Table Of ContentPSYCHIATRIE DER GEGENWART
FORSCHUNG UND PRAXIS
HERAUSGEGEBEN VON
H. W. GRUHLE t· BONN . R. JUNG' FREIBURG/BR.
W. MAYER-GROSS' BIRMINGHAM . M. MOLLER· BERN
BAND 11
SPRINGER-VERLAG BERLIN HEIDELBERG GMBH
1960
KLINISCHE PSYCHIATRIE
BEARBEITET VON
CL.E.BENDA Ho BINDER KCONRAD RoDREYER
0 0 0
CL.FAUST KLEONHARD Ho-H. MEYER C. MOLLER
0 0 0
MoM OLLER K POECK Ho RUFFIN So SARIOLA
0 0 0
Wo SCHEID Po-Bo SCHNEIDER Go SCHORSCH Ho SOLMS
0 0 0
JE. STA EHELIN E. STENGEL Ho STUTTE
0 0
H. J. WEITBRECHT JoW YRSCH R. WYSS
0 0
MIT 146 ABBILDUNGEN
SPRINGER-VERLAG BERLIN HEIDELBERG GMBH
1960
Alle Rechte, insbesondere das der tlbersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten
Ohne ausdrilckllche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses
Buch oder TeUe daraus aufphotomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie)
zu vervlelfăltigen
© by Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1960
UrsprUnglich erschienen bei Springer-Verlag oHG_ Berlin -Giittingen . Heidelberg 1900
Softcover reprint of!he hardcover 18t edition 1960
ISBN 978-3-662-12159-7 ISBN 978-3-662-12158-0 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-662-12158-0
Die Wledergabe von Gebrauchsnamen,Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw.
in diesem Werk berechtlgt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der
Annahme, daf3 solche Namen im Sinn der Warenzeichen- und Markenschutz
Gesetzgebung als frei zu betrachten wiiren und daher von jedermann benutzt
werden dilrfen
BRtlHLSCHE UNIVERSITĂTSDRUCKEREI GIESSEN
Einleitung
Die Entwicklnng unseres Wissens auf dem Gebiete der klinischen Psychiatrie
in den letzten 3 Jahrzehnten spiegelt sich im Umfang und Inhalt der Beiträge des
vorliegenden Bandes. Bei den endogenen Psychosen, Neurosen und abnormen
Reaktionen standen Bemühungen um die Therapie im Vordergrund. Der Nach
druck des Forschers und Klinikers hat sich auf die Behandlung der Schizophrenien,
der manisch-depressiven Erkrankungen, der Epilepsien und auf vordem weniger
beachtete Gebiete verlegt: Suchten, organische Psychosen und Hirnerkrankungen
und besonders die Epilepsien sind in der heutigen Psychiatrie eingehender studiert
worden als je zuvor. Die klinische Symptomatologie wurde weniger gefördert und
bearbeitet. Die Gründe für das Abflauen des Interesses an Erscheinungsweise,
Abgrenzung und Verlaufsform sind nicht leicht zu finden. Es mag sein, daß mit den
Definitionen KURT SCHNEIDERS, die in fast jeder Arbeit zitiert werden, die Mög
lichkeiten der Weiterentwicklung zunächst einmal erschöpft waren. Diese an sich
wichtigen Definitionen haben die Hypothesenbildung und den Beobachtungs
rahmen in der deutschen Psychiatrie zunächst auf praktisch-diagnostische Fragen
beschränkt, neben denen eine reine Psychopathologie oder spezielle nosologische
Abgrenzungen fortgeführt wurden. Versuche, diesen Rahmen durch psycho
analytische und existentialistische Interpretationen zu sprengen und auch in der
europäischen Psychiatrie zu einer "dynamischen" Auffassung der Psychosen zu
gelangen, werden im 1. Band eine Darstellung-finden.
Seit Beginn der dreißiger Jahre hat sich in unerwarteter Weise eine wachsende
Welle von Behandlungsversuchen auf die somatische Therapie der endogenen
Psychosen konzentriert und hat die geduldige, resignierte Anstaltsatmosphäre
verjagt. Während die Bedeutung der Therapie im vorliegenden Band durch die
speziellen Kapitel über Behandlung der Psychosen und Epilepsien zum Ausdruck
kommt, werden die Methoden und ihre Grenzen ausführlicher im allgemeinen Teil
(Band I) abgehandelt.
Der Behandlungseifer war keineswegs nur somatisch. Dies hat in der defini
torisch weniger beengten amerikanischen Psychiatrie zur Anwendung von Metho
den im Gebiete der großen Psychosen geführt, die sich eng an die für Neurosen
entwickelten psycho-therapeutischen Verfahrungsweisen anschlossen.
Im Gebiete der abnormen Erlebnisreaktionen, Neurosen und Psychopathien
selbst war eine Entwicklung in die Breite auf der Grundlage psychoanalytischer
Ideen für den Zeitraum kennzeichnend. Die Ausweitung des psychiatrischen
Bereiches in Gebiete, die man als gesund und normal ansah, war schon vorher
angebahnt, hat aber besonders in Amerika zu einem weiten und breiten Interesse
am psychiatrischen Denken geführt. Im Spiegel der öffentlichen Meinung wurde
der Psychiater der Berater in fast allen Schwierigkeiten des täglichen Lebens.
Im vorliegenden klinischen Teil konnte auf eine eingehende Besprechung der
Neurosensymptomatologie verzichtet werden, nachdem der erste Band über
Grundlagen und Methoden bereits in 4 Beiträgen die Psychopathologie und
Psychotherapie behandelt.
Die Entdeckungen und Erfahrungen, die in der Berichtszeit im Feld der
organischen Störungen gesammelt wurden, wurden von der Erschließung neuer
VI Einleitung
Länder und Erdteile durch den modernen Verkehr gefördert. Volksverschiebun
gen, Kriegswirren und eine weltweite Bevölkerungsmischung haben zur Ausbrei
tung von Infektionen geführt. Neue chemische Heilmittel erzeugten Modifikatio
nen der Krankheitsbilder und trugen zur besseren Kenntnis psychiatrischer
Komplikationen bei. Syphilis und Tuberkulose traten in den Hintergrund, wäh
rend die Bedeutung der Virus-Infektionen um so deutlicher hervortrat. Die vor
50 Jahren noch kaum vorstellbare Verminderung der luischen Erkrankungen in
der Psychiatrie und ihre Behandlungsmöglichkeit ließ uns auf ein gesondertes
Kapitel über die Neurolues verzichten.
Die Kriegserfahrungen und besonders die zunehmende Häufigkeit der Ver
kehrsunfälle führten dazu, daß die Schädel-Hirn-Traumen und ihre psychischen
Komplikationen von größter, praktischer Bedeutung wurden. Heute bilden die
traumatischen Psychosen, früher seltene Fälle, einen praktisch wichtigen Anteil
psychiatrischer Aufnahmeabteilungen. Die zugrunde liegenden pathologischen
Vorgänge wurden mit Hilfe neuer Methoden studiert. Ein universales Problem fast
aller organischer Erkrankungen, die epileptischen Syndrome, haben die Forschung
beschäftigt mit beträchtlichen Ergebnissen in theoretischer und praktischer Hin
sicht und verdienten volle Berichterstattung.
Ausweitung und Vermehrung von Gesichtspunkten nach der medizinischen
wie nach der psychologischen Seite haben auf dem Gebiet der Oligophrenie zu
größerer Einsicht und zu heilpädagogischen Resultaten geführt, während ätio
logisch und therapeutisch vielversprechende Ansätze bis dato noch unerfüllt
geblieben sind.
Eine starke Breitenentwicklung hat in den letzten 20 Jahren die Kinder
psychiatrie genommen. Auf der ganzen Welt befassen sich Psychologen, Pädagogen,
Pädiater, Soziologen und Psychiater mit diesem zu einer Fachwissenschaft mit
eigenen Lehrstühlen aufgerückten Gebiet. Manche übertriebenen Hoffnungen auf
Präventiverfolge mußten freilich gedämpft werden, und auch in der amerikanischen
Kinderpsychiatrie finden die Leistungen eines AUGUST HOMBURGER wieder
größere Beachtung.
Die in den letzten Jahrzehnten verlängerte Lebenserwartung hat zu einer erheb
lichen Erweiterung des psychiatrischen Erfahrungsstoffes und der Problematik
des Alters geführt. Das psychische Altern, der Platz des alternden Menschen in
der Familie und in der Gemeinschaft sind ebenso dringliche Fragen der geriatri
schen Psychiatrie, wie die Varianten der endogenen und exogenen Psychosen, die
im höheren Alter zum ersten Male zur Beobachtung kommen. Ärztliche Fragen der
Zuordnung dieser Bilder treffen sich mit solchen der Betreuung und Behandlung
des alternden Menschen, die mehr und mehr die Aufmerksamkeit des Klinikers
beanspruchen.
Obwohl der vorliegende Band durch das synthetische Denken der Klinik
geprägt wurde, ist er doch nicht frei von den unvermeidlichen Fehlern und Ein
seitigkeiten der überspezialisierung, welche die moderne Medizin charakterisiert.
Er gibt auch damit ein getreues Bild der klinisch-therapeutischen Psychiatrie
unserer Zeit.
Birmingham, im November 1959
W. MAYER-GRoss
Inhaltsverzeichnis
A. Endogene Psychosen
Klinik der Schizophrenie. Von Professor Dr. JAKOB WYRSCH, Stans und Bern 1
Die Therapie der Schizophrenien. Von Professor Dr. MAx MÜLLER, Psychiatrische Uni
versitätsklinik Bern. Unter Mitarbeit von Privatdozent Dr. CHRISTIAN MÜLLER,
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
Depressive und Manische endogene Psychosen. Von Professor Dr. HANS JÖRG WEIT-
BRECHT, Universitäts-Nervenklinik Bonn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Die Therapie der Manisch-depressiven Erkrankungen. Von Professor Dr. HANS-HERMANN
MEYER, Psychiatrische und Neurologische Universitätsklinik HomburgjSaar ... 119
Die atypischen Psychosen und KLEISTS Lehre von den endogenen Psychosen. Von Pro
fessor Dr. KARL LEONHARD, Universitäts-Nervenklinik der Charite Berlin. Mit
12 Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
B. Psychopathien, Neurosen, abnorme Reaktionen
Die psychopathischen Dauerzustände und die abnormen seelischen Reaktionen und
Entwicklungen. Von Professor Dr. HANS BINDER, Heil- und Pfiegeanstalt Rheinau
(Zürich) ................................. 180
Neurosenprobleme vom anglo-amerikanischen Gesichtspunkt. Von Professor Dr. ERWIN
STENGEL, The United ShefIield Hospitals, Whiteley Wood Clinic, ShefIield (England) 203
Considerations pratiques sur le traitement des nevroses. Par Professor Dr. PIERRE-
B. SCHNEIDER, Policlinique psychiatrique universitaire Lausanne ...... 214
c.
Psychiatrie der Suchten
Einleitung. Von Professor Dr. MAx MÜLLER, Psychiatrische Universitätsklinik Bern. 249
Social implications of Alcoholism. By SAKARI SARIOLA, Ph. D., Centro Interamericano de
Educaci6n Rural, Rubio (Venezuela) ..................... 251
Klinik des Alkoholismus. Von Dr. RUDOLF Wyss, Psychiatrische Universitätsklinik
Bern ................................... 265
Die Behandlung der akuten Alkoholvergiftung und der akuten und chronischen Formen
des Alkoholismus. Von Dr. HUGO SOLMS, Psychiatrische Universitäts-Poliklinik
Bern. Mit 5 Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
Nichtalkoholische Süchte. Von Professor Dr. JOHN EUGEN STAEHELIN, Psychiatrische
Universitätsklinik Basel .......................... 340
D. Organische Psychosen und Hirnerkrankungen
Die symptomatischen Psychosen. Von Professor Dr. KLAUS CONRAD, Universitäts-
Nervenklinik Göttingen. Mit 2 Abbildungen .................. 369
Die psychischen Störungen bei Infektions-und Tropenkrankheiten. Anhang: Die Behand
lung der Neurolues, insbesondere der Paralyse. Von Professor Dr. WERNER SCHEID,
Universitäts-Nervenklinik Köln. Mit 21 Abbildungen .............. 436
VIII Inhaltsverzeichnis
Die psychischen Störungen nach Hirntraumen: Akute traumatische Psychosen und
psychische Spätfolgen nach Hirnverletzungen. Von Professor Dr. CLEMENS FAUST,
Psychiatrische und Nervenklink der Universität Freiburg/Brsg. Mit 20 Abbildungen 552
Epilepsie: Klinik und Forschung. Von Professor Dr. GERHARD SCHORSCH, von Bodel-
schwinghsche Anstalten Bethel bei Bielefeld. Mit 29 Abbildungen ........ 646
Die Behandlung der Epilepsien. Von Dr. RUDOLF DREYER, von Bodelschwinghsche
Anstalten Bethel bei Bielefeld. Mit 3 Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . 778
Die Oligophrenien (Geistige Entwicklungsstörungen und Schwachsinnszustände). Von
Professor CLEMENS E. BENDA, M. D., Walter E. Fernald State School, Waverley
(USA). Mit 28 Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 869
Anhang: Zur Erbpathologie und Psychiatrie der Oligophrenien. Von Dr. KLAUS POECK,
Psychiatrische Universitätsklinik Bern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 937
E. Kinder- und Alterspsychiatrie
Kinder- und Jugendpsychiatrie. Von Professor Dr. HERMANN STUTTE, Universitäts
Nervenklinik Marburg. Mit 24 Abbildungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 952
Das Altern und die Psychiatrie des Seniums. Von Professor Dr. HANNS RUFFIN, Psychia-
trische und Nervenklinik der Universität Freiburg/Brsg. Mit 2 Abbildungen 1088
Namen verzeichnis 1161
Sach verzeichnis 1215
A. Endogene Psychosen
Klinik der Schizophrenie
Von
JAKOB WYRSCH, Stans und Bern
Inhalt
Seite
I. Stand der Lehre um 1932 ..................... . 1
H. Grenzen der Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
IH. Die Schizophrenie als Krankheitseinheit ? Vererbung und Pathophysiologie. 6
IV. Umbruch der Lehre von der Schizophrenie? . . . . . . . 11
V. Übersicht ...................... . 19
Literatur. . . . . .. . .............. . 23
I. Stand der Lehre um 1932
Eine Vorbemerkung zunächst. Was hier über Schizophrenie geschrieben wird,
geht wohl von jenem berühmten Band IX aus, den WILMANS und seine damaligen
Mitarbeiter in Heidelberg für das Bumkesche Handbuch der Geisteskrankheiten
1932 verfaßt hatten. Niemals aber kann es sich darum handeln, mit der gleichen
Einläßlichkeit, wie es dort geschah, über das seither verflossene Vierteljahrhundert
der Schizophrenie-Forschung zu berichten. Das Schrifttum ist sehr in die Breite
gewachsen und in den Übersichtsreferaten von M. BLEULER für 1941-1950 und
BENEDETTI und Mitarbeiter für 1951-1955 beansprucht die bloße Aufzählung
der Autoren und Titel allein 54 Seiten. Dies ist weit mehr, als Text und Literatur
verzeichnis hier für einen größeren Zeitraum ausmachen dürfen. Ich muß beschei
dener sein, und es seien darum nur die Linien der Entwicklung nachgezeichnet
und der Gang der Ideen verfolgt. Dabei werden wohl einzelne Namen und Bücher
und Aufsätze genannt werden, die bezeichnend sind. Aber ich bin darauf gefaßt,
daß mancher Leser andere Namen und Titel vorziehen wird, weil er sie mit Recht
für ebenso bedeutend oder bedeutender hält. Ich kann mich gegen den Vorwurf
nur wehren, indem ich beteure, daß es nicht Mißachtung oder Verkennung bedeu
ten soll, wenn hier mancher Verdiente nicht genannt wird. Die Notwendigkeit,
auf beschränktem Raum die Wandlungen und den Stand der Lehre über die
Schizophrenie darzustellen, zwingt dazu, sich kurzzufassen und auf die Referaten
zeitschriften zu verweisen.
Der eingangs genannte Band der Heidelberger Klinik lebt in der Erinnerung
der Leser von damals fort als ein geschlossenes, festgefügtes Werk, in dem eines
ins andere greift und nichts erklärt oder verständlich gemacht wird, als was
erklärt oder verständlich gemacht werden kann. Der kühle G. EWALD, also einer,
der wahrhaftig nicht auf dem Boden der Heidelberger Klinik stand, möge es
bezeugen: ". . . es ist eine Darstellung geworden, die man gerne liest - ich
möchte geradezu sagen, daß ich das Buch mit Begeisterung studiert habe - und
die nicht mehr verwirrt, als lehrt." Auch die Jüngeren unter uns, die den Band
erst heute in die Hand nehmen, werden wohl den gleichen Eindruck erfahren,
aber zugleich werden sie zu einem weitverbreiteten falschen Schluß verführt.
Oder ist es nicht so, wenn man liest, was W. WAGNER dieser Tage geschrieben
Psychiatrie der Gegenwart, Bd. II 1
2 JAKOB WYRSCH: Klinik der Schizophrenie
hat? "Mit dem Begriff der Schizophrenie kategorisiert man eine Gruppe sich
recht unterschiedlich verhaltender Menschen - mehr nicht. Man hat sich mehr
oder weniger damit zufriedengegeben, da Begriffe, auch wenn sie vage sind, eine
beruhigende Wirkung haben. Dem Kranken hat man jedoch mit dem Abstraktum
Schizophrenie nichts genützt. Im Gegenteil, zumeist hat man ihn dadurch
beeinträchtigt: man hat ihn zuzeiten auf dieser Grundlage diffamiert, sterilisiert,
umgebracht." (Seite 11.) Nun war die Stärke WAGNERS der Widerspruch, und
fast war er ein Außenseiter. Aber man lese bei einem, auf den beides nicht zutrifl't,
nämlich bei M. BLEuLER: "Zu diesen und vielen andern grundlegenden Fragen
hätten vor 30 und 40 Jahren die meisten tonangebenden Psychiater zwar auch
nicht einheitlich Stellung genommen, aber ihre Meinungsdifferenzen hätten sich
doch übersichtlich zusammenfassen lassen. Wie anders heute: Die grundlegen
den Meinungen über diese Frage in verschiedenen Kontinenten, Ländern und
Schulen, aber auch von Persönlichkeit zu Persönlichkeit, sind völlig auseinander
gefallen und bilden ein kaum mehr zu überblickendes Wirrwarr." (Übersichts
referat von 1951, S. 385.)
In diesen und noch vielen andern Äußerungen aus den letzten Jahren scheint
hindurch der Schluß, zu dem der Band aus Heidelberg verführt hat: weil dieser
Band so einheitlich und geschlossen wirkt, gilt auch die Schizophrenielehre von
damals als einheitlich und geschlossen, und vor diesem scheinbar ruhigen, fest
gefügten Hintergrund ist der heutige Wirrwarr unüberblickbar. Das Bild paßt
gut zu "Medizin in Bewegung", wie das aufsehenerregende Buch von SIEBECK,
wahrhaftig keinem jugendlichen Draufgänger, kurz nach Kriegsende hieß. Wenn
die Medizin überhaupt in Bewegung ist, dann ist es auch die Psychiatrie, und
in ihr muß es notwendigerweise besonders die Lehre von der Schizophrenie sein.
Es hieße blind sein, um diese Bewegung des letzten Jahrzehnts zu bestreiten.
Zu bedenken ist aber, daß Bewegung dreierlei bedeuten kann: Umsturz und
Neuerung, oder Neubesinnung und Prüfung der als sicher angenommenen Grund
lagen, oder bloße Betriebsamkeit und Bewegung um der Bewegung willen.
Was in unserem Fall zutreffen könnte, wird sich wohl teilweise herausschälen
lassen, wenn wir die Entwicklung verfolgen. Zweitens aber ist zu bedenken,
daß wir uns beim Rückblick in die Vergangenheit - nicht nur die wissenschaft
liche, sondern ganz im allgemeinen - leicht täuschen und manches als fest und
starr zu erblicken glauben, was seinerzeit sehr geschwankt hat. So war es auch
in jenen Zeiten, die scheinbar so glücklich oder so töricht waren und angeblich
an eine einheitliche Lehre von der Schizophrenie glaubten.
Diese Lehre war nun keineswegs so unbestritten. Wer in den historischen
Aufsätzen von STRANSKY, der vom allerersten Anfang an dabei war, sich umsieht,
wird mit Erstaunen sehen, wieviel Mißverständnisse und Mißhelligkeiten es
damals gab. Aber auch wenn wir uns ans Praktische halten und die Theorien
beiseite lassen, so wird jeder von uns sich erinnern, wie wir in den Jahren nach
1920 über den Rhein hinüber aneinander vorbeiredeten, wenn wir über Schizo
phrenie sprachen. Dabei ließ man doch hüben und drüben sowohl KRAEPELIN
wie BLEuLER gelten und fühlte sich als beider Schüler, und dennoch meinte
man hüben und drüben etwas anderes, wenn man das gleiche Wort Schizophrenie
in den Mund nahm.
Wie mußte es sich erst außerhalb des deutschen Sprachbereichs verhalten.
E. MINKOWSKI erzählt in seinem Buch von 1928, das auf seine Art für die fran
zösische Psychiatrie die Bedeutung des Bleulerschen Werkes von 1911 hatte,
wie ein junger Kritiker ihm entgegenhielt, es sei «l'ecole de Zurich sous la direc
tion de BLEuLER surtout 1e produit de deux courrents: de la psychanalyse, du
pansexualisme de FREuD d'une part et de la phenomenologie de HussERL de
l'autre.}) Sicher ein Mißverständnis der Schizophrenie von Anfang an. Aber schon