziehungsdynamik weitgehend auBer acht. Diese ist jedoch gerade fUr
die Untersuchung der Frauenfiguren in Goethes Texten von groBter Bedeutung,
da sie Erscheinung und Auftreten der Frauen im Rahmen einer Liebeshandlung
weitgehend bestimmt.
Bine wichtige Arbeit im Umfeld meiner Untersuchung stellt Ulrike Prokops
Darstellung der Lebensentwiirfe von Frauen aus dem unmittelbaren Lebens
zusammenhang Goethes dar: von Susanne v. Klettenberg, von Catharina Elisa
beth Goethe und von Cornelia Goethe/Schlosser.24 Sie hat im Zusammenhang
ihres Themas die Umwandlung der Geschlechterbeziehungen in der zweiten
IDilfte des 18. Jahrhunderts umfassend beschrieben und analysiert.
18 Friedenthal, Richard: Goethe. Sein Leben und seine Zeit, Milnchen 1%8. Eine Ausnahme stellt auch
Georg Simrnels (Goethe, Leipzig 1913; dart isb. S.193-209) Goethe-Biographie dar, der das
"sollipsistische Erleben der Liebe" bei Goethe betont. (S. 201)
19 Eissler, Kurt R.: Goethe. A Psychoanalytic Study. 1775-1786. Detroit 1%3; deutsch: Goethe: eine
psycho-analytische Studie 1775-1786, Bd. 1 u. 2, Basel und Frankfurt 1983-85
20 Auf einige dieser Arbeiten komrne ich im Verlauf der Arbeit zu sprechen; fiIr aile gilt, daB Eisslers
Studie die bei weitem umfassendste und grilndlichste psychoanaIytische Interpretation der Person
Goethe darstellt.
21 Hausen, Karin: Die Polarisierung der 'Geschlechtscharaktere' -Eine Spiegelung der Dissoziation von
Erwerbs-und Farnilienleben, in: SoziaIgeschichte der Farnilie in der Neuzeit Europas, hrsg. v. Werner
Conze, Stuttgart 1976, S.363-393
22 Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschicht
lichen und literarischen Prasentationsformen des Weiblichen, Frankfurt 1979
23 So z.B. Anneliese Dick: Weiblichkeit aIs natilrliche Dienstbarkeit Eine Studie zum klassischen
Frauenbild in Goethes Wilhelm Meister, Bern I New York 1986; Fuhrmann, Helmut: Der schwan
kende Paris. 'Bild' und 'Gestalt' der Frau im Werk Goethes, in: JdFDH 51, 1989, S.37-126; Ladendorf,
Ingrid: Zwischen Tradition und Revolution. Die FrauengestaIten in Wilhelm Meisters Lehrjahren.
Bern 1990
24 Prokop, Ulrike: Die lllusion vom Gr06en Paar, Bd. 1 Weibliche Lebensentwlirfe im deutschen Bil
dungsbiJrgerturn 1750-1770; Bd. 2 Das Tagebuch der Cornelia Goethe; Frankfurt 1991
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