Table Of ContentVulnerabiliUit fiir affektive und
schizophrene Erkrankungen
H.-J. Moller und
A. Deister (Hrsg.)
SpringerWienN ewYork
Prof. Dr. H.·:J. Moller
Psychiatrische Klinik und Poliklinik, Universitiit Miinchen, NuBbaumstraBe 7,
D-80336 Miinchen
Priv.-Doz. Dr. A. Deister
Psychiatrische Klinik und Poliklinik, Universitiit Bonn, Sigmund-Freud-StraBe 25,
D-53105 Bonn
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Satz: H. Meszarics· Satz & Layout· A-1200 Wien
Grafisches Konzept: Ecke Bonk
Gedruckt auf siiurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier - TCF
Mit 31 Abbi1dungen
ISBN-13: 978-3-211-82703-1 e-ISBN-13: 978-3-7091-9414-0
DOl: 10.lO07/978-3-7091-9414-0
Vorwort
Als Vulnerabilitat wird ganz allgemein die individuell unterschiedliche
Empfindlichkeit bzw. Bereitschaft zur Entwicklung einer psychischen
Erkrankung verstanden. Das Konzept der Vulnerabilitat fiir psychische
Erkrankungen hat in den letzten ]ahren die Psychosen-Forschung ganz
maBgeblich gepragt. Dabei hat sich gezeigt, daB psychotische Erkrankungen
nicht auf einen isolierten Faktor zuriickzufiihren sind, sondern daB bei
ihrer Entstehung ein Wechselspiel zwischen genetischen, biochemischen,
psychologischen und sozialen Faktoren besteht. Die Kenntnis unterschied
licher Marker fUr Vulnerabilitatsfaktoren kann die Identifizierung von
Risiko-Populationen ermoglichen und damit zur Entwicklung gezielterer
prophylaktischer und therapeutischer Strategien beitragen.
1m Dezember 1993 fand in der Psychiatrischen Klinik und Poliklinik
der Universitat Bonn das Hans ]org Weitbrecht-Symposion mit dem
Leitthema "Vulnerabilitat fiir affektive und schizophrene Erkrankungen"
statt. Professor Dr. Hans]org Weitbrecht (1909-1975) war von 1956 bis zu
seinem Tode Direktor der Universitats-Nervenklinik Bonn. Weitbrecht hat
sein wissenschaftliches Werk insbesondere den endogenen Psychosen
gewidmet und maBgebliche Erkenntnisse zur Entstehung und Auslosung
dieser Erkrankungen beigetragen. 1m vorliegenden Band werden die
Vortrage dieses Symposions in iiberarbeiteter Form zusammengefaBt. 1m
ersten Teil werden verschiedene Ansatze zu Vulnerabilitatskonzepten bei
affektiven und schizophrenen Erkrankungen zusammengefaBt. 1m zweiten
Teil werden neue empirische Ergebnisse aus den Bereichen Psychopatho
logie, Epidemiologie, Genetik, Neurophysiologie und Biochemie dargestellt
und in ihrer Bedeutung fiir ein umfassendes Vulnerabilitatskonzept dis
kutiert.
1m Rahmen des Symposions wurde auch der Hans]org Weitbrecht-Preis
an eine Bonner Arbeitsgruppe unter Leitung von P. Propping sowie an K.-P.
Lesch (Wiirzburg) verliehen. Die von G. Huber gehaltene Laudatio auf die
Preistrager ist in diesem Band ebenfalls publiziert.
Das Symposion konnte nur dank des engagierten Einsatzes zahlreicher
Mitarbeiter der Psychiatrischen Universitatsklinik Bonn und der groBzii
gigen finanziellen Unterstiitzung durch die Firma Tropon (Koln) ermog
licht werden. Die vorliegende Publikation wurde durch die Firma Bayer
(Leverkusen) maBgeblich gefordert.
VI Vorwort
An der Durchfiihrung des Symposions waren in besonderer Weise
M. Linz, G. Goedhart und E. Pfeiler beteiligt.
Allen weiteren beteiligten Personen und Firmen sei an dieser Stelle
herzlich gedankt.
Miinchen und Bonn, Oktober 1995 H.:J. Moller
A. Deister
Inhaltsverzeichnis
Mundt, Ch., Fiedler, P.: Konzepte psychosozialer VulnerabiIitat fiir
affektive Erkrankungen........................................................................ 1
Klosterkotter, 1.: Das Vulnerabilitatskonzept bei schizophrenen Er-
krankungen ........... ................. ................................. ... ......... .......... ....... 11
Deister, A.: Methodische Aspekte der Erfassung und Evaluation von
Vulnerabilitat ....................................................................................... 23
Meller, I., Fichter, M., Rehm, 1.: Biographische Aspekte der Vulnera
bilitat fiir affektive Erkrankungen: Ergebnisse einer epidemiolo-
gischen Feldstudie ............................................................................... 33
C. 1., 1.-C.:
Schreiber, W., Lauer, Holsboer, F., Krieg, Neurobiolo-
gische VulnerabiIitatsmarker fiir psychiatrische Erkrankungen ...... 43
Held, T.: Psychosoziale Faktoren der Athiopathogenese schizophrener
Erkrankungen ......... ................. .................................... ........ ................ 51
Gross, G.: Die prognostische Bedeutung von Basissymptomen fiir
das Risiko, an einer Schizophrenie zu erkranken ............................. 59
Korner, j., Nothen, M., Rietschel, M., Moller, H.:J., Propping, P.:
Neuere Ergebnisse molekulargenetischer Untersuchungen bei psy-
chotischen Erkrankungen ................................................................... 67
Maier, W., Franke, P., Minges, 1., Lichtermann, D., Heun, R.: Vulnera
bilitat fiir Schizophrenie: Entwicklung einer Modellvorstellung
anhand von Familienstudien .............................................................. 77
Zerssen, D. v.: Neuere Untersuchungen zur pramorbiden Personlich-
keit bei Patienten mit affektiven Erkrankungen ............................... 89
Olbrich, R.: Psychophysiologische Vulnerabilitatsmechanismen bei
schizophrenen Psychosen: Stand der Forschung und eigene Unter-
suchungen . ........... ........ ............ ....... ... ... ....... ....... ......... ... ..... ..... ... ........ 103
Emrich, H. M.: Die Bedeutung der Kognitions-Emotions-Kopplung fUr
schizophrene und affektive Psychosen ............................................... 113
VIII Inhaltsverzeichnis
Eichert, V.: Quantitative Analyse von Storungen der zentralen Infor-
mationsverarbeitung bei postakut Schizophrenen ............................ 121
Bondy, B., Ackenheil, M., Thoma, V.: ZelluHire Marker der Schizo-
phrenie ................................................................................................. 135
Huber, G.: Laudatio ................................................................................... 143
Sachverzeichnis .. .......... ..... ............. ... ........... .......... .............. ..... ...... ........... 149
Konzepte psychosozialer VuInerabilitiit fiir
affektive Erkrankungen
Ch. Mundtl und P. Fiedler2
I Psychiatrische Universititsklinik und
2 Psychologisches Institut, Universitit Heidelberg, Bundesrepublik Deutschland
Vorbemerkung
Vulnerabilitat sei im folgenden definiert als eine Gruppierung von empi
risch belegbaren Risikofaktoren fur depressive Erst- und Mehrfacherkran
kungen. Die Risikofaktoren sollen untereinander in einen iitiopathogeneti
schen Zusammenhang gebracht werden konnen, so daB sich daraus ein
theoretisches Modell formulieren liiBt, gegebenenfalls unter besonderer
Beachtung eines spezifischen oder unspezifischen Stressors und seiner
Interaktion mit der Vulnerabilitat. Dabei sollten neben Vulnerabilitatsfak
toren auch Belastungsfaktoren beschreibbar sein, die auf Vulnerabilitat
treffen und zur Manifestierung von Pathologie fuhren. Das in der Psychia
trie vor allem in der Schizophrenielehre erfolgreich gewordene Vulnerabi
litiits- oder auch Diathese-StreB-Modell hatte als mogliche Stressoren dort
relativ unspezifische emotionale Spannungen beschrieben, etwa in der
Expressed-Emotion-Forschung (Mundt 1995). Bei der Ubertragung des
Modells auf affektive Erkrankungen ist zu fragen, ob hier sowohl Vulnera
bilitat wie Stressoren anders und spezifischer aussehen.
Folgende Forschungsfelder fur das Studium von Risikofaktoren lassen
sich in der gegenwiirtigen Forschung fur affektive Erkrankungen unter
scheiden:
- Die priimorbide Personlichkeit als Integrationsort fur die folgenden
Detailaspekte von Vulnerabilitat,
- Kognitive Schemata, zu denen die Neigung zu depressiven Kausalattri
butionen gehort. Sie stellen zum Teil einen Personlichkeitsaspekt, zum
Teil einen Aspekt der bereits manifesten Erkrankung dar.
- Interpersonelle Vorgiinge, erforscht sind vor allem solche zwischen
Patienten und Ehepartnern und zwischen Patienten und deren Kindern.
2 Ch. Mundt und P. Fiedler
Dieses Forschungsfeld beschaftigt sich mit dem Ineinandergreifen von
Vulnerabilitat und Stressoren, die, etwa bei den Partner-Interaktionen
Depressiver, in einer schwer entwirrbaren Form einander bedingen. Die
Interaktionsanalysen von Eltern und Kindern konnen schlieBlich das Ent
stehen von Vulnerabilitat erhellen. Die Hypothesen zur pramorbiden Per
sonlichkeit Depressiver geben auch fUr dieses Forschungsfeld den inte
grativen Interpretationsrahmen abo
- Die biologischen Faktoren, ein Forschungsfeld mit interessanten, aber
disparaten Ergebnissen, die noch kaum mit der Personlichkeitsforschung
in Beriihrung gebracht wurden.
- Kritische Lebensereignisse, vor allem Verlusterlebnisse, als Stressoren.
Schon aus dieser Reihung ist zu ersehen, daB die einzelnen Forschungsebe
nen vielf<iltig mit einander verzahnt sind, beispielsweise Personlichkeit,
kognitive Schemata und interpersonelle Faktoren. Wenig integriert erschei
nen dagegen bislang biologische Vulnerabilitats-Ansatze.
Die pramorbide Personlichkeit
Die Forschung an pramorbiden Personlichkeitsstrukturen als Vulnera
bilitatsmodell fUr affektive Erkrankungen gliedert sich wiederum in drei
Teilbereiche, namlich 1. die phanomenologische Beschreibung eines Typus
im Sinne von Karl Jaspers; 2. die empirische Personlichkeitsforschung mit
objektivierenden Personlichkeitsinventaren; und 3. die Komorbiditatsfor
schung, die Haufigkeit und Art des gemeinsamen Auftretens von Depres
sion undPersonlichkeitsstorungen untersucht. Die ersteren beiden Ansatze
bediirfen nicht notwendigerweise eines Konzepts der Personlichkeits
storung, sondern nur des Personlichkeitstypus.
Die phanomenologische Forschung ist im deutschsprachigen Schrifttum
wesentlich mit den Namen Tellenbach (1984) und Kraus (1977) verbunden.
Die typologischen Beschreibungen zielen auf die Ordnungs- und Harmo
niebediirftigkeit Pramelancholischer und auf die Charakteristika von Auslo
sesituationen, fiir die Menschen mit dieser Struktur vulnerabel sind. Fiir
diese Auslosesituationen wurde von Tellenbach das Kriterium der Rema
nenz und der Inkludenz als subjektives Erlebnistnoment der Betroffenen
beschrieben, also ein Sollensriickstand und ein Eingesperrtsein in der Sol
lenssituation, was gleichzeitig die Unaufholbarkeit des entstandenen debet
bedeutet. Kraus hat die Typologie in ein soziologisches Rollenschema iiber
tragen, das Heteronomie und Hypernomie, also Abhangigkeit von Normset
zungen anderer hervorhebt, Streben nach NormerfUllung und entspre
chend hohe Vulnerabilitat gegeniiber konfligierenden Rollenerwartungen.
Wie sieht es mit der empirischen Uberpriifung dieser Typologie aus?
Zunachst spricht fUr die Validitat des Konzeptes, daB verschiedene Autoren
in verschiedenen Zeitepochen und Kulturkreisen ohne Kenntnis von einan
der denselben Typus beschrieben haben (Ubersicht s. Kraus 1991). Empiri
sche Untersuchungen beschranken sich weitgehend auf den deutschspra-
Vulnerabilitat und affektive Erkrankungen 3
chigen Raum, da das Konzept im anglo-amerikanischen Raum mit seiner
Vorliebe fur objektivierende Untersuchungen kaum beniitzt wird.
Possl und von Zerssen (1990), Sauer et al. (1989) und unsere Gruppe
(Mundt et al. 1993) fanden diese Personlichkeitskonfiguration in etwa 50 %
konsekutiv aufgenommener hospitalisierter endogen Depressiver, Tolle
(1988, Tolle et al. 1987) nur in 36%. Aile 3 Gruppen kommen auf eine
Pdivalenz von 75%, wenn RandIalle mit einbezogen werden. Sato (1995)
konnte die Spezifitat des Typus mit einer von Kasahara entwickelten Skala in
Abgrenzung gegen OeD erhiirten, und Heerlein und Richter (1991) konn
ten mit der Ambiguitiitsintoleranzskala von Kischkel die Spezifitiit von Ambi
guitatsintoleranz, einem wichtigen Postulat der Krausschen Rollentheorie,
fiir endogen Depressive nachweisen. Ferner konnte in einer groBen trans
kulturellen Studie an 9 Zentren von Kraus (1994, 1995) gezeigt werden, daB
seine Priidiktion weniger verantwortungsvoller Berufe bei unipolar Depres
siven im Vergleich mit bipolar Mfektkranken transkulturell hohe Bestati
gung fand. Die Befunde fanden sich nicht nur bei Patienten pramorbid,
sondern auch bei deren nicht erkrankten Vatern und Briidern, so daB die
Befunde offenbar auf die Personlichkeit, nicht auf die Erkrankung zu bezie
hen sind.
Als weiteren Validierungsbeitrag lassen sich einige Ergebnisse der Inter
aktionsanalysen unserer Gruppe (Mundt et al. a. a. 0.) zwischen Depressiven
und ihren Ehepartnern beiziehen. Sie bestiitigten die Erwartung von
Heteronomie, Harmoniestreben und mangelnder Empathie, einem weite
ren Postulat der Rollentheorie.
Was gibt es fiir kritische Einwande gegen die phanomenologischen und
objektivierenden Typus-melancholicus-Befunde? - Verkiirzt: Es fehlen pro
spektive Studien. Alle aufgefiihrten Studien bestimmen den Typus retro
spektiv. Die Untersuchungen stiitzen sich auBerdem ausschlieBlich auf
behandelte, zumeist hospitalisierte Patienten, nicht auf unbehandelte Kol
lektive in der Aligemeinbevolkerung. Wir wissen deshalb nicht, wie oft
Typus melancholicus in der Normalbevolkerung vorkommt, ohne daB
Erkrankungen auftreten, so daB wir keine Angaben iiber die Varianzauf
klarung machen konnen, die der Typus fiir die Melancholieinzidenz macht.
Was bringen die objektivierenden Studien mit Personlichkeitsinven
taren?
Die Konvergenz mit den Typus-melancholicus-Befunden ist erheblich.
Nietzel und Harris (1990) haben eine Metaanalyse von 21 methodisch hoch
rangigen Studien durchgefuhrt, die hinsichtlich der verwendeten Inventare
vergleichbar waren. Damit war eine Aussage zu den zur Zeit vorherrschen
den Thesen moglich. Ergebnis: Als latent trait der 21 analysierten Studien
konnten gefunden werden 1. die Suche nach emotionaler Abhangigkeit von
anderen, urn damit geringes Selbstwertgefiihl durch Gewinn an Zuneigung
zu stabilisieren, und 2. hohe Leistungsstandards an sich selbst, urn iiber An
erkennung Selbstsicherheit zu gewinnen. 1m Sinne des Vulnerabilitiits
modells wurden dazu auch traumatisierende Ereignisse analysiert und
Hinweise dafiir gefunden, daB der Beziehungsverlust bei Abhangigkeit
"toxischer" ist als der Kompetenzverlust bei Ehrgeizstreben; ein Hinweis