Table Of ContentAngelika Diezinger
Frauen: Arbeit und Individualisierung
Angelika Diezinger
Frauen: Arbeit und
Individualisierung
Chancen und Risiken
Eine empirische Untersuchung
anhand von Fallgeschichten
+
Leske Budrich, Opladen 1991
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
ISBN 978-3-8100-0873-2 ISBN 978-3-322-95928-7 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-322-95928-7
© 1991 by Leske + Budrich, Opladen
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Inhalt
Einleitung 11
A. Theoretischer Ausgangspunkt:
Was heiRt Individualisierung von Frauen? 15
I. Individualisierung als Erklarungsansatz fUr
Veranderungen in den Lebenssituationen von Frauen 15
1. Perspektiven auf die Lebenssituationen von Frauen 15
2. Individualisierung: eine neue Form der Vergesellschaftung? 18
2.1 Individualisierung zwischen neuen Freiraumen und
Anpassungszwang 19
2.2 Arbeitsmarkt-Individualisierung: soziale Lage und Ressourcen 20
2.3 Individualisierung: Gestaltungsspielraum und
Entscheidungszwang 22
3. 1m Sog der Arbeitsmarkt-Individualisierung: die Frauen 24
3.1 Frauen: Nachziiglerinnen im IndividualisierungsprozeB? 24
3.2 Individualisierung in sozialen Beziehungen 27
3.3 Von der kontrollierten Individualisierung zu einer neuen
Form von Individualisierung? 30
II. Struktur und soziale Bestimmungen des
Geschlechterverhaltnisses 33
1. Geschlechterverhaltnis: Geschlechtsspezifische Arbeits-
teilung und Geschlechterhierarchie 34
1.1 Historische Auspragung des GeschlechterverhiiItnisses:
"doppelte" Vergesellschaftung der Frauen 35
1.2 Der Lebenszusammenhang von Frauen: Widerspriichliche
Komplementaritat von Erwerbsbereich und Familie 37
5
2. Dimensionen des sozialen Geschlechts 38
2.1 Erweiterung des "reproduktionsbezogenen Arbeitsvermogens" 40
2.2 Von der "DoppelroUe" zur doppelten Orientierung von Frauen 41
2.3 Abschwachung der Geschlechterpolaritat 42
3. Veranderungen im GeschlechterverhaItnis 43
III. Veranderungen des gesellschaftlichen Handlungsfeldes
von Frauen 46
1. Veranderungen im Erwerbsverhalten und der Struktur der
Erwerbstatigkeit von Frauen 46
1.1 Von der Arbeit fUr die Familie zur Arbeit fUr das eigene Leben 46
1.2 Erwerbsarbeit, gesellschaftliche Normen und Interessen von
Frauen 48
1.3 Die Kluft zwischen beruflichen Interessen der Frauen und
Realisierungsmoglichkeiten 51
1.4 Risikoreiche Erweiterung der Spielraume 53
2. Veranderungen der privaten Lebensformen 56
2.1 Von der "Institution" Familie zur Vielfalt der
Beziehungsformen 56
2.2 Nicht-eheliche Lebensgemeinschaften:
Neue Lebensform oder Test fiir das alte Ehemodell? 58
2.3 Die junge alleinlebende Frau: Ausbruch aus der
Abhangigkeit oder Anpassung an den Arbeitsmarkt? 60
2.4 Von der sozialen Mutterschaft zur sozialen Eltemschaft? 62
2.4.1 Die Ehe: Preis fiir den Kinderwunsch? 63
2.4.2 Alleinerziehende Mutter: ein hoher Preis fiir Autonomie? 67
3. Zwischen groBerem Bewegungsspielraum und stlirkerem
Anpassungsdruck 69
6
B. Zur Anlage und Methode der empirischen
Untersuchung 73
1. Auswahl und Zusammensetzung des Samples 73
2. Qualitative Erhebung 74
2.1 Zur Struktur des Leitfadens 75
2.2 Zur Durchftihrung der Interviews 76
3. Qualitative Auswertung 76
4. Zur Angemessenheit und Giiltigkeit der Interpretation 79
5. Zur Darstellung der Ergebnisse 79
C. Gesellschaftliche Anforderung und individuelle
Auseinandersetzung -Individualisierung zwischen
Anpassung, Abwehr und Veranderung 81
I. Formen der Arbeitsmarkt-Individualisierung von Frauen 83
1. Die alleinstehenden Frauen 83
1.1 Anpassung an das Muster der Arbeitsmarkt-Individualisierung:
Subjektive Anstrengungen und objektive Grenzen 84
1.2 Widerspruch zwischen Erwerbsorientierung und befristeten
beruflichen Chancen 87
1.3 Privater Lebensbereich: Konflikt zwischen Nahe und Distanz 88
1.4 Autonomie oder Bindung -die falsche Alternative 90
2. Erzwungene Arbeitsmarkt-Individualisierung:
Alleinerziehende Mutter 93
2.1 Mutterschaft: Chance und Zwang zur Selbstbehauptung 93
2.2 Erwerbstlitigkeit als alleinerziehende Mutter: familialer
Instrumentalismus oder individuelle Berufsorientierung? 95
2.3 Definition der Mutterrolle: Spielraume oder Anpassungsdruck? 97
2.4 Vertrauen in die eigene Kraft -Unsicherheit der
Beziehungswunsche 99
2.5 Erzwungene Individualisierung: Selbstbehauptung urn den
Preis der Selbstbeschrlinkung 100
7
II. Die Ehe: Kontrollierte Individualisierung oder Abwehr
von Arbeitsmarkt-Individualisierung 102
1. Kontrollierte Individualisierung: Schwierige Balance
zwischen Beruf und Bindung 104
1.1 Individuelles Gliick im Privaten: Perspektive auf Zeit
oder auf Dauer? 104
1.1.1 Beruf: Individuelle Perspektive auf Zeit 105
1.1.2 Gefiihlsbindung im herrschenden Geschlechterverhaltnis:
Zwischen Fiirsorge und Bevormundung 106
1.1.3 Reibungspunkte: Individuelle Rechte und Familienideal 108
1.2 Ehe a1s Verlust von Autonomie 111
1.2.1 Beruf: Medium der Verselbstandigung 111
1.2.2 Fehlende Gemeinsamkeit im "harmonischen"
Ungleichgewicht: Verlust von Autonomie 112
1.2.3 Die Bedeutung des Berufs fUr die Wiederentdeckung der
eigenen Interessen 114
1.2.4 Veranderung der Wahmehmung -Veranderung der
Lebenssituation? 115
1.3 Kontrollierte Individualisierung als Statussicherung 116
1.3.1 Heirat als traditionelle Ablosung yom Eltemhaus 117
1.3.2 Ehe a1s Fundament des aktuellen Lebenszusammenhangs 118
1.3.3 Berufstatigkeit in der Ehe: zwischen Statussicherung
und "Eigenprojekt" 119
1.3.4 Gebremste Indi vidua1isierung 121
1.4 Kontrollierte Individualisierung: Reichweite und Grenzen 122
2. Defensive Abwehr von Arbeitsmarkt-Individualisierung:
Ehe und Familie als Ausweg und als Fa11e 122
2.1 Gescheiterte berufliche Integration: Abschied von
individuellen Lebensperspektiven 123
2.2 Berufliches Scheitem: Verlust von Selbstwertgefiihl und
der Rechtfertigung individueller Anspriiche 124
2.3 Die Sogwirkung des traditionellen Ehemodells 126
2.4 Die Ehe retten oder die Ehe aufgeben? 126
8
2.5 Veranderung der Lebenssituation ohne Vedlnderung der
Lebenskonzeption 129
2.6 Restauration traditionaler Lebensformen im Sog der
Individualisierung 130
III. Individualisierung jenseits des Arbeitsmarktes 132
1. Abwehr der Auseinandersetzung mit Arbeitsmarkt-
Individualisierung: Familie als Schonraum 132
2. Die Enge der Nische: Krise der Identitat 134
3. Der Grundkonflikt der Individualisierung in Bindungen:
Sorge ftir mich und Sorge flir andere 135
4. Die Umgestaltung der Nische: Widerspriiche familialer
Abhangigkeit 137
5. Risiken und Grenzen der Individualisierung jenseits
des Arbeitsmarktes 139
IV. Individualisierung als gesellschaftliche Anforderung
und Chance zur Selbstverwirklichung 141
1. Die personlichen Ressourcen: Entwicklungsmotivation und
Eigenverantwortlichkeit 142
2. Beruf: Lemort fiir die individuelle Entwicklung 142
3. Personliche Beziehungen: Basis individueller Entwicklung 144
4. Individuelle Konzepte von Beruf und Beziehung:
Moglichkeiten und Grenzen 146
5. Gratwanderungen zwischen individuellen Ansprtichen und
gesellschaftlichen Z wangen 148
v.
Zusammenfassung 152
Anmerkungen 159
Literatur 173
9
Einleitung
Der Ausgangspunkt meiner Fragestellung sind empirische Ergebnisse aus ei
ner Studie tiber Entwicklungsprozesse erwerbsloser weiblicher Jugendlieher
mit Hauptschulbildung (Diezinger u.a. 1983). Sie zeigten als Erwerbslose
eine starke berufliche Orientierung, die durch okonomische Notwendigkeit
begrtindet, aber auch durch einen deutlichen Bezug auf individuelle, inhaltli
che Interessen an fachlichen und sozialen Kompetenzen und an einem eigen
standigen Lebensstil gekennzeiehnet war. In der antizipatorischen Auseinan
dersetzung mit der privaten Lebensgestaltung unabhangig von den Eltem
tiberwog fiir die nachste Zukunft der Wunsch nach "individueller Entwick
lung" und "individuellem Lebensstil". Das schloB Beziehungen mit Mannem
keineswegs aus, sondem bedeutete einen groBeren Anspruch der Madchen
auf Selbstandigkeit und individuelle Anerkennung in einer Beziehung
(Diezinger 1983).
Diese Ergebnisse: die Betonung beruflicher Erfahrungen als wichtigen
Teil der personlichen Entwicklung und der materiellen Existenzsicherung,
der Wunsch nach Anerkennung ihrer individuellen Interessen in Beziehungen
und die Vorstellung, die eigene Zukunft nieht ausschlieBlich im Rahmen von
"Familie" zu entwerfen, wurden durch Ergebnisse repriisentativer Studien ge
stiitzt (Brigitte/DlI 1982; Jugendwerk d. Deutschen Shell 1981). Wir inter
pretierten sie als Zeichen daftir, daB sieh gesellschaftliehe Individualisie
rungsprozesse, d.h. die partielle Entkoppelung der individuellen Lebens
planung und -fUhrung von normativen Lebensmodellen und sozialen Lagen,
auch fiir Madchen durchsetzen, die nicht von der Bildungsexpansion profi
tiert hatten. Willlrend wir die These von der Individualisierung jugendlicher
(Fuchs 1983) bzw. weiblicher (Beck-Gemsheim 1983) Lebensentwiirfe so
weit durchaus teilten, waren wir in bezug auf die Interpretation dieses Sach
verhalts eher skeptischer. Angesichts der Marginalisierung, die durch Er
werbslosigkeit in Gang gesetzt wurde, konnten wir den betroffenen Madchen
trotz ihres neuen Anspruchsniveaus nur eine "Zukunft mit beschrankten
Moglichkeiten" bescheinigen. Sie wollten ihre beruflichen Aspirationen ver
wirklichen und teilhaben an der groBeren Vielfalt der Lebensformen im Pri
vatbereich. Aufgrund ihrer Herkunft und ihrer schulischen Qualifikation wa
ren ihre Chancen der Individualisierung bereits in der Jugend viel enger ver
bunden mit einer erfolgreichen Integration in den Erwerbsbereich, als etwa
die von Gymnasiastinnen. Doch gerade auf dem Arbeitsmarkt waren sie ge
zwungen, sich "nach unten" anzupassen oder Gelegenheiten beim Schopf zu
packen (Bilden/Diezinger 1984).
Die HerauslOsung aus einer fUr Frauen verbindlichen, urn die Familie zen
trierten "Normalbiographie" (Levy 1977) eroffnet durchaus neue Handlungs
chancen, in Selbstverantwortung das eigene Leben zu gestalten. Fiir diejeni
gen, die aufgrund ihrer Arbeitsmarkt-Position aber nieht tiber die ent
sprechenden materiellen und sozialen Ressourcen verftigen, urn diese Chan
cen auch nutzen zu konnen, wird Individualisierung zu einem hOchst wider-
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spiichlichen ProzeB: Je mehr gesellschaftlich vorgegebene "Lebensmuster"
verschwimmen, desto starker werden die Chance und die Notwendigkeit der
individuellen Konkretisierung und des to wichtiger die Verftigbarkeit tiber
materielle, soziale und personliche Ressourcen. FUr die erwerbslosen Mad
chen treten dann eher die Risiken einer ungesicherten Erwerbsposition in den
Vordergrund, als die neuen Freiraume im individuellen Lebensstil.
Es liegt nabe, diese jungen Frauen daher als Opfer gesellschaftlicher Ver
anderung zu sehen. Doch obwohl die befragten Madchen sich damals in
durchaus ahnlichen Lebenssituationen und -lagen befanden, ergab eine
zweite Befragung recht unterschiedliche Entwicklungsprozesse. Selbst unter
sehr restriktiven sozialen Bedingungen lassen sich demnach individuelle
Handlungsspielraume ausmachen. Allerdings zeigte sich wiederum deren
Abhangigkeit von bestimmten Herkunftsmilieus und dartiber vermiltellen
Sozialisationserfahrungen (Bilden u.a. 1981).
Mil einer emeuten, dritten Befragung der nunmehr jungen Erwachsenen
will ich analysieren, wie sie sich mil dieser widersprtiehlichen Erfahrung ei
ner groBeren Reichweite von Handlungsehancen auf gesamtgesellschaftlicher
Ebene und der beschrankten individuellen Realisierungsmogliehkeiten aus
einanderselzen, ob ihre Ansprtiche an ein "eigenes" und an ein "ganzheit
liches" Leben, in dem ihre beruflichen Interessen und privalen Bedtirfnisse
nach Zugehorigkeit und Bindung zu anderen Menschen gleichermaBen auf
gehoben sind, erhalten blieben und wirksam werden konnten.
Mit dieser dritten Befragung kann in einer Uingssehnillperspektive eine
Entwicklung tiber ca. neun Jahre hinweg (vom Eintritt in den Arbeitsmarkt
nach der Hauptsehule bis in die Mitte des dritten Lebensjahrzehnts) verfolgt
werden. Die Entscheidungsprozesse im beruflichen Bereich und im Privatle
ben stehen dabei in ihrer wechselseitigen Abhangigkeit und in ihren Auswir
kungen ~uf die Handlungsspielraume in der aktuellen Lebenssituation im
Mittelpunkt.
Die Frage, wie Menschen durch gesellschaftliche Strukturen und deren
Wandel betroffen und gepragt werden, ist die klassische soziologische Frage
stellung. In der Frauenforsehung, die diese Frage aus der Perspektive von
Frauen und mit dem Ziel der Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Lebens
situation stellt, herrschte zunachst die Perspektive vor, Frauen als "Opfer der
Verhaltnisse" zu sehen. Angesiehts der gesehlechtshierarchischen Gesell
sehaftsstrukturen war dies nabeliegend. Seit einigen Jahren wird jedoch eher
danach gefragt, wie Frauen sich als Handelnde in und gegentiber Strukturen
begreifen und verhalten, welche Bedeutung dies fUr die Aufrechterhaltung
und Veranderung dieser Strukturen hat. Hiermit wird die Lebenspraxis der
Frauen selbst relevant.
"Oberall, wo Frauen sind, bestimmen sie mit ihrer eigenen Selbstdefinition
und mit ihrem Verhalten im Vorgegebenen und zum Vorgegebenen, was sie
sind und als was sie gesehen werden, womit und als was sie prasent werden"
(Thiirmer-Rohr 1987: 151).
Die Frage, welche Veranderungsehancen im gesellschaftlichen Individu
alisierungsprozeB steeken, muB also sowohl dessen sozialstrukturelle Bedin-
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