Table Of ContentLEITGEDANKEN ZUR RAUMFORSCHUNG UND RAUMORDNUNG
BAND 9
SCHRIFTENREIHE DER aSTERREICHISCHEN GESELLSCHAFT
FOR RAUMFORSCHUNG UND RAUMPLANUNG
IN KOMMISSION: SPRINGER-VERLAG / WIEN - NEW YORK
LEITGEOANKEN
ZUR
RAUMFORSCHUNG
UNO
RAUMORONUNG
Eine Auswahl aus den Arbeiten
von ERIC H D ITTRIC H
anHiBlich seines 65. Geburtstages
HERAUSGEGEBEN VON DER tlSTERREICHISCHEN GESELLSCHAFT
FOR RAUMFORSCHUNG UND RAUMPLANUNG wrEN 1969
ISBN-13: 978-3-211-80957-0 e-ISBN-13: 978-3-7091-5495-3
DOl: 10.1007/978-3-7091-5495-3
Herausgeber und Verleger: tlsterreidtisdte Gescllsdtaft fUr Raumforschung und Raumplanung,
1040 Wien, Karlsplatz 13
Drucie exakt drucie, 1171 Wien
Zum Geleit
Der Vorstand der "Osterreichischen Gesellschaft flir Raumforschung und Raumplanung"
hat in der Sitzung yom 17. April 1969 einstimmig beschlossen, zum 65. Geburtstag von
Dr. rer. pol. habil. Erich Dittrich, Direktor des Institutes flir Raumforschung (Bad Godes
berg), eine Auswahl seiner wichtigsten wissenschaftlichen Arbeiten zu veroffentlichen
und damit einem groBeren Kreis von Lesern zuganglich zu machen.
Denn Erich Dittrich hat die Entwicklung der Raumforschung seit dem Ende des Zweiten
Weltkrieges in besonderem MaB gepragt und mit seinen grundsatzlichen Ausflihrungen
liber das "Leitbild in der Raumordnung" deren soziookonomische Hintergrlinde aus
geleuchtet. Erich Dittrich hat damit auch den ursachlichen Zusammenhang zwischen Ge
sellschaftspolitik und Raumordnungspolitik erhellt.
Dittrichs Ausflihrungen liber das Leitbild werden allerdings erst dann im vollen Aus
maB verstandlich, wenn man den Werdegang von Personlichkeit und Werk verfoigt.
Am 9. Oktober 1904 in Leipzig geboren, studierte Erich Dittrich an der Universitat
Leipzig, beendete sein Studium als DipIomvolkswirt und Dr. rer. pol., habilitierte mit
der flir Osterreich besonders bedeutsamen Habilitationsschrift "Staatszerfall, Staats
neubildung und Wirtschaft - eine Untersuchung liber die Probleme der Volkswirt
schaftsbildung in Osterreich und der Tschechosiowakei", begann seine Lehrtatigkeit
1938 ais Universitatsdozent und wurde Leiter des Institutes flir Mittel- und Slidost
europaische Wirtschaftsforschung und der Hochschularbeitsgemeinschaft flir Raum
forschung (1941). Hauptthemen der wissenschaftlichen Arbeiten Erich Dittrichs sind
seither Staat, Wirtschaft und Raum in ihrer geschichtlichen Bezogenheit; sie stehen unter
dem EinfluB von Gustav Schmoller, dessen Auffassungen und Werk ihm durch seinen
Lehrer Kurt Wiedenfeld vermittelt wurden. Dabei folgt Erich Dittrich insbesondere den
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Untersuchungen, die Schmoller und dann Wiedenfeld tiber den Staat, seine Beamten
schaft, seine Verwaltung, seine Beziehungen zur Wissensdtaft, seine raumlidten Konzep
tionen sowie tiber die Spannung zwisdten staatlidtem und privatem Bereidt durdtgeftihrt
haben. Diese Auffassungen bestimmten wesentlidt Eridt Dittrichs wissensdtaftliche Ar
beiten und seinen so erfolgreidt zurti<kgelegten Weg zur Raumforsdtung.
Mit den grundlegenden Arbeiten tiber "Die Wiedereingliederung der Fltichtlings
industrien in die Wirtsdtaft der Bundesrepublik" (1951) und tiber die "Probleme der
Umsiedlung in Westdeutschland" (1951) legte Eridt Dittridt 1953 - nun Direktor
des Institutes ftir Raumforschung in Bad Godesberg - den· "Versuch eines Systems
der Raumforschung" vor, dem eine richtungsweisende Untersudtung der "Grundfragen
deutscher Raumordnung" (1955) folgte.
Entscheidend flir die Entwi<klung der Raumordnung war aber dann Eridt Dittridts
Arbeit ftir das Gutachten des Sachverstandigen-Ausschusses flir Raumordnung "Die
Raumordnung in der Bundesrepublik Deutschland" (1961), mit dem die fachlichen
und politischen Voraussetzungen ftir die Erlassung des Bundesraumordnungsgesetzes
gesdtaffen wurden.
In den zwanzig Jahren seiner Tatigkeit im "Institut fur Raumordnung" in Bad Godes
berg und als dessen Leiter gelang es ihm, diese damals einmalige Institution aus klein
sten Anfangen zu ihrer jetzigen internationalen Bedeutung emporzuheben und deren
Ansehen durdt eine umfassende Dokumentation und zahlreidte grundlegende Unter
suchungen und Publikationen zu festigen. Erich Dittrich leistete vor aHem einen beson
deren Beitrag zur Entwi<klung der Raumforschung durch die von ihm seit 1951 heraus
gegebenen "Informationen" des Institutes ftir Raumforschung und die von ihm als Mit
herausgeber gestaltete angesehene Zeitschrift "Raumforschung und Raumplanung" (seit
1950).
Die vorliegende Auswahl einer Reihe seiner Arbeiten steht wohl in einem systematischen
Zusammenhang, der jedoch bei den zeitlich und ortlich weit entfernten Erstveroffent
lichungen nur zum Teil hergestellt werden konnte, in dieser Zusammenstellung aber dodt
erkennbar wird. Sie soH Raumforsdtern und Raumplanern Entwi<klung und grund
legende Probleme der Raumforschung vor Augen flihren.
So sehr audt Raumforschung und Raumordnung zukunftsorientiert sind, so sehr ist es
nun an der Zeit, sidt auf ihre Vergangenheit zu besinnen, die Erfolge, Niederlagen und
Fehleinsdtatzungen zu bewerten und aus allen diesen Fakten die notwendigen Schltisse
ftir die zuktinftige Entwi<klung zu ziehen.
Da Erich Dittrich diese "Vergangenheit" durch seine wegweisenden wissenschaftlichen
Beitrage, aber auch durdt seine - im vollen Sinn des Wortes - durdt eine umfassende
Bildung gepragte Personlidtkeit so entscheidend gestaltet hat, gebtihrt ihm unser aHer
herzlicher Dank.
Wien, im November 1969
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INHALT
Seire
RUDOLF WURZER Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
ERICH DITTRICH Grundlinien der Entwicklung der Raumforschung 9
Ein Versuch zur Systematik der Raumordnung 22
Das Leitbild und seine Problematik . . . . . 37
Zur Begriffsbildung und zum Bedeutungswandel der Begriffe in der Raum-
forschung .................... 46
Leerformeln in Raumfotschung und Raumordnungspolitik 58
Zur Problematik der Landerabgrenzung im Bundesstaat 66
Ballung - Gestaltung oder Zwang 84
Stadt und Umland ..•.... 94
Raumordnungspolitik in einer Epoche der Strukturwandlungen 106
Standorttheorie und Wirklichkeit 119
Unternehmerpersonlichkeit und Standortbestimmung 126
Der Ordnungsgedanke der Landschaft und die Wirklichkeit 136
Veroffentlichungsverzeichnis 155
Anhang 165
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Grundlinien der Entwicklung der Raumforschung
in Deutschland
Wissenschaftliche Untersuchungen, die man im weiten Sinn als raumbezogen bezeichnen
kann, hat es seit alters gegeben. Wenn man flir diese Arbeiten die Bezeichnung "Raum
forschung" verwenden will, so hat man eine alte Disziplin vor sich, die sich von der
Geographie nicht unterscheidet, so dag man sich den neuen Namen, wenn man ihn nicht
als bloge Verdeutschung auffassen will, sparen konnte.
Aber so wenig wissenschaftstheoretische Beweiskraft man dem folgenden Argument auch
zubilligen mag, schon die Tatsache, dag he ute Geographie und Raumforschung als Fach
bezeichnung nebeneinander stehen und von oft fachlich sehr abweichenden Forschern ver
treten werden, sollte Zweifel an einer Identitat beider Disziplinen wecken und zur Prli
fung auffordern, was es mit der Raumforschung eigentlich auf sich habe und ob sie mit
Geographie gleichgesetzt werden konne bzw. wie sich beide voneinander abheben. Eine
solche Prlifung scheint im Interesse beider Disziplinen, insbesondere aber in dem der
Raumforschung, zu liegen. Dabei soll diesen Oberlegungen der deutsche Sprachgebrauch
der Begriffe zugrunde liegen.
Sieht man einmal ab von dem ganz neuen Begriff der Weltraumforschung, der nicht
wenig Begriffsverwirrung bei den Uneingeweihten mit dem alteren wissenschaftlichen Be
griff der Raumforschung hervorgerufen hat und in ganz andere wissenschaftliche Bereiche
gehort, so ist zweierlei bei der Entstehung des als Raumforschung bezeichneten Wissen
schaftsgebietes offensichtlich: einmal der politische Akzent, zum andern, dag nicht nur die
Geographie, sondern anders ausgerichtete Disziplinen wie die Wirtschafts- und Sozial
wissenschaften, die Verwaltungslehre, aber auch technische Disziplinen wie der Stadtebau
und die Wasserwirtschaft, Ferner der aus ganz anderen Bereichen herkommende Natur
schutz und die Landschaftspflege wesentliche Stlicke zu ihrer Konstituierung beigetragen
haben. Der politische Akzent ist von all em Anfang da und bildet die sichtbare Klammer.
Er wird allerdings gleich in den dreimger Jahren durch den Nationalsozialismus liber
betont und pervertiert. Er bringt die damals noch junge moderne Raumforschung in fatale
Nachbarschaft zu einer migverstandenen Geopolitik und be1astet sie durch diese wesens
fremde, aber in einer simplifizierenden Polemik weiter behauptete Verbindung bei ihrem
Wiederaufbau nach 1945 schwer.
Es hat einige Mlihe gekostet, klare Vorstellungen iiber Raumforschung einerseits und
Geopolitik andererseits zu vennitteln. Aber vielleicht waren diese und andere Auseinan
dersetzungen und Klarstellungen liber die Aufgaben der Raumforschung, so lastig sie
oftmals erscheinen mochten, notwendig, urn die Raumforschung beim Finden ihres Weges
zu unterstiitzen, ihr zur Klarheit iiber ihre Aufgaben und damit im Vergleich zu manchen
Versuchen der Anfangszeit zur Abstogung des Fremden und zur Beschrankung auf ihren
besonderen Auf trag zu verhe1fen.
Das Zusammenkommen der verschiedenen Einze1wissenschaften in der Raumforschung
hebt diese aber zugleich von der Geographie ab, denn diese ist in diesem Aufbau auch
nicht mehr als eine Komponente der Raumforschung. Dieser Gedanke trat, wenn auch
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noch nicht in aller Prazision herausgearbeitet, bereits auf dem Deutschen Geographentag
1936 in Jena hervor (1). Nimmt man sich die ersten Jahrgange der Zeitschrift "Raum
forschung und Raumordnung" als des reprasentativen Organs der deutschen Raumfor
schung vor, so findet man zunachst eine sehr bunte thematische Vielfalt. Sie geht etwa von
der Sprachforschung, der Pflanzengeographie, der Steigerung der landwirtschaftlichen Er
zeugung durch landwirtschaftliche Abwasser bis zur Problematik der Raumordnung der
GroBstadte, der Raumordnung in den Notstandsgebieten, der Standortstheorie, der De
zentralisierung der Industrie. Mancher mag angesichts dieser bunten Themensammlung
verzweifelt nach dem verbindenden Gedanken suchen. Nun ist eine solche Situation
nicht weiter verwunderlich, wenn es sich um den Versuch einer neuen Disziplin handelt,
die sich erst muhsam aus alten Bindungen und Sehweisen losen und zu sich selber finden
will. Aber es ist doch bemerkenswert, daB in diesen Anfangszeiten bereits einige wesent
liche Schriften entstehen konnten, die in den folgenden Betrachtungen, die lediglich
Grundlinien der Entwicklung der Raumforschung aufzeigen wollen, herauszuheben sind.
Raumforschung, zumal in ihrer Verbindung mit Raumordnung und Raumordnungspolitik,
fiihrt immer wieder auf Lokalisierungsprobleme zuruck. Es ist daher verstandlich, daB
die in unserem Zusammenhang zu behandelnden wesentlichen Schriften von bestimmten
Fragestellungen zu diesem Problemkreis ausgehen. Ein solcher Ausgangspunkt ist die
Lehre vom Standort. Sie fuhrt unmittelbar in zentrale Anliegen der Wirtschaftswissen
schaften hinein und kann zugleich deren konstitutive Bedeutung fur die moderne Raum
forschung sichtbar machen. "Die Frage der ortlichen Verteilung der Wirtschaft nimmt
in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur eine eigenartige Stellung ein. In Systemen,
die sich als solche der reinen Theorie charakterisieren lassen, wird sie durchweg nur in
Verbindung mit dem Rentenproblem gestreift, ohne mit einer Standortstheorie beant
wortet zu werden. Dagegen gibt es ausgebildete Standortslehren, die als reine Theorien
auftreten, aber abseits von der allgemeinen Wirtschaftstheorie ein Sonderdasein fuh
ren (2)." Schon fruh hatten die deutschen Wirtschaftswissenschaften mit dem groBen Wurf
von Heinrich von Thunen in seinem "Isolierten Staat" die grundlegende Theorie zur
Standortslehre im agrarischen Sektor beigesteuert, die auch heute noch ein wesentliches
Stuck der modernen Raumforschung darstellt. Aber es hatte dann doch sehr lange ge
dauert, bis uber Datensammlungen und Klassifikationen der gencrell bedeutsamen und
den Standort bestimmenden Faktoren es in Alfred Webers Beitrag "Dber den Standort
der Industrien" und seiner "Industriellen Standortslehre" zu dem Versuch einer industrie
wirtschaftlichen Erganzung der agrarischen Standortslehre von Thunen kam. Doch schon
in diesen beiden hochbedeutsamen Ansatzen zu einer wirtschaftswissenschaftlichen Theorie
des Standortes zeigt sich, daB im Gegensatz zu einer geographischen, d. h. vom Raum
in seinen naturlichen Bedingtheiten ausgehenden Betrachtungsweise primar das Verhalten
der wirtschaftenden Menschen in ihren Marktbeziehungen, sekundar die sich daraus
ergebenden Konsequenzen fur die Wahl ihrer Produktionsstandorte fur diese standorts
theoretischen Dberlegungen bestimmend waren. Diese Feststellung enthalt den Ansatz fur
eine wesentliche Unterscheidung von Raumforschung und Geographie. Die wirtschafts
wissenschaftliche Theorie baut - und zwar je mehr sie "reine" Theorie sein will, um so
schroffer - auf okonomischen Daten, okonomisch determinierten Verhaltensweisen, nicht
aber auf geographischen Momenten auf. Alfred Weber hat dieser Differenz einen sehr
bezeichnenden Ausdruck verliehen. Nachdem er knapp dargelegt hat, daB die National
okonomie als junge Wissenschaft sich zunachst mehr mit dem "Irgendwie" als dem "Ir
gendwo" des Vorsichgehens der technischen und okonomischen Evolution befaBt habe,
fahrt er fort: ,,1m ubrigen aber hat sie die theoretische Betrachtung des Wirtschaftens als
(1) Geographic und Raumforschung. Ein Nachwort zum Deutschen Geographel1tag, Jena 1936. In: Raum
forschung und Raumordnung. Monatsschrift der Reichsarbeitsgemcinschaft fUr Raumforschung. 1. Jg.,
1937, S. 78 ff.
(2) Andreas Pre doh 1, Das Standortsproblem in der Wirtschaftstheorie. In: Weltwirtschaftliches Archiv,
21. Bd., 1925, I. S. 294.
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eines ortlich uber einer Flache sich vollziehenden Vorgangs weit uberwiegend der Wirt
schaftsgeographie uberlassen; die aber das ihr liberlassene Objekt als eine Naturwissen
schaft selbstredend nur insoweit zu bewaltigen vermochte, als es sich in seiner Gestaltung
aus rein naturlichen, nicht okonomischen Tatsachen erklart. Es ist dasselbe, als ob man die
Analyse der Wirtschaftsarten einfach den technischen Wissenschaften uberwiesen
hatte (3)." Weber greift diese Frage noch einmal in einem Exkurs auf, wobei er die paral
lelen Beziehungen der Wirtschaftswissenschaften zur Wirtschaftsgeschichte und Wirt
schaftsgeographie untersucht und abschlieBend formuliert: "Trotzdem, so wenig die
Theorie der Wirtschaftsart Wirtschaftsgeschichte ist, so wenig ist die des Wirtschaftsorts
Wirtschaftsgeographie (4)."
Als dann in den dreiBiger Jahren in Deutschland Raumforschung bewuBt und umfassend
betrieben werden sollte und man in der Reichsarbeitsgemeinschaft fur Raumforschung
auch ihre organisatorische Spitze schuf, lag eine befriedigende, ausgebaute, allgemeine
Theorie der ortlichen Verteilung der Wirtschaft nicht vor, man muBte an den zusammen
fassenden Versuch von Predohl und an die speziellen Ansatzpunkte, teils im agrarischen,
teils im industriewirtschaftlichen, teils im verkehrspolitischen Bereich anknupfen. Der be
deutsamste Versuch, zu einer Gesamtauffassung zu gelangen, war die "Raumliche Ord
nung der Wirtschaft" von Losch (5). Wie die im Vordergrund der wirtschaftswissen
schaftlichen Oberlegungen jener Jahrzehnte stehende Theorie der wirtschaftlichen Ent
wicklung die Zeit, so wollte Losch den Raum "auf der ganzen Linie" in die volkswirt
schaftliche Theorie einbeziehen. Als Ziel schwebte vor, "die ganze okonomische Theorie
unterm raumlichen Aspekt neu zu schreiben". Sein Ver§uch ist allerdings, das wuBte er
sehr wohl, nicht vollstandig, wenn er auch hoffte, daB er eine ausbaufahige Theorie
wenigstens entworfen hatte. Dazu ist es nun allerdings nicht gekommen; denn gerade
wegen seiner so wertvollen, zahlreichen kritischen Einzeluntersuchungen und Einzel
erkenntnisse ist Losch, worauf Predohl mit Recht hingewiesen hat, nicht zu einem ge
schlossenen System gelangt. Auch war sein Programm wohl zu weit gespannt. Man kann
nicht "die ganze okonomische Theorie" unter dem raumlichen Aspekt neu schreiben, denn
es gibt viele Partien dieser Theorie, bei denen der raumliche Aspekt eine geringe oder
gar keine Rolle spielt. Andererseits ist es zu verstehen, daB angesichts der bisherigen
MiBachtung des Raumfaktors in der okonomischen Theorie die Reaktion bei Losch liber
das Ziel hinausschoB. Das mindert den wissenschaftlichen Wert seiner Arbeit nicht. Ein
Blick auf das Weiterwirken der "Raumlichen Ordnung" in der angelsachsischen Fach
literatur der Gegenwart kann als Beweis flir die zukunftsreiche Bedeutung seines Ver
suches gelten.
Die Aufgabe, die raumlich bestimmten Teile der volkswirtschaftlichen Theorie unter
okonomischen Aspekt neu zu schreiben, steht nach wie vor trotz weiterer Ansatze (6)
vor der Wirtschaftswissenschaft. Ihre Bewaltigung wird auch fur das Vorankommen der
Raumforschung von entscheidender Bedeutung sein. Aber die Ansatze zu dieser Theorie,
die sich bei Losch finden, sind es nicht allein, die eine Hervorhebung seiner "Raumlichen
Ordnung" in dieser knappen Darstellung von Grundlinien der Entwicklung der Raum
forschung in Deutschland rechtfertigen. Die Eigenart der Raumforschung ist ihre enge
Verb in dung mit Raumordnung und Raumordnungspolitik, und in diesem Zusammenhang
(3) Alfred Web e r, Ober den Standort der Industrien. 1. Teil: Reine Theorie des Standorts. 2. Aufl.,
Tiibingen, 1922, S. 1/2.
(4) Alfred Web e r, Ober den Standort der Industrien. A. a. 0., S. 214.
(5) August Los c h, Die raumliche Ordnung der Wirtschaft. Eine Untersuchung iiber Standort, Wirt
scbaftsgebiete und internationalen Handel. J ena, 1940.
(6) Hier ware, wenn aucb von ganz anderen Gesichtspunkten als Los c h ausgehend, VOl' al1em das
leider wenig in die Diskussion gekommene Alterswerk von Kurt W i e den f e I d zu nennen: Die
Raumbeziehungen im Wirtscbaften der Welt. Die Grundformen des Wirtscbaftslebens in der Gegenwart.
Berlin, 1939. Ferner beispielsweise: Eduard Will eke, Von del' raumgebundenen menschlichen Arbeits
kraft; cine qualitative Theorie des Arbeitsmarktes. Jena, 1937.
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hat die Schrift von Losch eine Fiille von planerisch interessantem Material und Gesichts
punkten aufgegriffen und mit der okonomischen Theorie konfrontiert. So geht er von
der vorher in der Theorie meist geiibten Begrenzung auf die Definition und raumliche
Fixierung von Standorten ab und bezieht die Fragen des Wirtschaftsraumes, der Aus
pragung der einzelnen Wirtschaftsgebiete (einfache Marktgebiete, Gebietsnetze, Gebiets
systeme), die Funktion der Stadte, die Stadtplanung in seine Dberlegungen ein.
Und schlieBlich finden sich bei ihm in einem Abschnitt, der iiber die chaotische Auffassung
von der raumlichen Ordnung handelt, sehr bezeichnende Gedanken, die erst in der Raum
forschung der letzten Jahre, wenn auch von einem anderen Ausgangspunkt her und in
anderer Formulierung, wieder aufgetaucht sind: "Das raumliche Bild der Wirtschaft urn
uns enthalt zweifellos genug irrationale, regellose, anarchische Ziige. Aber ich wehre mich
dagegen, alles Gewicht auf diesen Mangel an Ordnung zu legen. Wie sehr auch die chao
tische Auffassung von den Tatsachen bestatigt werden mag - sie ist nicht nur unwiirdig,
sondern gefahrlich. Unwiirdig, weil es auch eine Wirklichkeit der Vernunft gibt, auf die
es letzten Endes ungleich mehr ankommt als auf die Wirklichkeit des Faktischen. Gefahr
lich, weil unsere Auffassung von der Wirklichkeit mit die Zukunft gestaltet ... Vor dem
Glauben an einen geregelten Ablauf, oder richtiger an ein mogliches Funktionieren, ver
lieren unwillkiirlich die chaotischen Tatsachen an Bedeutung. Dieser Glaube griindet sich
auf Natur und Vernunft, wenn er sich am Faktischen schon nicht halten kann. Aus ihnen
schafft er das Modell einer Ordnung, die auf das hin vielleicht erst entsteht (7)." Hier
klingen Gedanken an - noch unscharf und zogernd -, die heute in den Vorstellungen
iiber ein Leitbild der Raumordnupg schon eine prazise Formulierung gefunden haben.
Aus dem Fragenkreis der Wirtschaftsgebiete hob sich sehr friih in den Dberlegungen zur
Raumforschung das groBe Thema der Ballung heraus. Losch hat es weder im Inhalts- noch
im Sachverzeichnis seiner "Raumlichen Ordnung" als Schlagwort ausgewiesen. Das
Schlagwort "Notstandsgebiete" weist er an vielen Stellen aus, die Gegenposition "Bal
lung" fehlt. Auch "Agglomeration" und "Dezentralisation" sind nicht aufgefiihrt. Der
Sachverhalt selbst war ihm natiirlich vertraut und taucht an verschiedenen Stellen seines
Buches auf. Dagegen ist schon im ersten Jahrgang von "Raumforschung und Raum
ordnung" die Thematik "Ballung - Dezentralisation (8)" aufgegriffen, urn nicht mehr
aus der Zeitschrift zu verschwinden. Die meisten Beitrage zu dem Themenkreis greifen
allerdings mehr Teilstii<ke heraus. Die umfassende Darstellung der Ballungsprozesses, die
bisher auch nicht wiederholt worden ist, hat Thalheim gegeben, indem er ihn zugleich in
die allgemeine okonomische Theorie der Konzentrationsvorgange einbezog (9).
Es kann nicht die Aufgabe dieser Darstellung von Grundlinien sein, die umfangreiche
Einzelforschung Revue passieren zu lassen, lediglich die besonders wegweisenden theo
retischen Arbeiten, die heute fiir die Entwi<klung der Raumforschung als eigenstandiger
Disziplin pragend sind, sollen herausgehoben werden, und in dieser Beziehung steht neben
Losch die groBe Untersuchung von Christaller iiber die "Zentralen Orte" (10). Es ist kein
(7) August Los c h, die raumlime Ordnung der Wirtsmaft. A. a. 0., S. 142.
(8) Paul S c h u I z -K i e sow, Ballungstendenzen der Verkehrsnetze. In: Raumforsmung und Raum
ordnung. I. Jg., 1937, S. 157 ff. und Carl Pi rat h, Dezentralisation der Industrie und die Transport
kosten. Ebda. S. 364 ff. Bezeimnenderweise waren es in beiden FaJien Verkehrswissenschaftler, die das
Thema behandelten, da von dieser Teildisziplin der Wirtschaftswissenschaften der Zugang zur Standorts
lehre und zur Einbp.ziehung des Raumlimen Uberhaupt vor allem gegeben war. Das Thema .Notstands
gebiete" war in den angefUhrten ersten Jahrgang von .Raumforsmung und Raumordnung" gleim mit
mehreren Beitragen vertreten.
(9) Karl C. T h a I h e i m, Die industrielle Ballungstendenz und die Wege zu ihrer Beseitigung. Gutachten,
erstattet der Reimsarbeitsgemeinsmaft fUr Raumforsmung. Leipzig, 1940. Ders., Ballung und Dezentrali
sation der Industrie als Problem der Raumforsmung und Raumordnung. In: Raumforschung und Raum
ordnung. 7. Jg., 1943, S. 3 ff.
(10) Walter C h r i s t a II e r, Die zentralen Orte in SUddeutschland. Eine okonomisch-geographische
Untersuchung Uber die Gesetzmalligkeit der Verbreitung und Entwiddung der Siedlungen mit stadtischen
Funktionen. Jena, 1933.
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