Table Of ContentRaumbildung - Bildungsräume
Gedruckt auf säurefreiem und altersbeständigem Papier.
ISBN 978-3-8100-1711-6 ISBN 978-3-663-11236-5 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-663-11236-5
© 1997 Springer Fachmedien Wiesbaden
Ursprünglich erschienen bei Leske + Budrich, Opladen 1997
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Jutta Ecarius
Martina Löw (Hrsg.)
Raumbildung
Bildungsräume
Über die V erräumlichung
sozialer Prozesse
Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 1997
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Jutta Ecarius/Martina Löw
Raum -eine vernachlässigte Dimension erziehungswissenschaftlicher
und sozialwissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung ......................... 7
Raum-Bildung als interdisziplinäre Theorie und Praxis
Martina Löw
Widersprüche der Modeme. Die Aneignung von Raumvorstellungen
als Bildungsprozeß ........................................................................................ 15
Jutta Ecarius
Lebenslanges Lernen und Disparitäten in sozialen Räumen ......................... 33
Gabriefe Geiger
Postmodeme Raumorganisation. Bildungsästhetische Herausforderung
der Dritten Art ............................................................................................... 63
Reinhard Hörster
Bildungsplazierungen. Räume, Möglichkeiten und Grenzen
der Heterotopologien .................................................................................... 93
Christina Schües
Hannah Arendt: Die Bewahrung des Neuen ............................................... 123
Mediale Räume, Stadt und Land als Bildungs-Räume
Birgit Richard!Heinz-Hermann Krüger
Welcome to the Warehouse. Zur Ästhetik realer und medialer Räume
der Repräsentation vonjugendkulturellen Stilen der Gegenwart ................ 147
Burkhard Fuhs
Von der pädagogischen Provinz zur erziehungswissenschaftliehen
Peripherie. Zum Wandelländlicher Bildungs-Räume ................................ 167
Christine Ahrend
Lehren der Straße. Über Kinderöffent1ichkeiten und Zwischenräume ....... 197
Ingrid Breckner/Gabriele Sturm
Raum-Bildung: Übungen zu einem gesellschaftlich begründeten
Raum-Verstehen .......................................................................................... 213
Anmerkungen zu den Autorinnen und Autoren .......................................... 237
Jutta Ecarius, Martina Löw
Raum - eine vernachlässigte Dimension
erziehungswissenschaftlicher und
sozialwissenschaftlicher Forschung
und Theoriebildung
In sozialwissenschaftliehen Forschungen wird in den letzten Jahren viel über
"Verzeitlichung" (Berg er 1996) sozialer Prozesse diskutiert. Dahinter ver
birgt sich häufig die Annahme, Raum werde abstrakt, verliere seine Bedeu
tung und löse sich auf. Wir nehmen diese Diagnosen und Analysen zum
Ausgangspunkt, um Veränderungen in den Raumbezügen aufzuspüren.
Wenn Raum wie Zeit ein "Konstruktionsmittel filr gesellschaftliche Wirk
lichkeit" (Mollenhauer 1981, 68) darstellt, dann ist wenig plausibel, daß
dieses einfach obsolet wird. Vielmehr scheinen sich dahinter Umdenkpro
zesse und veränderte Handlungsweisen zu verbergen, deren Rekonstruktion
Rückschlüsse auf gesellschaftliche Veränderungen zuläßt. Wir gehen also
von der Grundannahme aus, daß soziale Prozesse nach wie vor nicht nur
verzeitlicht sondern auch verräumlicht sind und fragten nach dem "wie" der
Ausgestaltung und nach dem Wandel dieser Prozesse.
Mehrere Motive leiten die Entscheidung, dies am Beispiel von Bildungs
prozessen zu untersuchen. In Bildungsprozessen werden Raumbilder vermit
telt, soziales Handeln in Räumen eingeübt und räumliche Konstruktionen des
Sozialen verfestigt, manchmal auch verändert. Sie sind daher prädestiniert,
um der Bedeutung von Raum in der modernen (westlichen) Gesellschaft auf
die Spur zu kommen. Da Bildung am besten im Bezug zur "geistigen Situa
tion der Zeit" (Marotzki 1991) und in Abhängigkeit vom gesellschaftlichen
Wandel betrachtet werden kann, werden über die Analyse von Bildungspro
zessen auch Bedeutungsveränderungen von Raum und Räumen sichtbar.
Indem wir die Autorinnen auffordern, den Bezug zwischen Bildung und
Raum herzustellen, erreichen wir eine dynamische Sicht auf den Raumbe
griff. Da Bildung ein Prozeß ist, und das Ergebnis von Bildung immer nur
vorläufig sein kann, wählen wir eine Perspektive auf den Raum, die ihn aus
seiner scheinbaren Starrheit befreien kann.
8 Jutta Ecarius, Martina Löw
Während über Bildung und Bildungsprozesse eine Vielzahl von For
schungsergebnissen sowie Theorieansätzen vorliegen, wird der Raumbegriff
in erziehungs- und sozialwissenschaftliehen Diskussionen gerne vernachläs
sigt. Die Erziehungswissenschaft vergißt oft, daß Erziehung und Bildung
immer einen räumlichen Bezug haben; die Sozialwissenschaften grenzen
Raum als "Umweltfaktoren" aus ihren Untersuchungen aus. Nur hier und da
finden in der Stadt- und Regionalsoziologie theoretische Debatten über den
Raumbegriff statt (z.B. Pieper 1989; Läpple 1991; Dangschat 1995). Auch in
Diskussionen über eine zunehmende Globalisierung (z.B. Fuchs u.a. 1995)
gewinnt die Kategorie Raum enorm an Bedeutung. In der Erziehungswissen
schaft wird Raum eher implizit im Kontext professioneller Betreuungsfelder
thematisiert. Der Raumbezug verdeutlicht sich über seinen Gegenstand: der
Arbeit mit Kindem und Jugendlichen, der Erwachsenenbildung und Alten
hilfe. Pädagogische Praxis ist durch ihren Handlungsbezug und ihre lnstitu
tionalisierung verräumlicht
Bereits in den 70er Jahren kritisiert Michel Foucault die Geistes- und So
zialwissenschaften, daß sie im Raum nur das Tote und Unbewegliche sehen
und daher diese Kategorie meistens vernachlässigen.
"Space was treated as the dead, the fixed, the undialectical, the immobile. Time, on the
contrary, was richness, fecundity, life, dialectic" (Foucault 1980, 70).
In den letzten Jahren bemühen sich nun verschiedene Autorlnnen, auf
Foucault, aber auch auf Pierre Bourdieu, Systemtheorie oder Hannah Arendt
gestützt, den Raum als soziale Kategorie neu zu definieren. Sie entdecken die
Prozeßhaftigkeit und Relationalität des Raumes und finden darüber einen
neuen Zugang zur Vielschichtigkeil von Raum. Zentrales Anliegen des Bu
ches ist es, diese vorliegenden raumtheoretischen Ansätze zu diskutieren und
sie in einen Kontext mit Bildungsprozessen zu stellen. In einem solchen
Anliegen ist die Soziologie auf die Erziehungswissenschaft angewiesen und -
vice versa -die Erziehungswissenschaft auf die Soziologie.
Das Buch gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil beschäftigen sich die
Autorinnen mit den bereits existierenden theoretischen Überlegungen zu
Raum. Da gegenwärtige sozialwissenschaftliche Theorien mehrheitlich die
Zeit als entscheidende Kategorie der Ideenbildung favorisieren, fällt die
Auswahl nicht schwer: Jean Piaget und Bärbel Inhelder, Pierre Bourdieu,
Systemtheorie in der Tradition von Walter L. Bühl und postmoderne Kon
zepte, Michel Foucault und Hannah Arendt. Die Aufsätze sind jedoch nicht
als Werkschau konzipiert, sondern die Autorinnen testen die Reichweite der
Aussagen, erweitern sie durch eigene Überlegungen und andere Theorien
oder prüfen die Praxisrelevanz der Aussagen. Hierbei verdeutlicht sich, daß
Einleitung 9
Räume eine materielle und eine symbolische Komponente haben. Die Autor
Innen akzentuieren unterschiedlich den einen oder anderen Aspekt. In diesem
ersten Teil betont Martina Löw die Unterscheidung verschiedener Raumvor
stellungen. Jutta Ecarius untersucht altersspezifische Sozialräume. Christina
Schües analysiert die Grenzziehung zwischen öffentlichen und privaten
Räumen im Kontext von Erziehung. Gabriele Geiger nimmt Materialisierun
gen von Raum, Reinhard Hörster Heterotopien zum Ausgangspunkt ihrer/
seiner Überlegungen.
Der zweite Teil ist stärker empirisch aufgebaut und bezieht sich daher
auf unterschiedliche Raum-"Ausschnitte": Mediale Räume im Vergleich zu
realen Räumen, Stadt und Land. Während sich Birgit Richard/Heinz-Her
mann Krüger jugendspezifischen Räumen zuwenden, richtet Christine Ah
rend ihr Augenmerk auf kindliche Räume. Ingrid Breckner/Gabriele Sturm
diskutieren die Bedeutung und Möglichkeiten räumlichen Verstehens fur
Lernprozesse. Burkhard Fuhs stellt sich die Frage, wie die erziehungswissen
schaftliche Kindheitsforschung mit den Begriffen Stadt/Land arbeitet und
inwieweit diese in die pädagogische Theoriebildung einfließen.
Dieses Buch kann nur ein Anfang sein. Immer wieder stoßen die Autor
Innen auf das Problem, daß die theoretischen Überlegungen zu Raum unge
nügend sind, insbesondere dann, wenn Veränderungen erfaßt werden sollen.
Aber auch die Notwendigkeit empirischer Forschung wird deutiich. Wenn es
mit diesem Buch gelingt, den Eindruck zu verunsichern, daß die Zeit fort
schreitet, "während Raum nur herumlungert" (Massey 1993, 118) und damit
Neugierde auf Raum als Prozeß zu wecken, dann sind wir zufrieden.
Unser Dank geht an Jutta Güldenpfennig, die einen Teil der Texte Kor
rektur gelesen hat, und an Sergej Stoetzer flir die Formatierung.
Zu den Texten im einzelnen:
Martina Löw analysiert die Aneignung von Raumvorstellungen in Kindheit
und Jugend. Sie zeigt auf, daß Piaget und Inhelder in ihrer Untersuchung zur
Entwicklung des räumlichen Denkens nur absolutistische Raumvorstellungen
bei Kindem erwarten und demzufolge finden. In Auseinandersetzung mit
Sozialisationsbedingungen von Kindem in modernen Gesellschaften ent
wickelt sie ihre Annahme, daß Kinder heute mit sich widersprechenden
Raumvorstellungen aufwachsen.
Jutta Ecarius entwickelt einen Erklärungsansatz, um den Prozeßcharak
ter des Lebens, die Bewegungen im Leben, und die damit verbundenen per
manenten Lern- und Aneignungsprozesse in sozialen Räumen aus der Sicht
10 Jutta Ecarius, Martina Löw
sozialer Ungleichheit zu analysieren. Ansetzend an Bourdieus Gesellschafts
theorie wird dessen Raumkonzept bezogen auf den Lebensverlauf ausdiffe
renziert. Aus dieser Sicht ist Lernen als Aneignung von sozialem, kulturellem
und ökonomischem Kapital sowie als Herausbildung von Denk-, Wahrneh
mungs- und Handlungsmustern zu verstehen.
Gabriefe Geiger nimmt die ganzheitliche, körpergebundene Wahrneh
mung von Raum {"Raum-Bildung") zum Ausgangspunkt und prüft die Mög
lichkeiten, "Raum-Theorie" zu entwickeln. Sie fuhrt die Leser und Leserin
nen durch verschiedene Stadttypen und gewinnt dabei ein Verständnis räum
licher Diskurse, welches sie auf drei Grundvoraussetzungen zurückfuhrt:
Labyrinthe, Simultaneität und neue Rhetoriken. Raum im Sinne eines
schlechtdefinierten Systems, verknüpft mit postmodern-ästhetischen Blicken
macht ihrzufolge die Prozeßhaftigkeit und Hochdimensioniertheit von Räu
men deutlich.
Reinhard Hörster widmet sich Foucaults Überlegungen zu heutigen
Räumen, die als Heterotopologien, als ein Netzwerk relationaler Lagerungen
und Plazierungen, verstanden werden. Ein Vergleich mit den künstlerischen
Diagrammen von Franz Erhard Walther veranschaulicht die Vielschichtigkeit
des Foucaultschen Raumbegriffs. Anhand einer sozialpädagogischen Analyse
über Bauspielplätze fur Kinder, die seit fast 40 Jahren ein Phänomen städti
schen Lebens sind, werden die Möglichkeiten und Grenzen des heterotopen
Forschungsdesigns von Foucault verdeutlicht.
Christina Schües stellt sich die Aufgabe, Hannah Arendts Überlegungen
zum privaten und gesellschaftlichen Raum in Bezug auf Erziehung zu be
trachten. Im Kontext von Hannah Arendts Annahmen zur Krise der Erzie
hung werden die Unterscheidungen in Familienerziehung und allgemeine
Erziehung bezüglich ihrer räumlichen Zuordnung diskutiert. Hier liegt das
Augenmerk vor allem auf dem Ziel von Erziehung, das weder der Politik
unterzuordnen noch auf dem Weg durch das Kinderzimmer in den privaten
Raum hineinzuschmuggeln ist. Diskutiert wird Erziehung als Bewahrung des
Neuen, wobei die Beziehungen von Natalität, Erziehungsraum und öffentli
chen politischen Raum herausgestellt werden.
Birgit Richard und Heinz-Hermann Krüger vergleichen Raumaneignung
und Raumvorstellungen in der HipHop-Kultur mit der Techno-Kultur. Sie
finden die Verknüpfung von klar begrenzten und männlich definierten Räu
men im HipHop und die Zerstörung traditioneller Raumstrukturen bei gleich
zeitigem Verwischen der geschlechtsspezifischen Körperkulturen im Techno.
Der Aufsatz zeigt die Verknüpfung von Sozialem und Räumlichem sowie die
Gleichzeitigkeit des Verschiedenen.