Table Of ContentSozial- Erst seit kurzem ist
Jacques Le Goff
auch im deutschsprachi-
geschicht-
liche Für ein gen Raum das Mittelalter,
seine Geschichte, Gesell-
Bibliothek im schaft und Kultur, wieder
Drumlin anderes ein Thema. In Frankreich
allerdings steht das Mittel-
Verlag.
alter wie sonst nur wenige
Mittelalter Epochen schon seit Jahr-
zehnten im Zentrum des
Herausge-
fachlichen und öffentli-
geben
chen historischen Interes-
Zeit, Arbeit und
von Dieter ses. Jacques Le Goff ge-
hört neben Georges Duby
und Ruth
Kultur im Europa zu den bekanntesten und
Groh.
kompetentesten Mediävi-
sten der neueren franzö-
des 5.-15.
sischen Geschichts-
schreibung,der »Nouvel-
Jahrhunderts le Histoire« – In der Auf-
satzsammlung »Für ein
anderes Mittelalter«, die
bereits im Titel program-
matisch für ein neues,
umfassendes Mittelalter-
bild plädiert, behandelt Le
Goff die ganze Epoche
vom 5. bis zum 15. Jahr-
hundert und gruppiert
eine Vielzahl von Aspek-
ten und Themen um die
zentralen Begriffe Zeit,
Arbeit und Kultur: Die Ar-
beitszeit in der Krise des
14. Jahrhunderts. Zur
Dreigliedrigkeit der Ge-
sellschaft, zur Begrün-
dung des monarchischen
Gedankens und zum wirt-
schaftlichen Aufschwung
in der Christenheit des 9.
bis 12. Jahrhunderts. Ar-
beit, Techniken und
Handwerker. Zum Selbst-
verständnis der Universi-
tät. Universität, Staat und
Verwaltung im Mittelalter
und in der Renaissance.
Kirchliche Kultur und
Volksüberlieferungen.
Der Traum in der Kultur
und in der Kollektivpsy-
chologie. Melusine –
Mutter und Urbarmache-
rin. Geschichtswissen-
schaft und Erforschung
des Alltags.
Sozial-
Jacques Le Goff
geschicht-
liche Für ein
Bibliothek im
Drumlin anderes
Verlag.
Mittelalter
Herausge-
geben
Zeit, Arbeit und
von Dieter
und Ruth
Kultur im Europa
Groh.
des 5.-15.
Jahrhunderts
Drumlin
Ausgewählt von Dieter Groh
Eingeleitet von Juliane Kümmell
Aus dem Französischen übersetzt von
Juliane Kümmell (Vorwort, Kap. I, III) und
Angelika Hildebrandt-Essig (Kap. II und IV-IX)
CIP-Kurztitelaufnähme der Deutschen Bibliothek:
LeGoff, Jacques
Für ein anderes Mittelalter: Zeit, Arbeit u.
Kultur im Europa d. 5.-15. Jh. / Jacques Le Goff.
Ausgew. von Dieter Groh. Eingeleitet von Juliane
Kümmell. [Übers, von Juliane Kümmell u.
Angelika Hildebrandt-Essig]. – Weingarten:
Drumlin Verlag, 1987.
(Sozialgeschichtliche Bibliothek)
Einheitssacht.: Pour un autre Moyen Age <dt.>
ISBN 3-924027-51-X
© dieser Ausgabe: Drumlin Verlag GmbH, Weingarten, 1987
Alle Rechte vorbehalten
Mit freundlicher Genehmigung
des Verlags Ullstein GmbH
© Verlag Ullstein GmbH 1984
Französischer Originaltitel:
Pour un autre Moyen Age
© Editions Gallimard, Paris 1977
Umschlaggestaltung: Reinhard Binder, Berlin
Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten
Printed in Germany
Inhalt
Einleitung von Juliane Kümmell 7
Zur zweiten Auflage 18
Vorwort von Jacques Le Goff 19
Anmerkungen 27
I.
Die Arbeitszeit in der »Krise« des 14. Jahrhunderts 29
Anmerkungen 39
II.
Zur Dreigliedrigkeit der Gesellschaft, zur Begründung des
monarchischen Gedankens und zum wirtschaftlichen Aufschwung in
der Christenheit des 9. bis 12. Jahrhunderts 43
Anmerkungen 49
III.
Arbeit, Techniken und Handwerker in den Wertsystemen des
Frühmittelalters (5.-10. Jahrhundert) 56
Einleitende Bemerkungen 56
1. Die Zweideutigkeit der Überlieferungen 58
2. Das Verschwinden von Arbeit und Arbeitern aus Gesellschaft,
Mentalität und Ideologie des Frühmittelalters
(5.-8. Jahrhundert) 64
3. Erhaltene Teilbereiche und neue Strukturen, die eine
Wiederaufwertung von Arbeit begünstigen 66
4. Die Karolingische Renaissance der Arbeit 70
Schluß 74
Anmerkungen 74
IV.
Zum Selbstverständnis der Universität des Mittelalters 77
Anmerkungen 91
V.
Universität, Staat und Verwaltung im Mittelalter und in der
Renaissance 97
A. Allgemeine Betrachtungen 97
B. Universitäten und Staatsmacht im Mittelalter (12. bis Mitte
15. Jahrhundert) 102
C. Grundzüge der Entwicklung des Verhältnisses zwischen
Universität und politischer Macht in der Renaissance (Mitte
15.-16. Jahrhundert) 112
Schlußbemerkung 115
Ausgewählte Bibliographie 115
VI.
Kirchliche Kultur und Volksüberlieferungen in der Zivilisation der
Merowinger 121
Anmerkungen und ausgewählte Bibliographie 127
VII.
Der Traum in der Kultur und in der Kollektivpsychologie des
Mittelalters 137
Anmerkungen 141
VIII.
Melusine — Mutter und Urbarmacherin 147
Anmerkungen 168
IX.
Geschichtswissenschaft und Erforschung des Alltags 175
Ausgewählte Bibliographie Jacques Le Goffs 190
Nachweis der Erstdruckorte 191
Einleitung von Juliane Kümmell*
Pour un autre Moyen Age – Für ein anderes Mittelalter, dieser Titel
veranschaulicht nicht nur ein Programm, er verweist auch auf die
unterschiedliche Diskussionslage in der derzeitigen französischen und
deutschen Mediävistik und auf die Probleme ihrer Vermittlung, die
nicht nur in der Sprache, sondern auch im Inhalt begründet liegen.
Indirekt ist damit die erstaunliche Tatsache berührt, daß die
neueren Arbeiten der französischen Mittelalterforschung im eigenen
Land Triumphe feiern und im Zentrum eines Interesses stehen, das
weit über die Fachwelt hinaus ein breites Laienpublikum ergriffen hat,
während diese Arbeiten meist nicht einmal in deutscher Übersetzung
vorliegen. Die wenigen Untersuchungen, die rechts des Rheins z. T.
erst Jahrzehnte später rezipiert werden, finden sich in der engeren
Fachwelt häufig mit Schweigen übergangen, teils als unsachlich,
bisweilen sogar als »ideologisch gefärbt« abgetan, meist jedoch gar
nicht zur Kenntnis genommen. Sie bilden vorzugsweise Lesestoff für
Neuzeithistoriker oder dienen neugierigen Einzelgängern zur Anre-
gung. Kurz, der Titel veranschaulicht bereits, daß eine Einleitung zu
der vorliegenden Aufsatzsammlung sinnvoll, wenn nicht gar notwen-
dig ist.
Ein »anderes« Mittelalter – diese Wendung hat im Deutschen
keinen fest umrissenen Sinn. Welches Mittelalter sollte das sein? Das
Laienpublikum hat, wenn man von einigen Inseln der Landesge-
schichte und von verschiedenen spektakulären Ausstellungen absieht,
überhaupt kein Mittelalter. Es wurde vor 50 Jahren verschlissen und
bisher kein rechter Neuanfang, keine Wiederherstellung gewagt,
wenn man einmal von einzelnen Arbeiten, wie z. B. Arno Borsts
Lebensformen im Mittelalter absieht. Die Fachwelt scheint mit ihrem
Mittelalter weitgehend zufrieden und bedarf keines »anderen«.
Nicht so in Frankreich, hier steht das Mittelalter wie nur wenige
Epochen, z. B. die der Französischen Revolution, im Zentrum
fachlichen und öffentlichen Interesses. »Anders« wurde es im Grunde
bereits 1947, als die von Lucien Febvre und Marc Bloch Ende der
zwanziger Jahre in Straßburg begründete Gruppe um die Annales eine
* An dieser Stelle möchte ich herzlich danken: Jean-Claude Schmitt für Auskünfte und
umfangreiche bibliographische Hinweise, den Teilnehmern an meiner Lehrveranstaltung
zur Mentalitätsgeschichte im Sommersemester 1983 für ihre konstruktive Diskussion,
Dieter Groh für Anregungen und Kritik, Jacques Le Goff schließlich für alles, was ich
während zweier Pariser Jahre bei ihm habe lernen dürfen.
7
Einleitung
feste Position in Paris erobern konnte, nachdem sich die vorher
tonangebende, verfassungsgeschichtlich orientierte Richtung durch
Kollaboration mit der Vichy-Regierung unmöglich gemacht hatte.
Hinfort traten sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Themen, Mentali-
tätsgeschichte und Regionalstudien in den Vordergrund. Die Diskus-
sion ging weiter. Der Rahmen, den Marc Bloch mit seinem 1939/40
erschienenen Buch La société féodale (deutsch bei Ullstein 1982: Die
Feudalgesellschaft) für die Mediävisten abgesteckt hatte, wurde durch
eine Explosion der zur Erforschung anstehenden Themen und durch
eine breit angelegte Methodendiskussion gesprengt, wenn auch nicht
verlassen. In den siebziger Jahren – oder sollte man lieber sagen »nach
'68«? – artikulierte sich die Richtung der »Nouvelle Histoire«. Das
»andere« Mittelalter sollte auch ein »neues« sein.
Jacques Le Goff ist einer derjenigen Historiker, die sich in der
Diskussion um die »Nouvelle Histoire« besonders engagiert haben.
Unter seiner und Pierre Noras Leitung entstanden die 1974 erschiene-
nen drei Bände Faire de l'histoire, Geschichte machen, ein Titel, der im
Französischen nicht so sehr auf große Taten historischer Persönlich-
keiten als vielmehr auf die konstruktive, handwerkliche Komponente
der Geschichtsforschung und -Schreibung hinweist. Die drei Bände
tragen die Untertitel »Neue Probleme«, »Neue Gegenstände«, »Neue
Vorgehensweisen« und umfassen eine Reihe von Aufsätzen, die von
Historikern der verschiedensten Sparten, aber auch von Vertretern
der Nachbardisziplinen wie Ethnologen, Volkskundlern und Soziolo-
gen stammen und die unterschiedlichsten Themen wie z. B. Feste oder
Schriftlichkeit von z. T. ganz neuen Seiten her angehen. Eines ist
ihnen jedoch gemeinsam, die Bereitschaft nämlich, sich mit den
Fragen auseinanderzusetzen, die eine global verstandene Sozialge-
schichte mit sich bringt, welche die Menschen zugleich in ihren
gesellschaftlichen Zusammenhängen und in ihrer Individualität, in
ihren materiellen Lebensbedingungen und ideellen Welten sowie im
historischen Prozeß zeigen will. Gemeinsam ist diesen Aufsätzen
darüber hinaus, daß die Autoren den Mut haben, Stellung zu nehmen
inmitten einer Diskussion, in der es noch keine sicheren oder gar
abschließenden Ergebnisse gibt. Jacques Le Goffs eigener Beitrag
L'Histoire des mentalités – une histoire ambiguë (Mentalitätsgeschichte –
eine zweideutige Geschichte) veranschaulicht dies besonders gut.
1978 erschien dann unter der Leitung Jacques Le Goffs und Maurice
Aymards das Nachschlagewerk La Nouvelle Histoire, das auf den
interessierten Laien zielt und die großen Themenbereiche noch
einmal übersichtlich zusammenfaßt und erläutert. Die äußere Ähn-
8
Einleitung
lichkeit mit den großen Lexikon-Bibeln von Larousse und Robert
dürfte dabei nicht ganz zufällig sein.
Bei alledem ist Jacques Le Goff alles andere als ein Theoretiker.
Was ihn am Mittelalter interessiert und warum, wie er dazu kam, sich
mit Mediävistik zu beschäftigen und welche Themenbereiche ihm am
meisten am Herzen liegen, faßt er im Vorwort zu der vorliegenden
Aufsatzsammlung so prägnant zusammen, daß es hier nicht wieder-
holt werden soll. Indessen veranschaulichen seine Arbeiten die Um-
setzung und Entwicklung eines Konzepts und gehören darüber hinaus
zu den interessantesten, wenn nicht schönsten Beiträgen zur Mittelal-
terforschung der letzten Jahrzehnte. Deshalb sollen die wichtigsten
Untersuchungen im folgenden kurz vorgestellt werden.
Les intellectuels au Moyen Age (Die Universitätsleute im Mittelalter)
erschien 1957 und geht auf Jacques Le Goffs »Thèse« an der »Ecole
Pratique des Hautes Etudes« zurück, mit der er seinen glänzenden
Einstand gab. Er zeigt darin, wie sich im 12. und 13. Jahrhundert
aufgrund bestimmter wirtschaftlicher, sozialer und geistiger Gegeben-
heiten die Universitäten mit ihren Gelehrten und Studenten zu
eigenständigen Körperschaften herausbilden. Es ist das erste Mal in de ~
europäischen Geschichte, daß Wissen nicht allein ein Kriterium für
Hierarchie ist, sondern auch als wichtiges Gut gehandelt wird und so
zum Erwerb des Lebensunterhalts einer ganzen Gruppe dienen kann.
In dieser Arbeit taucht eine Fragestellung zum ersten Mal auf, die in
den folgenden Untersuchungen immer stärker in den Mittelpunkt
rücken und immer differenzierter formuliert werden soll: die Frage
nach den Beziehungen zwischen materieller Welt und geistigen Ent-
wicklungen. Dabei wird die Antwort jenseits eines marxistischen
Basis-Überbau-Schemas und jenseits einer rigiden, an immanenter
Tradierung orientierten Geistesgeschichte gesucht. Für die Universi-
täten lassen sich die Erklärungen im sozio-kulturellen Bereich finden.
Le Goffs nächstes größeres Buch, das 1964 erschienene La civilisa-
tion de l'Occident médiéval (Kultur des mittelalterlichen Abendlands)
fragt weiter in dieser Richtung. Wie die 1972 erschienene, überarbei-
tete Neuauflage besonders deutlich macht, geht es hier nicht so sehr
um »Kultur« im eher abgehobenen Sinne des deutschen Wortes,
sondern eben um »Zivilisation«, um das direkte Zusammenwirken
von materieller Welt und geistiger Welt und um das Ergebnis dieses
Zusammenwirkens: um Raum-Zeit-Strukturen, um christliche Ge-
sellschaft, um Einstellungen, Wahrnehmungen und – Mentalitäten.
Das Wort »Mentalität« wird im Deutschen leicht dazu verwendet,
Klischés und Projektionen zu bemänteln. Doch bezeichnen »mentali-
9
Einleitung
tés«, fast immer im Plural verwendet, und »mental« im Französischen
gerade nicht durch anthropologische Konstanten bedingte Charakter-
züge von Individuen oder Völkern, sondern die geistige Welt sozialer
Gruppen in ihrer permanenten Wechselbeziehung zur materiellen
Welt, d. h. zum konkreten Leben. Doch wandeln sich die Mentalitä-
ten in ihren einzelnen Strukturen wesentlich langsamer als die mate-
rielle Welt, jedoch genauso unaufhaltsam. Da das Wort »Kultur«
diesem Sachverhalt nur geringfügig nahekommt und »geistig« fast
eher im Widerspruch dazu steht, scheint es sinnvoll, bei sozialge-
schichtlichem Kontext auch im Deutschen von »Mentalitäten« und
»mental« zu sprechen, im weiten, oben dargestellten Sinne.
Die in diesem Band – als Auswahl aus dem französischen Original –
abgedruckten Aufsätze sind in den Jahren 1960-77 entstanden. Sie
kreisen, wenn auch mit den unterschiedlichsten Schwerpunkten,
direkt oder indirekt um die Frage nach den Mentalitäten mittelalterli-
cher Gesellschaften. Dabei geht es um das methodologische Problem,
wie sie erforschbar werden können, obwohl sie so schwer zu fassen
sind, aber auch um ihre konkrete Ausprägung und Entwicklung in der
Zeit von 500-1500. Im Verlauf der Untersuchungen erfahren wir,
meist als Nebenprodukt, einiges über die Mentalitäten von Ge-
schichtswissenschaftlern aus der Neuzeit und von den Gesellschaften,
die sie hervorbrachten. Es deuten sich sogar in Umrissen die Mentali-
täten zeitgenössischer Historiker an. Allerdings wird diese Frage nicht
explizit formuliert, ja es scheint, als ob sie scheu gemieden würde.
Das Ergebnis dieser vielseitigen Reflexionen geht zusammen mit
den Früchten der methodologischen Diskussion um die »Nouvelle
Histoire« in die neuesten Arbeiten Jacques Le Goffs ein. Zu erwähnen
ist La ville médiévale (Die mittelalterliche Stadt), der 1980 erschienene
zweite Band der von Georges Duby herausgegebenen Reihe Histoire
de la France urbaine (Geschichte des städtischen Frankreichs). Le Goff
hat diesen Band bearbeitet und den Hochmittelalter-Teil selbst ver-
faßt. Hier vermittelt er die Aspekte mittelalterlichen städtischen
Lebens in Form einer umfassenden Sozialgeschichte. D. h., es werden
die Bereiche von Wirtschaft und Mentalitäten, aber auch von Politik,
Recht, Kirche und Kultur in Hinblick auf städtische Gesellschaften
und ihre Lebensformen dargestellt.
An diesem Buch zeigen sich besonders überzeugend Charakteristi-
ka, die Le Goffs Arbeiten mit denjenigen einer größeren Gruppe
seiner französischen Kollegen gemeinsam haben und die vielleicht für
weite Bereiche der deutschsprachigen Mittelalterforschung noch An-
regungen bieten könnten: Zum einen ist die Breite der berücksichtig-
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