Table Of ContentJens Tenscher · Helge Batt (Hrsg.)
100 Tage Schonfrist
Jens Tenscher · Helge Batt (Hrsg.)
100 Tage
Schonfrist
Bundespolitik und Landtagswahlen
im Schatten der Großen Koalition
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1.Auflage 2008
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Lektorat:Katrin Emmerich / Marianne Schultheis
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Umschlaggestaltung:KünkelLopka Medienentwicklung,Heidelberg
Druck und buchbinderische Verarbeitung:Krips b.v.,Meppel
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in the Netherlands
ISBN 978-3-531-15197-7
Inhalt
Helge Batt & Jens Tenscher
100 Tage Schonfrist nach der Bundestagswahl 2005?
Mythos und Zwischenbilanz.....................................................................................7
Nach der Bundestagswahl: Regierung, Medien, öffentliche Meinung
Heiner Geißler
Zur Schonung gezwungen?
Politischer Attentismus nach der Bundestagswahl 2005........................................23
Uwe Jun
Auf dem Weg zur Großen Koalition:
Regierungsbildung in Deutschland 2005................................................................27
Bernhard Kornelius & Dieter Roth
Regierungswechsel = Stimmungswechsel?
Pragmatischer Realismus nach der Bundestagswahl..............................................55
Frank Brettschneider & Markus Rettich
„100 Tage Medien-Schonfrist“?
Regierungen in der Medienberichterstattung nach Bundestagswahlen..................73
Landtagswahlen in Zeiten der Großen Koalition
Richard Hilmer
Landtagswahlen 2006 im Zeichen der Großen Koalition:
Eine vergleichende Betrachtung.............................................................................93
Jens Tenscher
Große Koalition – kleine Wahlkämpfe?
Die Parteienkampagnen zu den Landtagswahlen 2006 im Vergleich...................107
6 Inhalt
Bernd Schlipphak & Ulrich Eith
Die baden-württembergische Landtagswahl 2006 im Einflussfeld
der Bundespolitik:
Auswirkungen und Rückwirkungen.....................................................................139
Sigrid Koch-Baumgarten
Die Landtagswahl in Rheinland-Pfalz 2006 und ihre
bundespolitische Bedeutung.................................................................................155
Klaus Detterbeck
Die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt 2006:
Der landespolitische Parteienwettbewerb und der (ungewöhnlich kleine)
Schatten der Bundespolitik...................................................................................177
Nach den Landtagswahlen: Regierung, Parteien, öffentliche Meinung
Axel Murswieck
Von Schröder zu Merkel – eine Frage des (Regierungs-)Stils?
Zu den Machtressourcen der Bundeskanzlerin in einer Großen Koalition...........199
Helge Batt
Weder stark noch schwach – aber nicht groß:
Die Große Koalition und ihre Reformpolitik .......................................................215
Matthias Micus & Franz Walter
Entkopplung und Schwund:
Parteien seit der Bundestagswahl 2005................................................................247
Richard Meng
Das Bündnis der Artgleichen:
Eine kritische Zwischenbilanz der Großen Koalition aus journalistischer Sicht..283
Autorenverzeichnis..................................................................................297
100 Tage Schonfrist nach der Bundestagswahl 2005?
Mythos und Zwischenbilanz
Helge Batt & Jens Tenscher1
1 Einleitung
Das Jahr 2005 stellte in vielerlei Hinsicht eine politische Zäsur für die Bundesre-
publik Deutschland dar: Bundeskanzler Gerhard Schröder und SPD-Chef Franz
Müntefering kündigten noch am Abend der für die Sozialdemokraten verlorenen
gegangenen Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen an, die eigentlich für den
Herbst 2006 vorgesehene Bundestagswahl um ein Jahr vorziehen zu wollen. Da-
durch sollte, so die offizielle Begründung, den Bürgerinnen und Bürgern die Mög-
lichkeit gegeben werden, über die Fortführung der von Rot-Grün eingeleiteten
Reformen direkt abzustimmen. Gleichzeitig beabsichtigte Gerhard Schröder, sich
eine neue, zuverlässige Bundestagsmehrheit zu beschaffen (vgl. u.a. H. Batt 2007:
64ff.). Über den Umweg des geplanten Vertrauensentzugs durch die Mehrheit der
Mitglieder des Deutschen Bundestages wurde das Parlament – zum dritten Mal
nach 1972 und 1983 – durch den Bundespräsidenten aufgelöst.
Nachdem das Bundesverfassungsgericht am 25. August dessen Entscheidung
zur Auflösung bestätigt hatte, war der Weg zu vorgezogenen Neuwahlen frei, wel-
che am 18. September 2005 stattfinden sollten; zu einem Zeitpunkt also, als der
Wahlkampf bereits auf Hochtouren lief (vgl. hierzu u.a. K.-R. Korte 2005). Dieser
zeichnete sich „durch eine besondere Intensität, eine ausgeprägte Bereitschaft zur
Konfrontation sowie eine Re-Politisierung“ (J. Tenscher 2007: 65) aus und führte
zu einem für viele Beobachter unerwarteten Ergebnis: vergleichsweise geringe
Verluste auf Seiten der SPD, aber – überraschenderweise – auch bei den Unions-
parteien sowie der klare Einzug von Grünen, FDP und Linken in den Bundestag.
Dieses Ergebnis machte eine der erwünschten und in Bund und Ländern vielfach
erprobten Regierungskoalitionen entlang der etablierten „Lagergrenzen“ unmög-
lich, insbesondere weil sich das Wahlbündnis aus PDS und WASG für keine Partei
als Koalitionspartner anbot. Die – nahezu logische – Konsequenz war schließlich
die Bildung der zweiten Großen Koalition, eines Bündnisses der „Verlierer“ (B.
Kornelius/D. Roth 2007), und die Wahl Angela Merkels zur ersten Bundeskanzle-
rin in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Seither sind zwei Jahre vergangen und die Legislaturperiode hat ihre Halbzeit
hinter sich gebracht. Diese Phase möchte der vorliegende Band nutzen, um eine
1 Wir danken Matthias Bandtel für seine umfängliche Unterstützung bei der Formatierung der
Beiträge dieses Bandes.
8 Helge Batt & Jens Tenscher
Zwischenbilanz der zweiten Großen Koalition in der Geschichte der Bundesrepu-
blik Deutschland zu ziehen. Dabei wird ein besonderes Augenmerk auf deren
Startphase gelegt. Schließlich standen Regierungswechsel, Regierungsstil und
politischer „Neubeginn“ angesichts der turbulenten bundespolitischen Situation des
Jahres 2005 unter besonderer massenmedialer Beobachtung und erhöhter öffentli-
cher Erwartungshaltung. Dies gilt umso mehr, als die üblicherweise neu gewählten
Regierungschefs eingeräumten 100 Tage Schonfrist nahezu zeitgleich mit den
Landtagswahlen am 26. März 2006 in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und
Sachsen-Anhalt endeten (vgl. hierzu J. Schmid/U. Zolleis 2007). Diese zeitliche
Koinzidenz schien sowohl für die Akteure im Bund als auch in den betroffenen
Ländern nachhaltige Folgen zu haben: Auf der einen Seite mündete die bundespo-
litische Situation – zumindest bei SPD und CDU – in eine Rückbesinnung auf
landesspezifische Problemlagen und kam in vergleichsweise „lahmen“, wenig
polarisierten Landtagswahlkämpfen zum Ausdruck. Auf der anderen Seite schien
das politische „Durchstarten“ im Bund, insbesondere die Auseinandersetzung zwi-
schen den Großkoalitionären auf die Zeit nach den regionalen Frühjahrswahlen
verschoben worden zu sein.
Vor diesem Hintergrund beabsichtigt der vorliegende Sammelband, die politi-
sche Umbruchphase seit dem Ende des rot-grünen Projekts und insbesondere die
Phase des Amtsantritts der Regierung der Großen Koalition von CDU/CSU und
SPD zu beleuchten. Dazu werden Perspektiven der Regierungs-, Parlamentaris-
mus-, Parteien-, Medien-, Wahl(kampf)- und Policy-Forschung sowie bundes- und
landespolitische Sichtweisen zusammengeführt. Mit dem Blick auf die Phase des
Regierungsstarts einerseits und die Wechselwirkungen von bundespolitischer Re-
gierungsbildung und Landtagswahlen im Schatten einer Großen Koalition anderer-
seits wird an dieser Stelle ein neuer Akzent gesetzt. Im Vergleich zu abschließen-
den Bewertungen bundespolitischer Regierungstätigkeit (vgl. u.a. C. Egle/R.
Zohlnhöfer 2007) begeben sich die vorliegenden Diagnosen zur Zeit des „Atemho-
lens“ nach dem Wahlkampf 2005 (vgl. u.a. die Beiträge in E. Jesse/R. Sturm 2006;
F. Brettschneider et al. 2007) und die daraus abgeleiteten Prognosen für den politi-
schen Wettbewerb in Bund und Ländern also in besonderer Weise auf den Prüf-
stand. Zugleich verdeutlichen sie die für den föderalen Bundesstaat charakteristi-
schen, vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Bundes- und Landespolitik, die
nicht nur das Wahlverhalten, sondern eben auch den regionalen Wahlkampf, die
Regierungsbildung bzw. -findung, die Parteienkonstellationen, das öffentliche
„Stimmungsklima“ und – nicht zuletzt – das politische Handeln in Bund und Län-
dern nachhaltig tangieren (vgl. u.a. G. Lehmbruch 2000; D. Hough/C. Jeffrey
2003; S. Mielke/W. Reutter 2004).
100 Tage Schonfrist nach der Bundestagswahl 2005? 9
2 100 Tage Schonfrist – nichts als ein Mythos?
Markante Zeitpunkte fordern die Beobachter aus Wissenschaft und Medien in
besonderem Maße heraus, das Handeln politischer Akteure zu analysieren. Sie
liefern den Anlass, die Arbeit und die Tätigkeit von Regierungschefs, Regierungen,
Parlamenten und Parteien zu bilanzieren. Dabei interessiert, wie diese Akteure bei
der Bewältigung der anstehenden Probleme eines Landes, bei der Erfüllung eines
Regierungsprogramms oder eines Koalitionsvertrages und anderer, von außen an
die Akteure herangetragenen Anforderungen abschneiden. Ganz besondere Bedeu-
tung kommt in diesem Zusammenhang der Zeitspanne der ersten 100 Tage einer
neuen Regierung zu.
Es mag willkürlich erscheinen, gerade 100 Tage als Markstein für eine erste
Beurteilung einer neuen Regierung heranzuziehen. Mit großer Sicherheit kann
nach zwei Jahren oder – wie in Demokratien üblich – zum Ende einer Legislatur-
periode mehr darüber gesagt werden, ob neue Führungskräfte in politischen Herr-
schaftsfunktionen ihre Aufgaben erfolgreich erfüllt haben. Dass schon nach 100
Tagen eine erste Zwischenbilanz gezogen wird, lässt sich historisch erklären.2 Der
erste, dem eine entsprechende 100tägige Schonfrist zugebilligt wurde, war der US-
amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt, der diese Zeit nach seinen Wahler-
folgen in den 1930er Jahren als notwendig erachtete, bis der Erfolg der radikalen
Wirtschaftsreformen des von ihm initiierten „New Deals“ die damit verbundenen
Belastungen und Zumutungen übersteigen würde. In diesen ersten knapp drei Mo-
naten seinen Amtszeit, die in die Geschichte als „The Hundred Days“ (J. Alter
2006) eingegangen sind, setzte Roosevelt zusammen mit dem Kongress mehr Ge-
setze in Kraft, um die amerikanische Wirtschaftskrise zu bekämpfen, als viele
andere US-Präsidenten in ihrer gesamten Präsidentschaft. Ihm nachfolgende US-
Präsidenten, insbesondere John F. Kennedy, knüpften konsequenterweise an den
Mythos der ersten 100 Tage an, der sich auch im Nachkriegsdeutschland zu einer
politischen Gepflogenheit entwickelte.
So stellen die ersten 100 Tage mittlerweile einen Meilenstein in der Amtszeit
der Regierenden dar, eine magische Grenze mit – insbesondere für außen stehende
Beobachter – hoher symbolischer, aber – für die politischen Akteure selbst – eben
auch politikpraktischer Bedeutung (vgl. u.a. G. Pitronaci 2005; I. von Holly 2006:
155). Zum einen gelten die ersten 100 Tage als Anlauf- und Orientierungsphase für
die frisch ins Amt Gewählten. Sie sind eine Schonzeit und eine Periode des „Waf-
fenstillstands“, in der sich die politische Konkurrenten ebenso wie die journalis-
tisch Beobachtenden vergleichsweise „milde“ und zurückhaltend zeigen, in deren
Verlauf eine neue Regierung sich in ihre Arbeit einfinden, sich einarbeiten, Routi-
nen entwickeln, den Faden der Regierungstätigkeit aufnehmen, die politische A-
genda aufstellen, Personalentscheidungen treffen und erste Entscheidungen auf den
2 Historisch geht der Begriff auf die 100 Tage zwischen dem 1. März 1815 und dem 18. Juni 1815
zurück. Dies war die Zeit zwischen Napoleons Rückkehr aus dem Exil und seiner endgültigen
Niederlage bei Waterloo (vgl. St. Coote 2005).
10 Helge Batt & Jens Tenscher
Weg bringen kann. Regierungshandeln ist ein komplexer Prozess und Entschei-
dungen benötigen in aller Regel eine gewisse Vorlaufzeit, um hinsichtlich ihrer
Qualität und ihres Erfolgs beurteilt werden zu können. Die ersten 100 Tage sollen
diesbezüglich zur weithin „unbedrängten“ personellen wie inhaltlichen Findung
und Vorbereitung politischer Vorhaben dienen. So zumindest sieht es das still-
schweigende Abkommen zwischen Regierenden, politischen Gegnern, Massenme-
dien und Wählern vor; wenngleich sich nicht alle und nicht zu jeder Zeit daran zu
halten scheinen.
Neben dieser politikpraktischen Bedeutung stehen die ersten 100 Tage zum
anderen auch für einen symbolischen Zeitraum, mit dessen Ablauf eine erste Bi-
lanz der Tätigkeit einer neuen Regierung durch Medien und Opposition gezogen
wird; wohl wissend, dass diese Zeit eigentlich für eine neue politische Führung zu
kurz ist, um sich einarbeiten und erste Entscheidungen treffen zu können. Und
dennoch muss sich diese nach 100 Tagen, ebenso wie Führungspersönlichkeiten
anderer Gesellschaftsbereiche – ob aus Wirtschaft, Kultur oder Sport –, nach den
ersten 100 Tagen in ihrer Rolle messen lassen; dies gilt für die Bundeskanzlerin
genauso wie für Fußballbundestrainer oder Vorstandsvorsitzende (vgl. M. Trän
2002; T. J. Neff/J. M. Citrin 2005; St. Stern 2007). Nach 100 Tage ist die Fin-
dungs- und Schonungsphase beendet und es werden – gerade im politischen Be-
reich – von Konkurrenten und massenmedialen Beobachtern schwerere „Geschütze
aufgefahren“.
So sind die ersten 100 Tage im Amt für die Regierenden nicht nur eine
Schonzeit, sondern zugleich auch eine für die weitere Legislaturperiode grundle-
gende Phase, in der sich den Handelnden vergleichsweise große (politische) Ges-
taltungsmöglichkeiten bieten, die aber auch sehr risikoreich und für das weitere
Schicksal entscheidend sein kann. Man denke nur daran, dass mit der Invasion in
der kubanischen Schweinebucht am 17. April 1961 ein militärisches und politi-
sches Debakel für die USA just in den ersten 100 Tagen der Regierungsübernahme
John F. Kennedys begann. Aber auch jenseits solch dramatischer Ereignisse sind
die ersten 100 Tage einer Regierung nicht nur eine beschauliche Einarbeitungszeit.
Denn von Beginn an werden – gerade nach einem Wechsel der Regierungsgeschäf-
te – formale Entscheidungen, informelles Verhalten, symbolische Akte und Ent-
scheidungsstile von den politischen Konkurrenten, den journalistischen Beobach-
tern und Kommentartoren sowie den Wählern genau beobachtet und im Hinblick
auf spätere Vorhaben und Entscheidungen bewertet. Alle Handlungen senden Bot-
schaften aus, geben den Ton vor, wecken Erwartungen für spätere Zeiten und
kommunizieren Informationen über Entscheidungsstile, Führungsqualitäten und
inhaltliche Präferenzen der neuen Führungskräfte. Aus diesen Gründen können die
ersten 100 Tage im Amt ein wichtiges Fundament für den späteren Erfolg – oder
auch Misserfolg – von Regierungen und Führungspersonen in anderen gesell-
schaftlichen Sphären legen (vgl. T. J. Neff/J. M. Citrin 2004). Insoweit ist die Me-
tapher von der „Schonzeit“ irreführend: Der Druck auf neue Führungspersönlich-
keiten in Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport ist vom ersten Tag an vorhanden,
100 Tage Schonfrist nach der Bundestagswahl 2005? 11
wenngleich er sich öffentlich nach Überwindung der 100-Tage-Frist in stärkerem
Maße manifestiert.
In der 100-Tage-Phase des Einarbeitens und des Beobachtetwerdens ist die
richtige Balance zwischen Analyse und Handeln entscheidend (vgl. A. Maitland
2005). Richtige Entscheidungen können nach innen integrativ auf die Regierung
wirken und nach außen hin Signale der Handlungsfähigkeit und Dynamik setzen.
Rasche und tief greifende Entscheidungen bereits in den ersten 100 Tagen können
durch krisenhafte Zustände auch erzwungen werden oder sie können deswegen
sinnvoll sein, weil zu einem frühen Zeitpunkt „schmerzhafte“ politische Entschei-
dungen von Bürgern und Wählern leichter toleriert werden als zu späteren Zeiten.
Solche Entscheidungen können aber auch die genau entgegengesetzte Wirkung
entfalten, wenn sie nicht in die komplexen politisch-institutionellen und politisch-
prozessualen Rahmenbedingen einer neuen Regierung eingebunden sind. In einem
solchen Fall kann es durch nicht angemessene Entscheidungen einer neuen Regie-
rung bereits in den ersten 100 Tagen zu Entfremdungsprozessen innerhalb der
Regierung und zu erheblichem Vertrauensverlust seitens der Medien und der Wäh-
ler kommen.
3 Zum Inhalt des Bandes
Ziel des vorliegenden Bandes ist es, die ersten 100 Tage der zweiten Großen Koali-
tion der Bundesrepublik Deutschland zu analysieren und dabei herauszufinden, in
welchem Maße die Chancen einer „Schonfrist“, so diese denn überhaupt einge-
räumt wurde, genutzt wurde. Dabei geht der Blick nicht nur auf die Regierenden
selbst, sondern auch auf politische Konkurrenten, die Parteien, die Massenmedien
sowie die Wählerinnen und Wähler. Die in doppelter Hinsicht besondere Konstel-
lation – die Bildung einer Großen Koalition im Bund sowie die zeitliche Koinzi-
denz mit den Landtagswahlen im März 2006 – verlangt nach einer umfassenden
Betrachtungsweise, die auch mit dem Ablauf der 100-Tage-Schonfrist nicht abbre-
chen kann. So nehmen die Beiträge dieses Sammelbandes den Regierungsstart und
die Politik der Großen Koalition, deren massenmediale Resonanz und öffentliche
Wahrnehmung erstens unter der beschriebenen Perspektive der ersten 100 Tage bis
hin zum Zeitpunkt der Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg
und Sachsen-Anhalt in den Blick. Zweitens wird ein Blick auf die Wahlkämpfe
und die Wahlen in diesen drei Bundesländern geworfen, der Blick mithin weg von
der Bundes- und hin auf die Landesebene gerichtet, nicht zuletzt, um die wechsel-
seitige Durchdringung politischen Handelns und Kommunizierens im föderalen
System zu verdeutlichen. Drittens werden, aus der Perspektive des Herbsts 2007,
das Zustandekommen der Großen Koalition, deren Findungsphase in den ersten
100 Tagen sowie der weitere Verlauf der Arbeit der Bundesregierung bis zum
Ende der ersten Hälfte der Legislaturperiode untersucht.