Table Of ContentDr. Benedikt von Hebenstreit
GRUNDZUGE EINER
VERKEHRSPSYCHOLOGIE
Mit 11 Abbildungen
und 2 Tabellen
1961
JOHANN AMBROSIUS BARTH MUNCHEN
ISBN-13: 978-3-540-79667-1 e-ISBN-13: 978-3-642-47659-4
001: 10.1007/978-3-642-47659-4
Aile Rechte, insbesondere das der Obersetzung, vorbehalten
Fotomechanische Wiedergabe nur mit ausdriicklicher Genebmigung des Verlags
@) 1961 by Johann Ambrosius Barth, MUnchen.
Satz und Druck: Buchdruckerei Universal, Miinchen
VORWORT
Die Anregung zu dieser Arbeit erhielt ich bereits vor nahezu zehn
Jahren von meinem verehrten, allzu froh verstorbenen Lehrer und
Doktorvater, Prof. P. I. BETSCHART, OSB, Direktor des Salzburger
Psychologischen Institutes, der mir nicht nur durch wertvolle Hinweise,
sondern auch durch seinen Rat und seine menschliche Giite zur Seite
stand. Weitere Hilfe fand ich wahrend meiner Tatigkeit am Psycho
logischen Institut der Universitat Miinchen unter Prof. PH. LERSCH,
als mir manche experimentelle Untersuchung zu einzelnen verkehrs
psychologischen Fragen, auch in Zusammenarbeit mit Studierenden,
ermoglicht wurde. SchlieBlich erhielt die Arbeit maBgebliche Anregung
durch meine Tatigkeit bei der psychologisch-medizinischen Unter
suchungsstelle des Technischen Oberwachungs-Vereins Bayern, vor
allem durch dessen Leiter, RR a. D. Dr. G. MUNSCH, aber auch durch
andere Kollegen, mit denen anlaBlich unserer gemeinsamen gutachter
lichen Tatigkeit verkehrspsychologische Probleme diskutiert wurden.
Ihnen allen sei an dieser Stelle herzlicher Dank gesagt.
Die Verkehrspsychologie steckt noch weitgehend in den Kinderschuhen.
Hypothesen reihen sich an wissenschaftlich Gefestigtes, Wunschvor
stellungen an bereits Erreichtes. Wenn durch dieses Buch die Forschung
auf dem Gebiet der Verkehrspsychologie weitere Anregung erhielte,
ware sein Zweck bereits erfiillt.
Miinchen, im Friihjahr 1961
B. v. Hebenstreit
INHALT
Vorwort 1
Einleitung 7
DER VERKEHRSTEILNEHMER . 11
1. Problemkreis: Die Orientierung des Menschen im Verkehr 11
Der Gesichtssinn. . . . . 11
a) Der optische Apparat . 12
b) Die effektive Sehleistung 25
c) Sonderfragen . 37
Die librigen Sinne . 47
a) Der Gehorsinn 48
b) Der Geruchsinn . 56
c) Die Hautsinne . 56
d) Der Gleichgewichtssinn . 60
Die Intelligenz . . . . . 60
Ein komplexes Phanomen: Die Beurteilung der eigenen
Geschwindigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 66
2. Problemkreis: Das verkehrsangepalhe Verhalten 71
Die Aufmerksamkeitszuwendung . 72
Die Spontanaktionen . 80
Die Reaktionen . . 81
Sonderprobleme . . . 85
a) Die Reaktionszeit . 85
b) Die ideomoto~ischen Phanomene . 88
c) Der Begriff der Motorik. . . . 90
3. Problemkreis: Charakterologische Komponenten 92
Die Zuverlassigkeit. . . . . . . . . . . . . . 93
a) Allgemeine Vorerorterungen . . . . . . . . 93
b) Der Begriff der Zuverlassigkeit im Stra~enverkehr 101
Die personliche Gleichung 104
Der soziale Aspekt 111
DIE ANPASSUNG VON MENSCH UND VERKEHR 115
1. Problemkreis: Die Auslese der Anpassungsunfahigen 117
Allgemeine Vorerorterungen. . . . . . . . . . . . 117
Inhalt 5
Die Fahrtauglichkeitsuntersuchungen . . . . . . . . . 118
a) Die Beteiligung verschiedener Fakultaten. . . . . . 119
b) Eignungsuntersuchungen fur Lenkerberufe und Fahrtauglich-
keitsuntersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
c) Der psychologische Teil der Untersuchungen zur Auslese der
Anpassungsunfahigen . . . . . . . . 126
1. Arbeitsproben und Funktionstests 127
2. Die Exploration . . . . 132
3. Projektive Testverfahren 136
4. Die Synopsis . . . 137
Die Fuhrerscheinprufung . . 138
2. Problemkreis: Die Anpassung des Menschen an den Verkehr 141
Der Verkehrsunterricht . 141
Die Verkehrsgewohnung 147
Die Verkehrserziehung . 149
3. Problemkreis: Die Anpassung des Verkehrs an den Menschen 152
Die Verkehrswege . . 153
Die Verkehrsmittel. . 159
Die Verkehrsregelung . 165
SchluBwort 176
Literatur . . . . . . 178
EINLE1TUNG
Unter »Verkehr«, ganz allgemein gefaBt, versteht man die Summe von
Beziehungen, die aus mitmenschlichen Begegnungen entstehen. Eine
besondere Art des Verkehrs ist der Strapenverkehr. Hier handelt es
sich urn das Insgesamt von Beziehungen, die aus Begegnungen auf den
offentlichen Verkehrswegen resultieren. Neben dem schienengebunde
nen Verkehr, bei dem die Fahrzeuge lediglich in Betrieb gesetzt werden
mussen, aber keiner Lenkung im Sinne einer Steuerung in eine be
stimmte Richtung bedurfen, stellt der StraBenverkehr die wichtigste
Verkehrsform zu Lande dar. Er umfaBt, im Gegensatz zum Schienen
verkehr, nicht nur vorausgeplante Begegnungen von Verkehrsmitteln,
die der Personen- und Guterbeforderung dienen, sondern auch das un
vorhergesehene und zufallige Zusammentreffen von Menschen, die sich
auf den Verkehrswegen in verschiedenen Richtungen zu irgendeinem
Ziel begeben. Der reibungslose Ablauf aller dieser nicht »fahrplan
maBig« stattfindenden Begegnungen wird gesteuert durch die Verkehrs
regelung, die bestimmte Hinweise fur das richtige Verhalten des ein
zelnen StraBenbenutzers gibt. 1m Mittelpunkt des StraBenverkehrs
aber steht immer der Mensch, der den Verkehr uberhaupt erst schaffi:
und in Gang bringt. Mit der Rolle des Menschen im StraBenverkehr
wollen wir uns im folgenden beschaftigen.
Wir wollen uns aber nicht fragen, welche Anforderungen der Verkehr
an aIle Seiten menschlicher Existenz stellt, sondern nur eine ganz be
stimmte unter ihnen herausgreifen: Wir wollen uns fragen, welche
psychischen und psychophysischen Fahigkeiten und Kra/te, welche
besonderen charakterlichen Qualitaten durch eine Teilnahme am Ver
kehr besonders beansprucht werden und welche da/ur unerlaplich sind,
wie also die seelische Struktur des Menschen beschaffen sein muB, damit
er sich als StraBenbenutzer reibungslos in das Verkehrsgeschehen ein
fugt. Da es sich hierbei urn eine psychologische Fragestellung handelt,
konnen wir unsere Ausfuhrungen daher als »Grundzuge zu einer
Psychologie des StraBenverkehrs« oder kurzer, aber sinngemaB schlech-
8 Einleitung
ter, als »Grundziige einer Verkehrspsychologie« bezeichnen. Gegen
stand der Verkehrspsychologie in diesem Sinne ist also die psychische
Seite des Menschen, sofern sie durch die Teilnahme am Verkehr be
troffen wird, bzw. den Ablauf des Verkehrsgeschehens in irgendeiner
Weise beeinfluBt: Die seelisch-geistige, durch bestimmte Charakterziige
gepdigte Seite des Menschen in seiner Beziehung zum StraBenverkehr
und, umgekehrt, die Beziehung des StraBenverkehrs zu den seelischen
Erlebnisvollziigen herauszustellen, muB die Aufgabe einer Psychologie
des StraBenverkehrs sein.
Innerhalb dieser groBen Aufgabe lassen sich nun wieder einzelne Teil
aufgaben unterscheiden. Eine erste wird es sein, in einer Analyse des
StraBenverkehrs jenen Anforderungen nachzuspiiren, die der heutige
StraBenverkehr an den Verkehrsteilnehmer stellt und das gewonnene
Ergebnis zu konfrontieren mit der psychophysischen Ausstattung des
Menschen. Sodann ist zu fragen, wie der Mensch am besten an den
Verkehr angepaBt werden kann und schlieBlich muB die Anpassung
der Verkehrswege, Verkehrsmittel und der Verkehrsregelung an den
Menschen, der sie beniitzt, erwahnt werden.
Untersuchungen auf allen diesen Gebieten verlangen die verschieden
artigsten Methoden. Die bedeutsamste und wichtigste ist die experi
mentelle Methode, die es erlaubt, den Verkehrsteilnehmer in einer be
stimmten Verkehrssituation natiirlicher oder kiinstlicher Art unter den
gleichen Bedingungen - jederzeit wiederholbar - zu beobachten. Ge
rade fiir Laboratoriumsexperimente bietet die Verkehrspsychologie,
wie spater deutlich zu sehen sein wird, ein reiches Forschungsfeld.
Daneben steht die Verkehrsunfallanalyse, die uns zeigen solI, weshalb
ein Mensch im Verkehr versagte, urn daraus positive Schliisse flir unsere
Fragestellung zu ziehen. Auch die Methode der retrospektiven Selbst
beobachtung und die damit in Verbindung stehende Methode der Be
fragung von Versuchspersonen kann in einzelnen Fallen, so etwa bei
Untersuchungen iiber den Geschwindigkeitsrausch, von Nutzen sein.
SchlieBlich wird sich die Verkehrspsychologie noch des methodischen
Hilfsmittels der Statistik bedienen, ohne aber neben ihrer GroBe auch
ihre Grenzen aus den Augen zu verlieren.
Einem derart aufgebauten System der Verkehrspsychologie wird nicht
nur theoretische Bedeutung, sondern auch praktischer Nutzen zukom
men. Dieser wird einerseits prophylaktischer Natur sein, sofern auf
Grund der durch systematische Forschung gewonnenen Einsichten das
Einleitung 9
Verkehrsgeschehen in einer Weise gestaltet werden kann, die der
Wesensart des Menschen am besten entspricht. Zum anderen liegt der
Nutzen auf forensischem Gebiet, sofern die Ergebnisse verkehrspsycho
logischer Forschung weitgehend mithelfen konnen bei der Aufhellung
von Unfallen und Anhaltspunkte fur die Beurteilung der Frage der
Schuld oder Unschuld der Beteiligten zu geben vermogen. SchlieBlich
ergibt sich aus den gefundenen Erkenntnissen auch ein Hinweis fur die
bestmogliche Art der Anpassung des Menschen an den Verkehr, der fur
eine » Verkehrspadagogik« wertvoll ist.
So gesehen stellt die Verkehrspsychologie - im groBen Gebaude der
Disziplinen der Psychologie einzuordnen bei der praktischen oder an
gewandten Psychologie - einen wichtigen Zweig der Wissenschafi
vom Verkehr dar, neben der Verkehrsmedizin, der Verkehrstechnik
und dem Verkehrsrecht. Allerdings gibt es heute noch kein umfassendes
abgeschlossenes System der Psychologie des StraBenenverkehrs, wei I
noch auf vielen Gebieten einschlagige Untersuchungen und Grund
lagenforschungen fehlen. Was wir bis jetzt vorfinden, sind Ansatze und
Teiluntersuchungen, wie uberhaupt die Verkehrspsychologie erst eine
Wissenschaft in statu nascendi ist. Der Leser moge sich dies bei der
Lekture stets vor Augen halten!
DER VERKEHRSTEILNEHMER
Erste und vordringlichste Aufgabe der Verkehrspsychologie ist die
Untersuchung jener psychischen Fahigkeiten, Kdfte und Dispositionen,
ohne die der Mensch den Anforderungen des modernen StraBenver
kehrs nicht gewachsen ist. Deshalb beginnen wir unsere verkehrspsycho
logische Betrachtung mit einer Analyse der Funktion des Menschen
im Verkehr.
Der Verkehrsteilnehmer begibt sich in den Verkehrsraum mit der Ab
sicht, ein raumlich entferntes Ziel zu erreichen. Bei der Verwirklichung
dieser Absicht begegnet er anderen Verkehrsteilnehmern und sieht sich
den Grenzen des Verkehrsraums sowie Hindernissen gegenuber, die er
respektieren muB. Er hat sein Verhalten und Handeln daraufhin ab
zustimmen, will er nicht seIber in Gefahr geraten oder andere gefahr
den. Erst auf Grund der wahrnehmenden und beurteilenden Erfassung
des Verkehrsgeschehens und der Gegenstande im Verkehrsraum kann
sodann das Handeln und Verhalten reguliert werden. Deshalb wollen
wir im folgenden zunachst in einem ersten Teil jene psychischen Funk
tionen behandeln, durch die wir uns Kenntnis von der Umwelt ver
schaffen, und uns spater, im zweiten Teil, den seelischen Funktionen
und Haltungen zuwenden, in denen wir Stellung zu dieser Umwelt
beziehen.
1. PROBLEMKREIS
DIE ORIENTIERUNG DES MENSCHEN 1M VERKEHR
Der Gesichtssinn
Hauptsachlichstes Orientierungsmittel des Menschen im Raum ist das
Auge. Ohne einwandfreies »Sehvermogen«, d. h., ohne die Fahigkeit,
Dinge unserer naheren Umgebung zu erkennen und nach Form, Figur
und Farbe zu identifizieren, kann sich kein Mensch verkehrssicher ver
halten. Deshalb ist das »Sehen« fur die Teilnahme des Menschen am
Verkehr von zentraler Bedeutung. Weil aber die psychologische Proble-
12 Der Verkehrsteilnehmer
matik des Sehens - als seelische Erlebnisform gefaBt - nicht ohne weite
res verstandlich wird ohne die physiologischen Grundlagen, ja teilweise
aus diesen erst resultiert, ist es unerlaBlich, vor der Behandlung der
psychologischen Fragen den physiologischen Vorgang im optischen
Apparat kurz darzulegen.
a) Der optische Apparat
Organ des Gesichtssinnes ist bekanntlich das Auge. Es stellt einen
Apparat dar, mittels dessen die von den Gegenstanden der AuBenwelt
zuriickgeworfenen Lichtstrahlen gesammelt und auf die Netzhaut als
dem eigentlich lichtempfindlichen Organ geworfen werden. Die da
durch in der Netzhaut entstehende Erregung ruft ihrerseits eine Er
regung der Nervenbahnen, diese wieder eine Erregung im Zentralorgan
- dem Gehirn - hervor, auf Grund derer es zur Empfindung und -
unter bestimmten Umstanden - zur bewuBten Wahrnehmung kommt.
Die Art und Weise dieser Erregung der Netzhaut entspricht in ihrer
geometrischen Anordnung ungefahr den tatsachlichen geometrischen
Verhaltnissen in der AuBenwelt, so daB das Netzhautbild ein - wenn
auch unscharfes - Abbild der gerade betrachteten auBeren Dinge dar
stellt, dessen Qualitat und Scharfe von verschiedenen physiologischen
Faktoren abhangt.
Einer der wichtigsten dieser Faktoren ist die sogenannte »Sehscharfe«.
Man versteht darunter die Fahigkeit des optischen Apparates, zwei
Punkte, die sich in seitlichem Abstand voneinander befinden, noch als
getrennte Punkte unterscheiden zu konnen (1),'. Befinden sich z. B.
(siehe Abb. 1) die beiden Punkte Pl und P2 (mit dem gegenseitigen Ab
stand d) in einer Entfernung E yom Auge, so treffen sich die im Auge
einfallenden Lichtstrahlen It und 12 im Ziliarkorper unter einem ganz
bestimmten Winkel (Sehwinkel a) und reizen die beiden Netzhaut
punkte Bl und B2. Je groBer dieser Sehwinkel a ist, urn so weiter sind
sowohl Pi und P2 als auch Bi und B2 voneinander entfernt, und je
kleiner der Sehwinkel, urn so geringer ist der Abstand zwischen den
Punk ten und den gereizten Netzhautstellen. Wird der Abstand der
beiden Punkte so eng, der Sehwinkel also so schmal, daB die in der
Netzhaut in Bl und B2 entstehende Erregung wegen der zu groBen
raumlichen Nahe ineinander ohne Abgrenzung iiberflieBt, so wird nur
noch ein einziger Punkt erkannt. Jene Entfernung der Netzhautstellen
'. Die Zahlen in den Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis.