Table Of ContentGedächtnis
und
Erinnerung.
Ein interdisziplinäres
Handbuch
C h r i s t i a n G u d e h u s
A r i a n e E i c h e n b e r g
H a r a l d W e l z e r
( H r s g . )
Herausgegeben von Gedächtnis
Christian Gudehus,
Ariane Eichenberg und und
Harald Welzer
Erinnerung
Ein interdisziplinäres
Handbuch
Verlag J. B. Metzler
Stuttgart · Weimar
Die Herausgeber
Christian Gudehus, promovierter Sozialwissen-
schaftler, ist wissenschaftlicher Geschäftsführer
des Center for Interdisciplinary Memory
Research am Kulturwissenschaftlichen Institut in
Essen.
Ariane Eichenberg, Promotion 2003, ist Redak-
teurin der Zeitschrift »Erziehungskunst« und
Lehrbeauftragte an der Universität Stuttgart.
Harald Welzer ist Professor für Sozialpsychologie
an der Universität Witten-Herdecke und
Direk tor des Center for Interdisciplinary
Memory Re search am Kulturwissenschaftlichen
Institut in Essen.
Bibliografische Information der Deutschen National-
bibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
© 2010 Springer-Verlag GmbH Deutschland
Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung
ISBN 978-3-476-02259-2
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2010
ISBN 978-3-476-00344-7 (eBook)
www.metzlerverlag.de
DOI 10.1007/978-3-476-00344-7
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V
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII 5. Architektur . . . . . . . . . . . . . . . 156
6. Archive und Bibliotheken. . . . . . . 165
Erinnerung und Gedächtnis. Desiderate 7. Museen . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . 1 8. Denkmale und Gedenkstätten . . . . 177
9. Erinnerungsorte . . . . . . . . . . . . 184
10. Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . 189
I. Grundlagen des Erinnerns
11. Printmedien und Radio . . . . . . . . 196
12. Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
1. Neuroanatomische und neurofunktio-
13. Film und Fernsehen . . . . . . . . . . 217
nelle Grundlagen von Gedächtnis . . 11
14. Fotografie. . . . . . . . . . . . . . . . 227
2. Zur Psychologie des Erinnerns . . . . 22
15. Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
3. Die Entwicklung des autobio-
16. Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
graphischen Gedächtnisses . . . . . . 45
4. Das Gedächtnis im Alter . . . . . . . 54
5. Psychoanalyse als Erinnerungs-
IV. Forschungsgebiete
forschung . . . . . . . . . . . . . . . . 64
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
II. Was ist Gedächtnis/ 1. Geschichtswissenschaft . . . . . . . . 249
2. Philosophie. . . . . . . . . . . . . . . 261
Erinnerung?
3. Soziologie. . . . . . . . . . . . . . . . 276
4. Literaturwissenschaft . . . . . . . . . 288
1. Das autobiographische Gedächtnis . 75
5. Biographieforschung . . . . . . . . . 299
2. Das kollektive Gedächtnis . . . . . . 85
6. Tradierungsforschung. . . . . . . . . 312
3. Das kulturelle Gedächtnis . . . . . . 93
7. Geschlechterforschung . . . . . . . . 319
4. Das kommunikative Gedächtnis . . . 102
8. Generationenforschung. . . . . . . . 327
5. Das soziale Gedächtnis . . . . . . . . 109
6. Das Politische des Gedächtnisses . . 115
V. Anhang
III. Medien des Erinnerns
1. Auswahlbibliographie . . . . . . . . . 337
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 2. Institutionen, Projekte, Zeitschriften 338
1. Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 3. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter . . 346
2. Gedächtniskünste . . . . . . . . . . . 136 4. Sachregister. . . . . . . . . . . . . . . 348
3. Rituale . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 5. Personenregister . . . . . . . . . . . . 359
4. Produkte . . . . . . . . . . . . . . . . 149
VII
Vorwort
Was ist Gedächtnis? heraus. Gesellschaftspolitisch relevant für das In-
Das System zur Aufnahme, zur Aufbewahrung und teresse an Gedächtnis und Erinnerung sind die
zum Abruf jeder Art von Informationen (z. B. Daten,
historischen Transformationsprozesse, die mit
Fähigkeiten, Emotionen)
der Auflösung der Sowjetunion in Gang gesetzt
wurden. Sehr unterschiedliche nationale Ge-
Was ist Erinnerung?
Der Abrufvorgang dieser Informationen dächtnisse formulieren sich seitdem, stehen ein-
ander entgegen – und sollen doch zusammenge-
Das Gedächtnis schließt unsere menschliche hören, wie das Beispiel Ost- und Westdeutsch-
Existenz zu einer Einheit zusammen. Ohne die land zeigt –, so dass eine Beschäftigung mit dem
Fähigkeit zu erinnern, würde das Wissen von uns Gedächtnis unabdingbar ist. Eng verzahnt hier-
selbst und der Welt in unzusammenhängende mit ist die Wende in der Geschichtswissenschaft,
Einzelheiten auseinanderfallen. Eine Vergegen- in der nicht mehr nur noch das scheinbar unver-
wärtigung des Vergangenen für eine Orientie- änderbare Faktum im Forschungsmittelpunkt
rung in der Gegenwart und eine Gestaltung der steht, sondern dieses als Konstrukt aus der jewei-
Zukunft, wäre ohne Gedächtnis und Erinnerung ligen Perspektive begriffen werden kann.
nicht möglich. Das Gedächtnis als basales Organ Doch nicht zuletzt tragen die Neurowissen-
und die Erinnerung als zentrale Fähigkeit stehen schaften entscheidend dazu bei, dass sich das
somit seit Jahrtausenden im Fokus des menschli- Wissen um das Gedächtnis und die Erinnerung
chen Interesses. enorm erweitert hat. Durch die sogenannten
Seit inzwischen rund drei Jahrzehnten aller- bildgebenden Verfahren ist es möglich geworden,
dings ist dieses Interesse sprunghaft gestiegen das menschliche Gehirn während des Lernens
und hat eine Fülle unterschiedlichster For- und Erinnerns abzubilden und somit zu einer
schungsansätze und Fragestellungen hervorge- differenzierten Darstellung unterschiedlicher
bracht. Das Thema ›Gedächtnis und Erinnerung‹ Gedächtnissysteme zu kommen. Allein beschrei-
berührt seitdem nicht nur sämtliche kultur- und ben lassen die Gedächtnisinhalte sich mit den
naturwissenschaftlichen Disziplinen, politische neurowissenschaftlichen Verfahren nicht. Das
und öffentliche Debatten, sondern wirkt bis in Gedächtnis bildet sich im Laufe des Lebens ent-
den Alltagsdiskurs hinein. Die Gründe für diese sprechend seiner sozialen Erfahrungen, seiner
gesamtkulturelle Präsenz sind vielfältig und auf Einbettung in bestimmte Umwelt- und Lebens-
mehreren Ebenen zu suchen. Ein Aspekt ist, dass zusammenhänge fortwährend um und schafft
in modernen Gesellschaften Lebensläufe nicht damit immer neue neuronale Verknüpfungen.
mehr linear, auf generationellen und traditionel- Gehirn und Gedächtnis wie Erinnerung sind also
len Konzepten fußend, verlaufen. Sie sind hoch- immer in Interaktion mit der jeweiligen Umwelt
riskant, von Brüchen gekennzeichnet, so dass im weitesten Sinne zu denken.
eine fortwährende Vergewisserung der Vergan- Will man Gedächtnis und Erinnerung verste-
genheit erforderlich ist. Zugleich evozieren die hen, so liegt es in der Sache, die verschiedenen
demographischen Verschiebungen einen wach- Disziplinen und Konzepte zu verbinden: Ge-
senden Blick auf die Vergangenheit; krankhafte dächtnis und Erinnerung sind ein interdiszipli-
und altersbedingte Gedächtnisstörungen fordern näres Phänomen. – Das Handbuch bietet eine
nicht nur die medizinische Forschung, sondern Einführung in die Gedächtnis- und Erinnerungs-
auch die Gesundheitspolitik zu neuen Konzepten forschung. Von den neurologischen und psycho-
VIII Vorwort
logischen Grundlagen ausgehend, werden die wirken. Die inflationär und oft unscharf verwen-
vielfältigen Formen des Gedächtnisses vorge- deten Begriffe wie kulturelles, kommunikatives,
stellt, seine verschiedenen medialen Repräsenta- kollektives Gedächtnis werden in diesem Kapitel
tionsmöglichkeiten untersucht sowie einzelne so noch einmal einer Revision unterzogen und
Forschungsdisziplinen und -konzepte gesondert gegeneinander deutlich abgegrenzt.
dargestellt. Das dritte Kapitel »Medien des Erinnerns«
Das erste Kapitel »Grundlagen des Erinnerns« spannt einen großen entwicklungsgeschichtli-
fokussiert auf die organische und psychische chen Bogen. Es reicht von den frühesten Reprä-
Verfasstheit des Gedächtnisses sowie seine Ent- sentationsmöglichkeiten des Gedächtnisses wie
wicklung und Rückbildung. Aus neurowissen- Ritualen, Bildern und Schrift über Archive, Bi-
schaftlicher Perspektive werden die verschiede- bliotheken, Literatur, Architektur, Museen, Foto-
nen Gedächtnissysteme und ihre jeweiligen grafie und Film bis hin zu den neuesten medialen
Verarbeitungsstufen erläutert, Störungen der Ge- Vermittlungsinstanzen den Produkten und dem
dächtnisfunktionen und der Zusammenhang Internet. Hier wird vor allem nach der Geschichte
neuronaler Plastizität und Psychopathologie an des jeweiligen Mediums, seiner Zuordnung wie
Beispielen herausgearbeitet. Aus psychologischer Leistung gefragt.
Sicht wird die Erinnerungsfähigkeit – das Wie Das vierte und abschließende Kapitel »For-
und Warum des Erinnerns – in den Mittelpunkt schungsgebiete« nimmt eine gewisse Sonderstel-
gerückt. Neben der Geschichte der Gedächtnis- lung ein. Es greift verschiedene Forschungsge-
psychologie und ihren Methoden, wird das biete und Disziplinen noch einmal auf, die den
Vergessen als zentrale Instanz gegenüber dem Fragen nach Gedächtnis und Erinnerung inner-
Erinnern untersucht, um dann Gedächtnis, Er- halb ihres Faches eine zentrale Stellung einräu-
innern und Vergessen in den unterschiedlichsten men, wie die Philosophie, Literaturwissenschaft,
psychischen Funktionsbereichen erläutern zu Soziologie, aber auch Geschichtswissenschaft,
können. Daran schließen die Entwicklung des Geschlechter- und Genderforschung. Zugleich
autobiographischen Gedächtnisses durch sprach- enthält das Kapitel Beiträge, die nicht einer Dis-
liche Kommunikation in frühester Kindheit und ziplin zuzuordnen sind, die sich der Methoden
der natürlichen wie krankheitsbedingten Rück- und Theorien unterschiedlicher Fächer bedie-
bildung des Gedächtnisses im Alter an. Das Kapi- nen, die aber gedächtnisrelevante Gegenstände
tel endet mit psychoanalytischen Konzepten, untersuchen: die Biographieforschung und Tra-
dem Blick auf das unbewusste Wissen des Ge- dierungsforschung. Im Grunde sind es gerade
dächtnisses. letztere, die dem interdisziplinären Anspruch am
Das zweite Kapitel »Was ist Gedächtnis/Erin- meisten Genüge tun. Dieser im Titel des Buches
nerung?« stellt die Formen des Gedächtnisses aus formulierte Anspruch realisiert sich über die the-
geistes- und kulturwissenschaftlicher Sicht dar. matische und disziplinäre Breite der Einführung,
Es beginnt beim Individuum mit dem autobio- deren Zielgruppe vor allem Lehrende und Stu-
graphischen Gedächtnis, reicht über das kollek- dierende verschiedenster Fachrichtungen sind.
tive, kulturelle, kommunikative und soziale Ge- Sie sollen über die weit über eine Disziplin hin-
dächtnis ganzer Gruppen bis hin zum Politischen ausgehende Beschäftigung mit Phänomenen von
des Gedächtnisses von Nationen. Deutlich wird Gedächtnis und Erinnerung informiert werden.
hieran, dass zwar das Individuum Träger des Ge- Die vorgestellten Konzepte, Theorien, For-
dächtnisses ist, dass es rezipiert, umarbeitet und schungsrichtungen und Disziplinen sind ledig-
fortwährend das Wahrgenommene aktualisiert, lich eine Auswahl aus einem noch erheblich wei-
dass es aber als Teil verschiedener Kollektive in ter gestreuten und sich ständig erweiternden
soziale Prozesse eingebunden ist, die eigenen Ge- Feld, das sehr allgemein mit Gedächtnisfor-
setzmäßigkeiten folgen und in ihrer Vergangen- schung beschrieben werden kann. Um diese Un-
heitsrepräsentation auf das Individuum zurück- zulänglich jeden Druckerzeugnisses gegenüber
Vorwort IX
dem Internet, das die Möglichkeit ständiger Kor- tend für unsere Kollegen am Kulturwissenschaft-
rektur und Erweiterung bietet, auszugleichen, lichen Institut danken wir seinem Direktor Claus
findet sich im Anhang ein Verzeichnis, das auf Leggewie für die in jeder Hinsicht außergewöhn-
weitere Ressourcen zum Thema verweist. lich erfreulichen Arbeitsbedingungen.
Wir danken herzlich Ute Hechtfischer und
Franziska Remeika vom Verlag J. B. Metzler für Essen/Stuttgart, Dezember 2009
die gute Zusammenarbeit und das äußerst genaue
Lektorat, sowie all denjenigen, die Texte schrie- Christian Gudehus, Ariane Eichenberg,
ben, recherchierten und übersetzten. Stellvertre- Harald Welzer
1
Erinnerung und Gedächtnis.
Desiderate und Perspektiven
Die Erinnerungs- und Gedächtnisforschung hat rung der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung
über die letzten drei Jahrzehnte eine beispiellose als ›normal science‹ an. Dazu gehört selbstver-
Konjunktur erlebt, wobei besonders bemerkens- ständlich auch die Publikation eines Handbuchs,
wert ist, dass dieser Befund für beide Kulturen das den Stand der Dinge zu repräsentieren und
der Scientific Community gilt: Sowohl die kultur- zusammenzufassen sucht. Die hier versammelten
wie die naturwissenschaftliche Gedächtnisfor- Beiträge stehen für den aktuellen Stand der The-
schung verzeichnet in diesem Zeitraum rasante oriebildung und der Forschung vor allem in der
Fortschritte; in den Kultur-, Sozial- und Geistes- kulturwissenschaftlichen Erinnerungs- und Ge-
wissenschaften stehen vor allem die Gedächtnis- dächtnisforschung. Jedoch bleiben gerade in der
praktiken im Zentrum empirischer Untersuchun- Zusammenschau noch einige Fragen offen, die
gen und theoretischer Konzeptualisierungen und im Folgenden vor allem im Hinblick darauf dis-
in den Neurowissenschaften die Gedächtnisfunk- kutiert werden sollen, welche weiteren Entwick-
tionen und ihre neuronalen und hirnanatomi- lungs- und Forschungsperspektiven sich der Er-
schen Korrelate. In Untersuchungen zur Onto- innerungs- und Gedächtnisforschung in Zukunft
genese des menschlichen Gedächtnisses sind eröffnen (sollten).
Perspektiven und Methoden aus beiden Wissen- In der kulturwissenschaftlichen Gedächtnis-
schaftskulturen zusammengeführt worden. Ge- forschung ist inzwischen, besonders durch die
dächtnis und Erinnerung sind transdisziplinäre Arbeiten von Jan und Aleida Assmann, ein be-
Forschungsgegenstände par excellence, finden friedigender Zustand in systematischer und be-
doch alle hirnorganisch angelegten Entwick- grifflicher Hinsicht erreicht; insbesondere die
lungsschritte der humanspezifischen Formen des Differenzierung von kulturellem und kommu-
Gedächtnisses unter kulturellen Formatierungen nikativem Gedächtnis hat sich sowohl unter
statt. Dieser zentrale Befund hat nicht nur zu ei- theoretischen wie unter forschungspraktischen
ner Fülle interdisziplinärer Forschungsprojekte Gesichtspunkten als ausgesprochen hilfreich er-
(etwa ›Strukturen der Erinnerung‹ an der Ruhr- wiesen (s. Kap. II.2, II.3). Innerhalb der Subdiffe-
Universität Bochum; ›Das soziale Gehirn‹ an der renzierungen – also etwa hinsichtlich eines ›sozi-
Universität Heidelberg) geführt, sondern auch zu alen‹, ›familialen‹, ›Alltags-Gedächtnisses‹ oder
der Etablierung einer in vielen Teilbereichen sich in Bezug auf Formen von Gedächtnis, wie sie in
mit der Gedächtnisforschung überlappenden ›so- Routinen und im Habitus wirksam sind, besteht
cial neuroscience‹. Ein weiterer prosperierender auch in der Gegenwart noch einiger Klärungsbe-
Bereich liegt im Bereich der alterspezifischen Ge- darf. Dasselbe gilt für den Umstand, dass das
dächtnisforschung und hier insbesondere im Zu- menschliche Gedächtnis in erheblichem Ausmaß
sammenhang mit Demenzerkrankungen (s. Kap. nicht innerhalb des individuellen Gehirns orga-
I.4). Das Erscheinen von anerkannten Zeitschrif- nisiert ist, sondern außerhalb. Das individuelle
ten (Memory bzw. Memory Studies in allgemeiner Gedächtnis ist in vielerlei Hinsicht nicht ein Spei-
Perspektive sowie ein Fülle spezialistischer Jour- cherorgan, sondern ein Interface von Erinnerun-
nals vor allem aus dem medizinischen Bereich) gen, ein Umstand, der für künftige Forschungen
sowie von einschlägigen Buchreihen (wie der von sicher von erheblicher Tragweite ist. Unter empi-
Erll/Nünning herausgegebenen Reihe ›Media and rischen Gesichtspunkten ist gewiss auch von Be-
Cultural Memory‹) zeigt – folgt man dem klassi- deutung, dass die Forschung zur Rezeption erin-
schen Modell von Thomas S. Kuhn – die Etablie- nerungskultureller Angebote einstweilen defizi-
2 Erinnerung und Gedächtnis. Desiderate und Perspektiven
tär ist. Das gilt auch für komparative Forschungen episodische, das spezifische Ereignisse behält und
zu Erinnerungskulturen und spezifischen Erin- schließlich das autobiographische, das einen
nerungsphänomenen. Ein eklatant vernachläs- Raum-Zeit-Bezug, ein entwickeltes Selbstkon-
sigter Aspekt von Erinnerung und Gedächtnis ist zept und eine emotionale Codierung voraussetzt
generell deren prospektive Seite: der epistemische (s. Kap. I.1, II.1). Andere Lebewesen und selbst
Bezugspunkt allen Erinnerns ist die Zukunft; die nicht-menschliche Primaten erreichen offenbar
evolutionäre Funktion des Gedächtnisses ist nur die semantische Ebene, und da es manchmal
Überlebenssicherung in sich verändernden Um- unklar ist, ob sie nicht doch mehr erinnern,
welten. Daher ist die Kategorie ›Vergangenheit‹ spricht die Forschung hier etwas hilflos von ›epi-
für die Theorie und Empirie von Erinnerung und sodic-like memory‹.
Gedächtnis in Zukunft vielleicht weniger wichtig Autobiographisches Gedächtnis entwickelt
als die Kategorie ›Zukunft‹. Damit wird die fol- sich etwa mit dem dritten Lebensjahr eines Kin-
gende Übersicht schließen. des, und es dauert bis zum Ende der Adoleszenz,
bis es sich vollständig entfaltet – was man unter
anderem daran ablesen kann, dass Menschen erst
Engramme und Exogramme
zu diesem Zeitpunkt eine Lebensgeschichte er-
Zunächst: Alle Lebewesen haben ein Gedächtnis; zählen können, die den sozialen Anforderungen
einer der berühmtesten Gedächtnisforscher, der an diesen Typ von Geschichte entspricht und
mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Biologe Eric durch ein hinreichendes Maß an Linearität und
Kandel, hat die grundlegenden Zusammenhänge Kohärenz zusammengehalten wird. Das verweist
der neuronalen Bedingungen des Gedächtnisses schon auf den eminent sozialen und kulturellen
an einer Meeresschnecke untersucht und zeigen Charakter des autobiographischen Gedächtnis-
können, dass auch bei diesem mit einem extrem systems. Wie es phylogenetisch zum Entstehen
einfachen neuronalen System ausgestatteten Tier dieses Gedächtnissystems gekommen ist, ist un-
Umwelterfahrungen in seine synaptische Ver- geklärt, aber die Fähigkeit, sich bewusst und
schaltungsarchitektur übersetzt werden. Ge- selbstbezogen, autonoetisch, erinnern zu kön-
dächtnis ist auf dieser Ebene nichts anderes als nen, ist Ergebnis einer komplexen phylo- und on-
die Integration eines erfahrenen Reizes in die Or- togenetischen Entwicklung und ein humanspezi-
ganisationsstruktur des neuronalen Apparates, fisches Vermögen.
um, einfach gesagt, etwas in einer Vergangenheit Die Verfügung über ein autobiographisches
Erlerntes in einer jeweiligen Gegenwart für künf- Gedächtnissystem schafft die Möglichkeit, die ei-
tiges Überleben anwenden zu können. Ein sol- gene Existenz in einem Raum-Zeit-Kontinuum
ches System ist notwendig, damit Organismen in zu situieren und auf eine Vergangenheit zurück-
dynamischen Umwelten überleben können. blicken zu können, die der Gegenwart vorausge-
Die meisten Tiere verfügen, wie übrigens Säug- gangen ist. Ganz offensichtlich dient das kom-
linge auch, lediglich über ein Erfahrungsgedächt- plexe Vermögen, ›mentale Zeitreisen‹ – wie En-
nis, das ihnen über die Lerntechniken der Habi- del Tulving dieses Phänomen nannte – vornehmen
tuation und Sensitivierung eine sich selbst opti- zu können, dem Zweck, Orientierungen für zu-
mierende Anpassung an die Bedingungen jener künftiges Handeln zu ermöglichen. Erlerntes und
Umwelten ermöglicht, in denen sie existieren. Sie Erfahrenes kann auf diese Weise für die Gestal-
leben in einer unablässigen Gegenwart; ihre Ge- tung und Planung von Zukünftigem genutzt wer-
dächtnissysteme – das prozedurale, perzeptuelle den.
und das Priming-Gedächtnis – sind implizit oder Autobiographische Erinnerungen sind ›auto-
non-deklarativ; ihr Funktionieren setzt keinerlei noetisch‹, das heißt, Menschen erinnern sich
Bewusstsein voraus. Bei Menschen entwickeln nicht nur, sondern können sich auch dessen be-
sich ontogenetisch bald weitere Gedächtnissys- wusst sein, dass sie sich erinnern. Dieses Vermö-
teme: das semantische, das Wissen speichert, das gen zur autonoetischen oder deklarativen Erin-