Table Of Content4 Algebra im Europa des Mittelalters und der
Renaissance
198 4 Algebra im Europa des Mittelalters und der Renaissance
375 – 568 Germanische V¨olkerwanderung
486 – 751 Fr¨ankisches Reich der Merowinger
um 500 Angeln, Sachsen und Juten wandern in England ein
711 Araberu¨berquerendieMeerengevonGibraltar,eroberndieibe-
rische Halbinsel bis auf Asturien
718 – 1492 Reconquista (Ru¨ckeroberung) der iberischen Halbinsel
732 Sieg Karl Martells u¨ber die Araber bei Tours und Poitiers
756 Umayyaden gru¨nden das Reich (seit 929 Kalifat) von C´ordoba
800 Karl der Große wird in Rom zum Kaiser gekr¨ont
843 Vertrag von Verdun: Karolingerreich wird in drei Teile geteilt
ab 862 In Nowgorod herrschen Normannen (War¨ager)
911 An der Seinemu¨ndung entsteht das Herzogtum Normandie
955 Schlacht auf dem Lechfeld (Ungarn zuru¨ckgeschlagen)
962 Otto I (d. Gr.) wird vom Papst zum Kaiser des Heiligen R¨omi-
schen Reiches gekr¨ont
10. Jh. Fru¨he romanische (ottonische) Baukunst
987 – 1328 Kapetinger regieren Frankreich
um 1000 Leif Eriksson entdeckt Nordamerika (Vinland)
1024 – 1137 Fr¨ankisch-Salische Kaiser
1066 Schlacht bei Hastings, Normannen erobern England
1077 Gang Heinrichs IV. nach Canossa
1096 – 1270 Kreuzzu¨ge
11./12. Jh. Romanische Dome, Kl¨oster und Skulpturen in Westeuropa
1130 – 1260 Normannisch-Staufische Herrschaft in Sizilien und Unteritalien
∼ 1150 – 1535Ausbreitung und Herrschaft der Hanse u¨ber die Ostsee
12./13. Jh. Aufblu¨hen oberitalienischer St¨adte (Pisa, Venedig, Genua, Mai-
land), fru¨he Gotik in derˆIle de France
1138 – 1250 Herrschaft der Staufer in Deutschland
13./14. Jh. Hochgotische Kathedralen in Westeuropa
14. Jh. Der Maler Giotto di Bondone (1266 – 1337) und die Dichter
Petrarca (1304 – 1374) und Boccaccio (1313 – 1375) leiten die
Renaissance ein
1337 – 1453 Hundertj¨ahriger Krieg zwischen England und Frankreich
1397 – 1523 Kalmarer Union der skandinavischen L¨ander unter d¨anischer
Fu¨hrung
1434 – 1498 Florenz unter der Herrschaft der Medici
um 1445 ErfindungdesBuchdrucksmitbeweglichenLettern(Gutenberg)
1453 Untergang des ostr¨omischen Reiches
15. Jh. Sp¨atgotik in Deutschland, England und Frankreich
1452 – 1519 Leonardo da Vinci
1469 Vereinigung von Kastilien und Aragon
1470 Moskau wird Drittes Rom“
”
1471 – 1528 Albrecht Du¨rer
1475 – 1520 Michelangelo
1492 Erster Erdglobus in Europa (Martin Behaim, Nu¨rnberg)
1492 Eroberung Granadas, Ende der Reconquista, (Wieder-)Ent-
deckung Amerikas durch Kolumbus
4.0 Einfu¨hrung 199
4.0 Einfu¨hrung
In der Periode des Mittelalters herrschte ein starkes Kulturgef¨alle von Osten
nachWesten.Nochbisweitins13.JahrhunderthineinhatEuropatrotzaller
kriegerischen Verwicklungen vom hohen Stand von Kultur und Technik in
den L¨andern des Nahen und Fernen Ostens, insbesondere der L¨ander des Is-
lam, profitiert. Papierherstellung, Kenntnisse von Heilkr¨autern, Zierpflanzen
und Obstgeh¨olzen, Architektur, vermutlich auch die Herstellung von Pulver
und der Kompaß waren nach Europa gelangt. Noch heute erregen die aus
planm¨aßigen Zu¨chtungen hervorgegangenen Araber“ die Bewunderung der
”
Pferdeliebhaber. In der Kunst des Webens von Brokat- und Seidenstoffen
sowie in der Metallverarbeitung waren die Muslime den Europ¨aern damals
weit u¨berlegen; die Bezeichnungen Damast“ und Damaszener“ (Stahlklin-
” ”
gen) verweisen auf ein Zentrum handwerklicher T¨atigkeit, auf Damaskus im
heutigen Syrien.
Abb. 4.0.1. B¨ogen im Vorraum des Mihrab der Mezquita in C´ordoba (10. Jh.)
[FotoAlten]
200 4 Algebra im Europa des Mittelalters und der Renaissance
Durch die Beru¨hrung mit den Muslimen waren Teile der hochentwickelten
WissenschaftdesIslam,dieihrerseitsgroßeTeilederantikenWissenschaftin
sichaufgenommenundweiterentwickelthatte,nachEuropagelangt.Aufdiese
Weise waren unter anderem die antiken Philosophen Aristoteles und Platon
sowie der antike Astronom Ptolemaios in Europa bekannt geworden. Mitte
des 13. Jahrhunderts hatten sich deren Anschauungen unter dem Druck der
mittelalterlichenKircheendgu¨ltigmitderchristlichenDogmatikzumSystem
der scholastischen Philosophie verschmolzen.
Seit dem 8./9. Jahrhundert zeigten sich - mit der Herausbildung der Feudal-
gesellschaft - auch in Europa deutliche Fortschritte in Wissenschaft, Techno-
logie und Kultur. Romanische und gotische Kathedralen spiegeln nicht nur
verschiedene Kunststile, sondern auch bedeutende Fortschritte in der Tech-
nologie wider. Durch den fr¨ankischen K¨onig und Kaiser Karl den Großen
wurde der Klerus angewiesen, Bildung zu erwerben und zu vermitteln; das
Reich mußte verwaltet werden. Aus einigen Kloster- und Domschulen gingen
sp¨ater Universit¨aten hervor. Kl¨oster entwickelten sich zu ¨okonomischen und
kulturellen Zentren. Ihnen und den U¨bersetzerschulen im muslimisch besetz-
ten Teil der Iberischen Halbinsel kommt ein großes Verdienst bei der Pflege
und Erschließung u¨berkommener wissenschaftlicher Manuskripte zu.
DieScholastikhatimHochmittelalterw¨ahrenddes13./14.Jahrhundertsher-
vorragende, auch naturwissenschaftlich orientierte Gelehrte hervorgebracht,
beispielsweise Roger Bacon, Albertus Magnus, Wilhelm von Ockham und
Thomas Bradwardine sowie Nicolaus Oresme, Bischof von Lisieux, einen
der bedeutendsten Mathematiker des europ¨aischen Mittelalters. Es gab Bril-
len, Windmu¨hlen, Uhren; man verfu¨gte u¨ber die starken Minerals¨auren. Die
A¨btissinHildegardvonBingenverfaßteschonim12.JahrhunderteineSchrift,
in der u¨ber 1000 Tiere und Pflanzen beschrieben wurden.
DieRenaissancewirdinderGeschichtswissenschaftalseinePeriodedesU¨ber-
ganges vom Mittelalter zur Neuzeit verstanden und in diesem Sinne inter-
pretiert. In der Tat traten - in Politik, O¨konomie, Gesellschaft, Kultur und
Wissenschaft - viele neue Zu¨ge zutage, die auf eine zuku¨nftige radikale Um-
wandlung der europ¨aischen Gesellschaft hindeuten.
Schon zu Beginn des 14. Jahrhunderts zeigten sich erste Zu¨ge einer herauf-
ziehenden neuen Gesellschaft, besonders in Italien, wo die Traditionen der
Antike noch am lebendigsten waren und die Zeugnisse der antiken Architek-
turallendeutlichvorAugenstanden.W¨ahrenddes14.,15.und16.Jahrhun-
derts begannen sich in Su¨d-, West- und Mitteleuropa und Teilen Osteuropas
Elemente des Fru¨hkapitalismus herauszubilden; die Neuorientierung erfaßte
alle Lebensbereiche. Der allm¨ahliche U¨bergang zur fru¨hkapitalistischen Ge-
sellschaft war begleitet von tiefen sozialen Widerspru¨chen, von Erhebungen
der Stadtbewohner und der Bauern gegen die Feudalordnung, von zahlrei-
chen Kriegen und von der Entstehung von Nationen und Nationalstaaten.
Das ¨außere Bild war gepr¨agt von einem bisher nicht gekannten Aufschwung
der handwerklichen Produktion, von der zunehmenden Abl¨osung der Natu-
4.0 Einfu¨hrung 201
ralwirtschaftdurchdieGeldwirtschaft,vomAufblu¨henderSt¨adte,aberauch
vong¨arendengeistigenundreligi¨osenBewegungen,vomZusammenbruchdes
mittelalterlichen Weltbildes und nicht zuletzt von einer glanzvollen Entfal-
tung von Kunst und Wissenschaft.
Das Interesse der Tr¨ager der neuen Wissenschaft und Kultur an einer dies-
seits orientierten und praktischen Zwecken dienenden Wissenschaft richtete
sich zun¨achst auf das Kennenlernen und die Erschließung und Nutzung der
aus der Antike u¨berkommenen Wissenschaften. Die Antike erschien in Ver-
kl¨arung als goldenes Zeitalter“; dies wiederherzustellen, ihm zur Wiederge-
”
burt (renaissance) zu verhelfen, galt als Ziel damaliger geistiger Eliten, im
Klerus, im Bu¨rgertum, an den H¨ofen, an den Universit¨aten. Die Losung ad
”
fontes“ (zuru¨ckzudenQuellen)ru¨cktediesystematischeSuchenachantiken
Quellen und deren Erschließung durch Textkritik (Befreiung von nachtr¨agli-
chen Streichungen und Einschiebungen) und die schließliche Wiederherstel-
lungderOriginaltexteindenMittelpunktderT¨atigkeitdersichalsHumani-
stenbezeichnendenGelehrten,Dichter,Publizisten,PhilosophenundSprach-
gelehrten.Dann,schonaufdemH¨ohepunktderRenaissance,lerntemanjene
Manuskriptekennen,diedievordemAnsturmderTu¨rkenfliehendenbyzan-
tinischenGelehrtennachItalienbrachten;1453fielByzanz(Konstantinopel)
in die H¨ande der Tu¨rken. Die antiken Sprachen - griechisch, lateinisch, he-
br¨aisch - wurden zum bevorzugten Studiengegenstand.
Am Ende des 15. Jahrhunderts lagen - im Anschluß an die vermittelnde
ausgebreiteteU¨bersetzungst¨atigkeitimislamischenBereichundw¨ahrenddes
europ¨aischenMittelalters-auchwichtigemathematischeSchriftenderAntike
vor und wurden allgemein zug¨anglich, insbesondere nach der Erfindung des
Buchdruckes. Die wichtigsten dieser Schriften sind:
Apollonius von Perge: Konika“, Buch I-IV, lateinisch 1537
”
Archimedes : Gesamtausgabe griechisch 1544, lateinisch
1558 (Auswahl bereits 1270)
Aristoteles: nach fru¨heren Auswahlen mehrere Gesamt-
ausgaben, z.B. lateinisch 1472, 1495/98,
1533
Diophant von Alexandria: lateinisch 1575
Euklid: lateinisch 1505, griechisch 1533
Heron von Alexandria: Auswahl griechisch-lateinisch 1571, 1589,
1616
Menelaos von Alexandria:lateinisch 1558
Nikomachos von Gerasa: griechisch 1538, 1554
Pappos von Alexandria: lateinisch 1588
Platon: Gesamtausgabe lateinisch 1483/84, grie-
chisch 1513, 1578
Ptolemaios : Almagest“ griechisch 1538, Tetrabiblos“
” ”
lateinisch 1484, griechisch 1535
202 4 Algebra im Europa des Mittelalters und der Renaissance
Abb. 4.0.2. Sieg des Ziffernrechnens u¨ber das Abakusrechnen. Zeitgen¨osssische
Darstellung von 1504
[ausG.Reisch:Margaritaphilosophica]
Bald jedoch, schon im ausgehenden 15. Jahrhundert, wuchs die Renaissance
u¨ber die bloße Aneignung der Antike hinaus. Eine Fu¨lle neuer Einsichten
konnte im 16. Jahrhundert erzielt werden, im Bereich der Produktion, bei
der geographischen Erschließung der Erde, in Wissenschaft und Kunst. Es
wurdeoffensichtlich,daßdieAntikeu¨bertroffenwerdenkonnteundu¨bertrof-
fen worden war. Tiere, Pflanzen, Erdteile waren entdeckt worden, von denen
4.0 Einfu¨hrung 203
sich bei den Alten nicht einmal eine Andeutung fand. Es gab R¨ader- und
Taschenuhren, Schießpulver, Feuerwaffen, Spinnr¨ader, Papier, Buchdruck; es
gab bedeutende Fortschritte im Bauwesen, im Schiffbau, im Bergbau und in
der Metallurgie. Diese Entwicklung ging charakteristischerweise nicht zuru¨ck
auf die lateinisch schreibenden Gelehrten an den unter kirchlicher Oberauf-
sicht stehenden Universit¨aten. Es waren vielmehr die unter der Sammelbe-
zeichnung artefici“ oder virtuosi“ auftretendenHandwerker,Kaufleute,Re-
” ”
chenmeister, Bu¨chsenmeister, Zeugmeister, Ingenieure, Architekten, bilden-
den Ku¨nstler usw., denen die entscheidenden Anst¨oße zu verdanken waren
unddiesichdersystematischenErforschungundDarstellungderProduktion
in ihren Nationalsprachen zuzuwenden begannen. Man spricht daher gerade-
zu von der wissenschaftlich-literarischen Entdeckung der Produktion.“
”
Die neue Auffassung vom Sinn und Nutzen der Wissenschaft vermochte sich
mit dem Erstarken des Fru¨hkapitalismus durchzusetzen und ergriff in zuneh-
mendem Maße auch die Vertreter der Universit¨atswissenschaft. Der durch
diePraktikererworbeneSchatznaturwissenschaftlicher,mathematischerund
technischerKenntnissewurdevondenVertreternderoffiziellenWissenschaft,
die traditionsgem¨aß auf die Systematisierung des Wissens orientiert waren,
theoretisch durchdrungen. Es kam zu einer Art Begegnung von Praxis und
Theorie, zu einem stufenweisen Zusammenwachsen mit revolution¨aren Fol-
gen: Am Beginn des 17. Jahrhunderts wurden bereits die Grundlagen der
klassischen Naturwissenschaft bzw. der sog. Wissenschaftlichen Revolution
gelegt. Was die Algebra betrifft, so zeigen sich analoge Entwicklungsg¨ange.
Der Fortschritt der Algebra seit dem Hochmittelalter bis zur Renaissance
beruht auf zwei historischen Quellen.
Zum einen ist es die Erschließung des wissenschaftlichen Erbes: die sog.
geometrische Algebra bei Euklid. Dort wurden geometrische Methoden zur
L¨osung von Problemen verwendet, die z.B. mit der L¨osung quadratischer
Gleichungen inhaltsgleich sind (vgl. 2.3). Die Weiterentwicklung der antiken
Gleichungstheorie“ durchKlassifizierung der quadratischen Gleichungen er-
”
folgte insbesondere durch al-Hw¯arizm¯ı in seiner Abhandlung al-Kita¯b al-
˘ ”
muhta.sar f¯ı h.isa¯b al-˘gabr wa-l-muqa¯bala“. In diesen Gedankenkreis geh¨oren
˘
auch die geometrischen L¨osungsans¨atze fu¨r kubische Gleichungen.
ZumandernistesderdirekteEinflußdesFru¨hkapitalismus:Verst¨arkungder
Handelst¨atigkeitundderU¨bergangzurGeldwirtschaft.Soentwickeltesichin
den vom Fru¨hkapitalismus erfaßten L¨andern ein neuer Berufsstand, der des
Rechenmeisters,eines MeistersdesAbbacus.“ H¨aufigimAuftragederStadt-
”
verwaltungenfu¨hrtendieRechenmeisterkommunaleRechenarbeitenausund
unterhielten eigene Rechenschulen, in denen gegen Entgelt der Umgang mit
Zahlen und ihren Schreibweisen, die Grundrechenarten, Bruchrechnung und
Anwendungen auf Probleme des t¨aglichen Lebens bei Kauf, Tausch, Geld-
gesch¨aften, Umrechnungen von verschiedenen W¨ahrungen und Maßen, Drei-
satz, Zins- und Zinseszinsrechung, Kunst der doppelten Buchfu¨hrung und
anderes mehr gelehrt wurden. In manchen F¨allen paarte sich das praktische
204 4 Algebra im Europa des Mittelalters und der Renaissance
Rechnen mit dem Interesse an theoretischen Fragen, die wir heute der Al-
gebra zurechnen, insbesondere bei der Behandlung von Aufgaben, die auf
Gleichungen fu¨hren. Bereits bei Leonardo Fibonacci von Pisa zeigt sich in
seinem Liber abbaci“ von 1202 die Doppelfunktion von praktischem Rech-
”
nen und Behandlung von Gleichungen.
Intereressant ist auch der Umstand, daß nach und nach Abku¨rzungen in Ge-
brauch kamen, fu¨r Addition und Subtraktion, fu¨r die gesuchte Gr¨oße, die als
res“ (lateinisch: Sache) oder italienisch als cosa“ bezeichnet wurde. Auch
” ”
kamenBezeichnungenfu¨rdiePotenzendergesuchtenGr¨oßeauf.Al-Hw¯arizm¯ı
˘
hattefu¨rdiezweitePotenzdasWortfu¨rVerm¨ogenbenutzt;nunsprichtman
census“ bzw. cens.“ Das Wort cosa“ fu¨r die Unbekannte wurde sozusagen
” ” ”
zum Symbol fu¨r die Kunst der Bestimmung der Unbekannten, fu¨r die Kunst
der Aufl¨osung von Gleichungen. So sprach man schließlich von cossischer
”
Kunst“ oder einfach von Coß“ und Cossisten.“ Natu¨rlich war die Gren-
” ”
ze zwischen Rechenmeistern und Cossisten fließend. H¨aufig auch verbanden
sich Rechenmeistert¨atigkeit und cossische Leistung in Personalunion, etwa
bei Adam Ries.
AnfangserfandendieAutorenAbku¨rzungennacheigenemGeschmack.Nach
und nach aber bu¨rgerten sich verbindlich werdende Bezeichnungen - verbal
und bei Symbolen - ein, beginnend mit denen fu¨r die ersten Potenzen der
Variablen (der Unbekannten, der gesuchten Gr¨oße) und fu¨r die Operationen
der Addition und Subtraktion. Die Coß selbst erlebte eine innere, ¨außerlich
an ihren Symbolen sichtbar werdende Entwicklung, die in die Existenz einer
Algebra als einer neuen, selbst¨andigen Disziplin einmu¨nden sollte. Geogra-
phisch gesehen vollzog sich diese Entwicklung ausgehend von Italien, wie die
Auspr¨agung des kaufm¨annischen Rechnens auch, wurde dann haupts¨achlich
durchdeutsche,niederl¨andische,englischeundfranz¨osischeCossistenweiter-
gefu¨hrt. Mit Vieta endet diese und beginnt eine neue Periode.
4.1 U¨bersetzungen aus dem Arabischen
InWesteuropasindausderZeitvordem12.Jahrhundertkeinealgebraischen
Schriften bekannt - es sei denn, man rechnet einen isoliert stehenden kleinen
Text, der sich mit positiven und negativen Zahlen besch¨aftigt, zur Algebra.
Erst durch die U¨bersetzungen aus dem Arabischen gelangte algebraisches
Wissen auch nach Westeuropa.
Die Schrift von al-Hw¯arizm¯ı zur Algebra wurde im 12. Jahrhundert zweimal
˘
ins Lateinische u¨bersetzt: durch Robert von Chester in Segovia (1145; siehe
[Hughes1989])undetwassp¨aterdurchGerhardvonCremona[Hughes1986];
ferner gibt es eine Bearbeitung, deren Autor umstritten ist (siehe [Kaunzner
1986]). Durch diese U¨bersetzungen lernte man al-Hw¯arizm¯ıs Verfahren ken-
˘
nen, lineare und quadratische Gleichungen in geometrischer Form zu l¨osen.
Ausgehend von diesen U¨bersetzungen, wurden seine sechs Klassen von Glei-
4.1 U¨bersetzungen aus dem Arabischen 205
chungen, die alle denkbaren F¨alle von linearen und quadratischen Gleichun-
gen umfassen, zum Allgemeingut der algebraischen Schriften bis zum 16.
Jahrhundert.
ImJahre1145u¨bersetztePlatovonTivoliden Liberembadorum“ (Buchder
”
Messungen) ins Lateinische. Sein Autor war Abraham bar Hiyya, ein ju¨di-
scher Gelehrter, der in der 1. H¨alfte des 12. Jahrhunderts in Barcelona lebte
undinderlateinischenWeltunterdemNamen Savasorda“ bekanntwar.Das
”
Buch der Messungen“ lehrt nicht nur geometrisches, sondern auch algebrai-
”
sches Wissen, u.a. die L¨osung quadratischer Gleichungen. Savasorda wußte,
daßdieGleichungx2+b=axzweiverschiedeneL¨osungenbesitzt,undbewies
alleF¨allegeometrischmitHilfedes2.BuchsvonEuklids Elementen“.Erbe-
”
handelte Fl¨achen- und Inhaltsbestimmungen ebener und r¨aumlicher Figuren
undsetztebeiderL¨osunggeometrischer Problemegeschickt dieAlgebraein.
Das Buch wurde u.a. von Leonardo von Pisa fu¨r seine Practica geometriae“
”
benutzt.
Auch die algebraische Schrift von Abu¯ Ka¯mil wurde ins Lateinische (und
sp¨ater auch ins Hebr¨aische) u¨bersetzt (siehe [Sesiano 1993]). Dadurch lernte
man im Westen nicht nur seine Verfahren kennen, um Gleichungen 1. und
2. Grades geometrisch zu l¨osen, sondern auch seine Bestimmung der Seiten
des regelm¨aßigen 5-Ecks und 10-Ecks mit Hilfe algebraischer Methoden und
seineBehandlungunbestimmterquadratischerGleichungen.Obwohlnureine
lateinische Handschrift erhalten ist, hat das Werk einen großen Einfluß auf
die weitere Entwicklung der Algebra im Westen ausgeu¨bt, insbesondere auf
Leonardo von Pisas Liber abbaci“ und seine Practica geometriae“, die im
” ”
wesentlichen dem 2. Teil von Abu¯ Ka¯mils Schrift entspricht. Zum U¨berset-
zungsprogramm des 12. Jahrhunderts geh¨orte auch der Liber augmenti et
”
diminutionis“ ( Buch u¨ber Vergr¨oßerung und Verringerung“), der von Abu¯
”
Ka¯mil oder von Abraham ibn Ezra (um 1090–1167) stammen k¨onnte. In
ihm werden mit Hilfe des doppelten falschen Ansatzes lineare Gleichungen
miteinerUnbekanntenundlineareGleichungssystememitzweiUnbekannten
gel¨ost.
Erst in den letzten Jahrzehnten ist ein umfangreiches algebraisches Werk
in lateinischer Sprache wieder bekannt geworden: der Liber mahameleth“,
”
denJohannesHispalensisum1150inSpanienunterEinflußarabischerQuel-
len zusammenstellte. Der Ausdruck mu‘a¯mal¯at“ bezeichnet die Anwendung
”
der Arithmetik und der Algebra, insbesondere auf den Handel. Die Schrift
enth¨alt eine umfangreiche Aufgabensammlung mit einem einleitenden Ab-
schnitt u¨ber die Teile der Mathematik, die man zum L¨osen der Aufgaben
braucht. Die algebraischen Probleme werden - ¨ahnlich wie bei Abu¯ Ka¯mil -
auch geometrisch gel¨ost. Durch die U¨bersetzungen algebraischer Texte aus
demArabischenwurdederWestenmitderarabischenArt,algebraischePro-
bleme geometrisch zu l¨osen, vertraut. Noch im 15. Jahrhundert findet man,
z.B. bei Johannes Regiomontanus (1436–1476), das Bestreben, algebraische
L¨osungen durch geometrische zu ersetzen.
206 4 Algebra im Europa des Mittelalters und der Renaissance
4.2 Leonardo von Pisa
Das algebraische Wissen der Araber wirkte im Westen sowohl direkt durch
U¨bersetzungen als auch indirekt durch Schriften europ¨aischer Autoren, die
Kenntnisse u¨ber die mathematischen Verfahren hatten. Der wichtigste von
ihnenwarLeonardovonPisa,auchLeonardoFibonaccialsSohndesBonaccio
genannt,weilseinVaterdenBeinamenBonaccio(derGutmu¨tige)trug.Seine
Schriften bilden ein Bindeglied zwischen der theoretischen Mathematik, die
sp¨ater an den Universit¨aten gelehrt wurde, und der anwendungsbezogenen
praktischenMathematik,diesichandieKaufleuterichtete.Leonardos Liber
”
abbaci“, der noch auf Latein geschrieben war, wurde zum Ausgangspunkt
zahlreicher nationalsprachiger Arbeiten zur praktischen Mathematik.
LeonardostammteausPisa,dasum1200Handelsniederlassungenimganzen
Mittelmeergebiet besaß.DurchdieBesch¨aftigungseinesVatersinderpisani-
schen Handelsniederlassung Bugia in Nordafrika konnte Leonardo auf Han-
delsreisen in alle Teile des Mittelmeerraums ein Wissen erwerben, das weit
u¨ber die in Kaufmannskreisen u¨blichen Kenntnisse hinausging. Die Frucht
seiner Studien ist der Liber abbaci“ (1202; u¨berarbeitet 1228). Der Name
”
Abbacus“ hat nichts mit dem antiken oder mittelalterlichen Rechenbrett
”
zu tun, sondern bezeichnet die neue Arithmetik, die Leonardo die indische“
”
nennt. Leonardo systematisierte im Liber abbaci“ ein umfangreiches Mate-
”
rial,daserausarabischenWerkensch¨opfte;erbenutzteaberauchdasantike
Erbe und nahm eigene Aufgaben und Methoden hinzu. Schwerpunkte des
umfangreichenWerkssinddieArithmetiksowiedieAlgebraderlinearenund
quadratischenGleichungenundderunbestimmtenGleichungen. Leonardoist
der gr¨oßte Algorithmiker des westlichen Mittelalters. Er informiert ausfu¨hr-
lichu¨berdieGrundrechenarten,ervervollkommnetdieMethode,denHaupt-
nennerzufinden,gibtdieTeilbarkeitsmerkmalebeiderDivisiondurch2,3,5
und9anunderw¨ahntdieSiebener-,Neuner-undElferprobe.GroßenUmfang
nehmenbeiihmdieMethodenein,Aufgabenausdemkaufm¨annischenRech-
nenzul¨osen,dieaufderProportionenlehreberuhen.ErbehandeltAufgaben
mitdrei,fu¨nfundmehrGr¨oßen,diedirektoderumgekehrtproportionalsein
k¨onnen.ZurL¨osunglinearerGleichungenwendetLeonardoverschiedeneMe-
thoden an: den einfachen und doppelten falschen Ansatz sowie eine in Worte
gekleidete algebraische L¨osung. Viele Aufgaben sind orientalischen oder an-
tiken griechischen Ursprungs, ebenso wie die zugeh¨origen L¨osungsmethoden,
dieLeonardoallerdingsweiterentwickelthat.ImZusammenhangmitlinearen
GleichungenließLeonardoauchAufgabenmitnegativenL¨osungenzu,dieer
als Schuld“ interpretierte. Bei der numerischen Berechnung der Quadrat-
”
und Kubikwurzeln ging er von den in den islamischen L¨andern bekannten
N¨aherungsverfahren aus und berechnete die Werte durch einen Iterations-
algorithmus. - Der Liber abbaci“ regte ku¨nftige Generationen zu speziellen
”
Schriften zur Arithmetik und Algebra an. Seine Aufgaben und L¨osungsme-
thoden fanden Eingang in italienische, deutsche, franz¨osische und englische
Bu¨cher; einige begegnen uns noch in Leonhard Eulers Algebra“ (1768).
”
Description:Die antiken Sprachen - griechisch, lateinisch, he- . durch deutsche, niederländische, englische und französische Cossisten weiter- geführt. speculativa“), die speziell als Lehrbücher an den Universitäten große Verbrei- .. Übrigens stammen von ihm die Wortbildungen Billion, Trillion, Quadri