Table Of ContentERGEBNISSE
DER INNEREN MEDIZIN
UND KINDERHEILKUNDE
HERAUSGEGEBEN VON
A. CZERNY . FR. MULLER· )1. v. PJ!'AUNDLER
A. SCHITTENHEI.lM
REDIGIERT VON
M. v. P}'AUNDLRR A. SCHITTENHELM
M(JNCHEN M(JNCHEN
EINUNDFUNFZIGSTER BAND
MIT 110 ABBILDUNGEN
BERLIN
VERLAG VON JULIUS SPRINGER
1936
ISBN-13: 978-3-642-88837 -3 e-ISBN-13: 978-3-642-90692-3
DOl: 10.1007/978-3-642-90692-3
ALLE RECHTE, INSBESONDERE
DAS DER UBERSETZUNG IN FREMDE SPRACHEN,
VORBEHALTEN.
COPYRIGHT 1936 BY JULIUS SPRINGER IN BERLIN.
SOFTCOVER REPRINT OF THE HARDCOVER 1ST EDITION 1936
Inhaltsverzeichnis.
Seite
I. TIMMERMANS, Dr. F. D. Konstitutionelle und habituelle Grundlagen
des appendicitischen Krankheitsgeschehens . . . . . . . . . 1
II. MANES, Dr. J. H. Die Symptomenbilder des Scharlachs und ihr
Wandel in den letzten 25 Jahren. Mit 6 Abbildungen 40
III. BRUGSCR, Dr. J. Die sekundaren Storungen des Porphyrinstoff-
wechsels. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
IV. RAAB, Dozent Dr. W. Das Hypophysen-Zwischenhirnsystem und
seine Storungen. Mit 36 Abbildungen . . . . . . . . . . . . . 125
V. EpPINGER, Professor Dr. H. Die Sauerstoffversorgung des normalen
und pathologischen Gewebes. Mit 17 Abbildungen . . . .. 185
VI. KAUNITZ, Dr. H. Transmineralisation und vegetarische Kost.
Mit 8 Ahbildungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 218
VII. TIEMANN, Professor Dr. F. Enuresis nocturna et diurna (Sympto
matologie, Atiologie und Therapie). Mit 3 Abbildungen . . . . . 323
VIII. FIEscm, Privatdozent Dr. A. Vergangene und moderne Forschungen
uber die Leukamien im Lichte der atiopathogenetischen Probleme 386
IX. FONIO, Privatdozent Dr. A. Die Hamophilie. Mit 6 Abbildungen 443
X. BENEDETTI, Professor Dr. P. Die klinische Morphologie des Herzens
und ihre Auswertungsmethodik bei Herzgesunden und Herzkranken.
Mit 31 Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531
XI. KERPEL-FRONIUS, Dr. E. Salzmangelzustande und chloroprive Azot
amie. Mit 3 Abbildungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623
Namenverzeichnis 702
Sachverzeichnis 724
Ein Generalregister fUr die Bande 1-25 befindet sich in Band 25 und fur
die Bande 26-50 in Band 50.
I. Konstitutionelle und habitnelle Grundlagen
des appendicitis chen Krankheitsgeschehens.
Von
F. D. TIMMERMANS-Koln-Rodenkirchen a. Rh.
Inhalt. Seite
Literatur ............ . 1
Einleitung . . . . . . . . . . . . 2
Anatomie und Physiologie des Processus vermiformis . 4
Das appendicitische Krankheitsgeschehen . . . . . . 12
Die konstitutionelle Appendicitisbereitschaft . . . 13
Das ortliche Krankheitsgeschehen auf dem Boden lymphopathischer Disposition • 19
Der appendicitische Infekt . . . . . . 21
Die habituelle Appendicitisbereitschaft . 27
Diagnose und Therapie. 36
Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . 38
Literatur.
ABRIKOROFF: tJber allergische Veranderungen der BlutgefaBe im Bereich lokaler ent-
ziindlicher Prozesse. Virchows Arch. 295, 4, 669 (1935).
ASCHOFF: Die Wurmfortsatzentziindung. Jena: Gustav Fischer 1908.
- tJber rudimentare Appendicitis. Beitr. path. Anat. 77, 141 (1923).
- Der appendicitische Anfall, seine Atiologie und Genese. Berlin: Julius Springer 1930.
BIRK, E. (Schanghai): Rezidivieren des appendicitischen Anfalles. Arch. kline Chir. 176,4.
CURISTELLER: Wurmfortsatzentziindung. HENKE-LUBARSCH' Handbuch der speziellen
pathologischen Anatomie und Histologie, Bd. 4, 2, S.429. Berlin 1929.
GUNDEL, PAGEL, SUSSBRUCH: Untersuchungen zur Atiologie der Appendicitis und post-
appendicularen Peritonitis. Beitr. path. Anat. 91, 399 (1933).
JAFFE: Paraffinum der Appendix. Dtsch. med. Wschr. 1934 I, 508.
KEMAL: Appendicitis in der TiirkeL Dtsch. med. Wschr. 1934 I, 504.
KODOMA (Japan): tJber Achsendrehung des Wurmfortsatzes. Miinch. med. Wschr.19341I,
1886 (Ref.).
RICKER: Pathologie als Naturwissenschaft (Relationspathologie). Berlin: Julius Springer
1924'.
ROSSLE: Die Beweglichkeit des Wurmfortsatzes. Beitr. path. Anat. 77, 121 (1923).
RUF: Die Appendicitis im Lichte der RWKERSchen GefaBnerventheorie. Beitr. path. Anat.
75 (1926).
SCHUM: Einige Bemerkungen zum Kapitel der Blinddarmentziindungen. Dtsch. med. Wschr.
19361, 337.
TIMMERMANS: Wurmkrankheiten. Jkurse arztl. Fortbildg., Juni-H. 1935, 38f.
TITONE (Leotta): Zbl. Chir. 1933, Nr46; 1934, Nr 7.
WESTPHAL: Appendicitis und Kotsteine als Folge gestorter Appendixfunktion. Dtsch.
med. Wschr. 1934 I, 499, 600.
Ergebnisse d. Inn. Med. 51. 1
2 F. D. TIMMERMANS:
Einleitung.
Die vorliegenden Untersuchungen verdanken ihr Entstehen der klinischen
Beobachtung und der Erfahrung, daB wir in das Verstandnis eines Krankheits
bildes erst daml tiefer vordringen, wenn wir uns von der Befangenheit der
Beurteilung lediglich des erkrankten Organes freimachen und die Erkrankung
des Organes verstehen aus einer Funktionsstorung im Zusammenspiele von
Organgruppen. Was hier fur die Erkrankungen am Processus vermiformis sich
als fruchtbar sowohl in diagnostischer als auch in therapeutischer Hinsicht
erwiesen hat, gilt auch ffir andere Krankheitsgeschehen. Beeindruckt von einer
Reihe miBverstandener "Magenfalle", die mir zur Behandlung uberwiesen
wurden, mochte ich diesen Gedanken durch Erwahnung der hier giiltigen
Zusammenhange veranschaulichen.
Die Erkenntnis der funktionellen Zusammengehorigkeit verschiedener Organe
laBt das Ulcus duodeni und das Ulcus ventriculi in ganz anderem Lichte erscheinen
und erst verstehen lemen, und das bedeutet behandeln lernen. Wir sollten
hier das Krankheitsbild des "Thyreo-Kardio-Gastro-Duodenalen Syndroms"l
aufstellen, sehen wir doch immer wieder mit absoluter RegelmaBigkeit, daB
z. B. das Ulcus duodeni vergesellschaftet ist mit einem Hyperthyreodismus.
Erst auf dem Boden thyreotoxischer Dysfunktion des nervosen Apparates sind
die Bedingungen zur Entwicklung des Ulcus duodeni und der Begleitgastritis
gegeben. DaB dieses atiologische Verstandnis ffir die Therapie von Bedeutung
ist, wird klar, wenn man sich der uberkommenen Therapie erinnert, wo ver
sucht wird, die Hypersekretion unter anderem durch reichliche EiweiBgaben
zu dampfen. Symptomatisch mochte es gelingen, durch eine fleischreiche Diat
Besserung zu erzielen; bei atiologischer Betrachtung kann eine solche Besserung
nur als halber Erfolg gewertet werden, denn eine fleischreiche Ernahrung muB
zur Vermehrung der Thyreotoxikose beitragen, so daB eine solche Therapie
Gefahr lauft, in einen Circulus vitiosus hineinzufuhren. Es sei hier auch auf
Diatuntersuchungen in der Behandlung des Diabetes mellitus hingewiesen. So
wenig einheitlich und vielfarbig die Atiologie ist, so mannigfach muB auch die
Therapie gestaltet werden. Eines aber ist einheitlich als Denkfehler in der
Therapie aufzufassen: eine allzu symptomatische Herabdruckung der Glykosurie.
Berucksichtigt man, daB diese Glykosurie in einer Insuffizienz der den inter
mediaren Stoffwechsel beherrschenden Organe beruht, so muB doch eine kausal
gerichtete Therapie darauf bedacht sein, durch Schonung dieser Organe ihre
Regeneration anzubahnen. Die ubliche Diabetesdiat, die dem diabetischen
Organismus ein Dberangebot von tierischem EiweiB als Nahrung anbietet,
verIangt sowohl von der Leber als auch von dem Pankreas eine Plusleistung.
Die Erfolge dieser Therapie konnen nur in der Unterdrilckung der Glykosurie
als Mangelerscheinung liegen, die insuffizienten Organe aber mussen eine weitere
Beeintrachtigung erfahren, ein Grund ffir den vielfach infausten VerIauf des
kindlichen Diabetes. Aus der Perspektive dieser Diabetesdiat mag es paradox
erscheinen, dem diabetischen Stoffwechsel ein Plus an Traubenzucker anzu
bieten, das aber vertragen wird, wenn durch Streichung der Fleischration, also
durcheine streng lacto-vegetabile Diat, eine Entlastung des Stoffwechsels,
also eine Schonkost fur Leber und Pankreas gereicht wird.
1 tJber das Thyreo-Kardio-Gastro-Duodenale Syndrom werde ich a. a. O. noch berichten.
Konstitutionelle und habituelle Grundlagen des appendicitischen Krankheitsgeschehens. 3
Mit einer solchen Diat konnte ich iiberraschende Erfolge, selbst bei schweren
Gangranfallen und auch beim kindlichen Diabetes erzielen. In Erinnerung ist
mir ein Gangranfall bei einem kachektischen alteren Manne, wo bereits die
Amputation als unvermeidlich in Erwagung gezogen wurde, eine etwa 10 cm
lange Gangranwunde der FuBsohle innerhalb 3 Wochen sich epithelisierte und
ein fortschreitender ProzeB an der 4. Zehe z~m Stillstand und zur AbstoBung
kam (ohne Insulin). Ich erwahne hier auch den letzten, abgeschlossenen Fall
eines 55jahrigen Mannes. Am Ende einer 4wochentlichen Kur erklarte der
Patient, sich seit vielen Jahren nicht mehr so wohl gefiihlt zu haben, Depressionen,
unter denen er psychisch sehr zu leiden hatte, seien geschwunden, Arbeitslust
zuriickgekehrt, eine diabetische Neuritis, die ihm den beruflichen Gebrauch
des rechten Armes unmoglich gemacht hatte, war restlos geschwunden, seine
Kohlehydrattoleranz von nicht ganz 4 WEE. auf 10 WBE. gestiegen. Diese
Untersuchungen, die ich noch an anderem Orte besprechen werde, zeigen, wie
wichtig es fiir eine erfolgreiche Therapie ist, sich von dem Bilde der Krankheits
symptome oder des erkrankten Organes freizumachen.
Nicht das erkrankte Organ, niche die Ursache und ihre Wirkung, sondern die
Organgruppen innerhalb der Ganzheit des Organismus und des krankmachenden
Bedingungskomplexes sind der Schauplatz des Krankheitsgeschehens und mussen
auch der Schauplatz sein fur das (j,rztliche Denken und H andeln.
Wie hier und auch auf anderen Gebieten der inneren Medizin, so erscheinen
solche von dem erkrankten Organ abgeriickte Beobachtungen geeignet, auch das
Problem der Appendicitis zu befruchten. Waren wir doch bereits in der Diagnose
oft uniiberwindlich diinkenden Schwierigkeiten gegeniibergestellt, so daB auch
heute noch mit einem schwankenden Prozentsatz fehloperierter Appendices
gerechnet werden muB. Senkung dieses Prozentsatzes bislang gesetzmaBiger
Fehldiagnose ist die eine Aufgabe der vorIiegenden Untersuchung. Weiterhin
aber soIl die Indikationsstellung fiir das operative Handeln sowohl, als auch
fiir die konservative Therapie und diese selbst untersucht werden.
Die Frage nach der Fehldiagnose und dem fehloperierten Processus vermi
formis fiihrt in diesem Zusammenhange, wo von den iiblichen Quellen einer
Fehldiagnose, wie Cholecystitis, Adnexerkrankungen, Typhus, beginnende Pneu
monie abgesehen sei, zu einer Untersuchung iiber die Einheitlichkeit des appen
dicitischen Krankheitsbildes.
Hierbei hat sich das interessante Ergebnis gezeigt, daB Symptome und
VerIauf der Appendicitis von zwei verschiedenen Momenten abhangig sind und
damit je nach dem Dberwiegen des einen oder anderen zwei Gruppen unter
scheiden lassen, namlich die Appendicitis der Lymphatiker mit vorwiegend
akutem VerIaufe nnd die Appendicopathie der Nichtlymphatiker auf der Basis
spastisch-atonischer MotilitatsstOrungen des Colons bei habitueller Obstipation
der vielfach auch vegetativ Stigmatisierten. So erhalt man ein zweifaches
Bild appendicitischen Krankheitsgeschehens, das Bild einer lymphopathischen
Appendicitis einerseits und das Bild einer enteropathischen Appendicitis anderer
seits, eine Unterscheidung, die nicht als diagnostische Spitzfindigkeit zur Bela
stung der an sich oft schon schwierigen Diagnose beitragt, sondern zur Klarung
der Diagnose und insbesondere zur Indikationsstellung zwischen operativem
und konservativem Vorgehen.
1*
4 F. D. TIMMERMANS:
Uber das Krankheitsbild der Appendicitis ist in so mannigfacher Weise
geforscht worden, daB man es als gekliirt und der weiteren Forschung nicht
mehr bedurftig betrachten sollte. Wenn aber der Streit der Meinungen einen
MaBstab abgeben kann fur die Gultigkeit einer Theorie in dem Sinne, daB dort
am meisten gestritten wird, wo die Dinge sich am unklarsten verhalten, so muB
man sagen, daB fur den Chirurgen die Appendicitis gekliirt sein mag, daB sie
fur den Pathologen in manchen Punkten noch weiterer Kliirung bedurftig ist
und fur den Internisten noch eine FiiIle von Problemen enthiilt.
Dieses liegt in der Eigenart der Appendicitis schlechthin, die dem Chirurgen
begegnet mit der fast alleinigen Fragestellung, ob es sich um eine Appendicitis
handelt und demgemiiB die Operation angebracht sei, die den Pathologen vor
die Aufgabe einer vorwiegend morphologischen Kliirung der Gewebsveriinde
rungen stellt, die aber dem Internisten erscheint in dem groBen Zusammenhange
intestinaler und Systemerkrankungen. Hier aber bleibt noch vieles zu sagen
ubrig, was auch fur den Pathologen interessant und fur den Chirurgen hinsicht
lich der Diagnose und Indikationsstellung von Wichtigkeit ist, liegt doch manches
von pathologischer Seite Erforschte noch klinisch unausgewertet in den Archiven.
Anatomie und Physiologie des Processus vermiformis.
Anatomisch kann der Processus vermiformis als ein Abschnitt des Colons
aufgefaBt werden. Diese von R6sSLE vertretene Meinung ist fur das Verstiindnis
des appendicopathischen Geschehens ebenso von Wichtigkeit, wie der Hinweis
WESTPHALS auf gewisse .Ahnlichkeiten zwischen Gallenblase und Wurmfortsatz,
d. h. auf Funktionseigentumlichkeiten, die sich beziehen auf die Eigenart beider
Organe als Hohlorgane, wodurch gewisse Analogien geschaffen werden. Danach
wiire der Processus vermiformis der zu einem Hohlorgan umgebildete distale
Abschnitt des cocalen Colonabschnittes.
Diese Feststellung ist von Bedeutung fUr das Verstiindnis der spiiter zu
besprechenden enteropathischen Appendicitis, denn sie erkliirt die Abhiingigkeit
des Processus vermiformis von chemischen und physikalischen Zustiinden im
Colon, so z. B. die Beantwortung von Bliihungszustiinden des Coecums mit
Kontraktionen im Processus vermiformis.
Zu diesen beiden Eigenarten des Processus vermiformis als umgewandeltem,
blinden Colonabschnitt und als Hohlorgan gesellt sich eine dritte, der lympha
tische Charakter des Gewebeaufbaus. Die Entwicklung des lymphatischen Appa
rates vollzieht sich nach ASCHOFFS Untersuchungen erst postfetal. Der Processus
vermiformis des Neugeborenen ist noch fast frei von lymphatischem Gewebe.
Dieses beginnt seine Entwicklung im Siiuglingsalter, besonders gegen Ende des
ersten Lebensjahres, und zwar in hyperplastischer Form, die im kindlichen Alter
ihren Hohepunkt hat, um dann im Laufe der Lebensjahrzehnte eine Involution
zu erleiden. Das morphologische Schicksal des Processus vermiformis im Laufe
der verschiedenen Lebensjahre ist Gegenstand umfangreicher Untersuchungen
gewesen und in klassischer :Form von ASCHOFF beschrieben worden, worauf
hier Bezug genommen sei.
Da auch heute noch immer wieder die Meinung vertreten wird, es handle
sich bei dem Processus vermiformis um ein rudimentiires Organ, so erscheint
es an dieser Stelle notwendig, dieser Auffassung unter Hinweis auf die umfang-
Konstitutionelle und habituelle Grundlagen des appendicitischen Krankheitsgeschehens. 5
reichen, pathologisch-anatomischen Untersuchungen, insbesondere ASCHOFFS,
entgegenzutreten, weil sie sonst geeignet ist, den Blick fiir die tieferen Zu
sammenhange im Appendicitisproblem zu triiben. Aber es gibt Irrtiimer auch
in der Medizin, die, seit Jahrzehnten widerlegt, unausrottbar lebendig bleiben
und das arztliche Denken beeinflussen. Die Argumente fiir den rudimentaren
Charakter des Processus vermiformis stiitzen sich auf die Tatsache der Involution
des lymphatischen Apparates, auf die bindegewebigen Veranderungen des
interstitiellen Gewebes einschlieBlich der tieferen Wandschichten und nicht
zuletzt auf eine erhohte Krankheitsbereitschaft.
Ober die im Laufe der Lebensalter wechseInden Zustande des lymphatischen
Gewebes im Processus vermiformis ist hier zunachst mitzuteilen, daB umfang
reiche Schwankungen noch als physiologisch aufzufassen sind, zunachst als
funktionelle, den momentanen Bediirfnissen entsprechende, weiterhin im Laufe
der Lebensalter als anatomisch-variable, durch abgeanderte, namlich abnehmende
Bediirfnisse. Auf die Variabilitat des lymphatischen Gewebes wird spater bei
Besprechung der Pathologie des Processus vermiformis noch eingehend zuriick
zukommen sein.
Die bindegewebigen Degenerationserscheinungen sind nicht physiologischer,
sondern pathologischer Natur. Schon RIBBERT hat im letzten Jahrzehnt des
19. Jahrhunderts an 400 Leichen genaue Untersuchungen angestellt undauch
die normalen Veranderungen im Laufe der einzeInen Lebensabschnitte beschrie
ben. Nach dem 20.-30. Lebensjahr setzt eine bindegewebige Degeneration der
Mucosa ein unter Schwund der Lymphfollikel.
Die Schrumpfungsvorgange bestehen in einer Haufigkeit von 20-25 %.
Meistens beschrankt sich die Obliteration auf das distale Ende, seltener ist der
ganze Processus vermiformis, sein mittlerer oder proximaler Teil betroffen.
Nach ASCHOFF waren von 53 untersuchten Appendicis verodet: nur distal 28,
vollstandig 9, distal und im mittleren Drittel 7, nur proximal 7, nur im mittleren
Drittel 2.
Wahrend RIBBERT u. a. diese bindegewebige Umwandlung noch als physio
logischen InvolutionsprozeB auffaBte, konnte ASCHOFF an seinen klassischen
Untersuchungen an rund 1000 Wurmfortsatzen die entziindliche Genese beweisen.
DaB vielfach die bindegewebige Degeneration bis zur Obliteration als physio
logisches Geschehen angesehen wurde, geschah aus der Vorstellung heraus,
der Processus vermiformis sei stammesgeschichtlich ein rudimentares Organ
und einem RiickbildungsprozeB unterworfen. Der Beweis fiir diese phylo
genetische Involution fehlt indessen. Dagegen diirfte es sich um eine phylo
genetische Organumbildung und einen Funktionswechsel handeIn, was spater
noch zu erortern bleibt.
Gegen die physiologische Natur der beobachteten Obliteration spricht unter
anderem die Beobachtmlg SADZUKIs, der Verwachsungen als Ausdruck appen
dicitischer Erkrankung bei verodeten Processus vermiformes fast doppelt so
oft fand als bei nicht verodeten. Die Haufigkeit der Obliteration mit zuneh
menden Lebensaltern laBt sich nicht als Beweis fiir eine physiologische Involution
anwenden, da die absolute Appendicitisziffer auch mit den Lebensaltern zunimmt.
AuBerdem stimmen die statistischen Zahlen fiir Appendicitis und Obliteration
iiberein. Der Nachweis allmahlicher gleichmaBiger VerOdung des Processus
vermiformis ohne einhergehende appendicitische Prozesse ist bislang nicht
6 F. D. TIMMERMANS:
erbracht worden, dagegen spricht das Bild des obliterierten Processus vermiformis
histologisch fiir eine entziindliche Genese und laBt sich gegen diese mindestens
nicht abgrenzen (ASCHOFF). Fiir die entziindliche Entstehung der Verodung
spricht (ASCHOFF, CHRISTELLER) das Vorhandensein narbiger Auslaufer.
Da die Auffassung einer physiologischen Entstehung der Obliteration des
Processus vermiformis durch den makroskopischen Befund begleitender peri
tonealer Verwachsungen und den histologischen Befund narbiger Auslaufer in
die Submucosa hinein, insbesondere durch das histologische Bild bei nicht
abgeschlossener Obliteration, mehr als zweifelhaft erscheint, so muB als erwiesen
angenommen werden, daB die Obliteration des Processus vermiformis keineswegs
auf physiologischer, sondern auf entziindlicher Grundlage erfolgt.
Der Glaube an den physiologischen Charakter der bindegewebigen Degene
ration des Processus vermiformis, obwohl widerlegt, lebt fort in dem Glauben
an eine rudimentare Beschaffenheit dieses Organs, dem aus diesem Grunde
eine gesteigerte Krankheitsbereitschaft anhafte.
Da wir unter rudimentarer Organbeschaffenheit nicht erworbene, sondern
ererbte Eigenschaften verstehen, so muB dieser Auffassung entgegengetreten
werden. Es gehoren hierher auch nicht die Erscheinungen einer zivilisations
bedingten Gegenauslese, die auf verschiedensten Organgebieten Minderwertig
keiten von Generation zu Generation fortschleppt, die unter natiirlichen Bedin
gungen durch vorzeitiges Absterben der betroffenen Individuen nicht zur Fort
pflanzung gelangen wiirden. Eine solche Gegenauslese liegt zweifellos auch
bei einer familiaren Appendicitisdisposition vor. Von dieser zu sprechen, sind
wir auf Grund klinischer Erfahrungen ebenso berechtigt, wie zu der bekannten
AnIagenvererbung fiir Lungentuberkulose usw. Niemand wird aber aus der
hereditaren Tuberkulosebereitschaft Schliisse ziehen wollen auf eine Minder
wertigkeit der Lungen im Sinne rudimentarer Organe.
Auch die Appendiciti8 ist konstitutionsverknupft, insbesondere jene Form der
bosartigen, akuten Appendicitis, die spater als lymphopathisch abgegrenzt
werden wird.
Die Anlage unterliegt dem direkten, dominanten Erbgange, so daB wir sie
geradezu familiar auftreten sehen. Hat nun die Besserung der allgemeinen,
hygienischen Verhaltnisse bei der Tuberkulose zu einer Herabsetzung der schweren
Erkrankungen gefiihrt, so kann man solches von der Appendicitis nicht aussagen.
Die Ernahrungshygiene ist zwar zu punktweisen Erfolgen fortgeschritten, doch
die Praxis zeigt in der breiten Volksernahrung eine undurchbrechbar erscheinende
Beharrlichkeit beim Altiiberlieferten. Da auBerdem in der chirurgischen Am
die Appendicitis nur noch eine geringe Mortalitat aufweist, so ist die Auslese
so gut wie aufgehoben, sind die krankmachenden Umweltsbedingungen (unzweck
maBige Ernahrung) nicht wesentlich andere als friiher. Kein Wunder, daB so
die Fiille appendicitischer Erkrankungen leichter und schwerer Art bei der
Unkenntnis iiber die Funktion dieses Organs die Hypothese iiber den rudi
mentaren Charakter des Processus vermiformis weiterhin nahrt.
Abgesehen von ererbten Dispositionen, die familiar auftreten konnen, liegt
aber eine besondere Krankheitsbereitschaft de8 Processus vermiformis keines
wegs vor. Dagegen aber sind es vielmehr, genau so wie bei manchen anderen
Erkrankungen des Digestionstraktes, gewohnheitsmaBige Erniihrung8brutalitiiten,
die durch Setzung funktionswidriger Reize jene Entziindungsbereitschaften und
Konstitutionelle und habituelle Grundlagen des appendicitischen Krankheitsgeschehens. 7
chronischen Entziindungszustande aus16sen, die zur Bindegewebsdegeneration
und schlieBlich zur Obliteration des Organs fiihren. Nicht der Processus vermi
form is als solcher schlechthin ist ein rudimentares Organ, sondern entartete
Ernahrungsgep£logenheiten und die dadurch tagtaglich unterhaltenen Noxen
erst machen ihn "rudimentar", d. h. verandern ihn krankhaft. DaB diese erwor
benen, entziindlichen Degenerationsveranderungen, sowie der Wegfall des Pro
cessus vermiformis durch die Appendektomie anscheinend ohne Beschwerden
vertragen wird, laBt sich sehr wohl als Anpassungserscheinung und Domesti
kationsfolge auffassen. DafJ aber appendicitische Erkranku.ngen reine Domesti
kationsfolgen sind, dafilr liegen wichtige Hinweise vor.
Zunachst ist die Appendicitis unter den domestizierten Anthropoiden keine seltene
Erkrankung. WEINBERG fand bei 61 Sektionen an Schimpansen 3 Falle pWegmonos
ulceroser Appendicitis und 7 durch entziindliche Verwachsungsstorung gekennzeichnete
Falle chronischer Appendicitis. Es handelte sich hier nicht urn frei lebende Tiere, sondern
urn domestizierte zoologischer Garten.
Weiterhin soll nach GELINSKI dagegen die Appendicitis unter den Eingeborenen Chinas
und Persiens nicht vorkommen, sondern lediglich bei dort lebenden Europaern und hier
keine seltene Erkrankung sein. Nach PERTHES wurden bei 86000 poliklinischen chinesischen
Patienten nur 2 Falle von Appendicitis diagnostiziert, und zwar chronischen Yerlaufes.
(Bei dem einen Falle fand sich ein Trichocephalus dispar im Processus vermiformis.) In
anderen Fallen hatten die Patienten seit Jahren europaische Kost genossen. GELINSKI
fiihrt dieses Fehlen appendicitischer Erkrankung auf die pflanzliche Kost der Chinesen
und Perser zuriick. Ein deutscher Kollege berichtete kiirzlich aus seiner Tatigkeit in China
iiber das seltene Vorkommen der Appendicitis unter der chinesischen Bevolkerung.
Vergleichend anatomisch von Interesse ist in diesem Zusammenhange das Vorkommen
eines Processus vermiformis bei verschiedenen Tierarten. Wahrend bei den reinen Pflanzen
fressern ein auffallend gro13er Blinddarm ohne Processus vermiformis ausgebildet ist mit
ausgesprochener Darmfunktion, namlich der Kotstauung zum Zwecke der Aufschlie13ung
der Cellulose durch Darmbakterien, besitzen die Carnivoren kleine Blinddarme. Nach BERRY
ist das lymphatische Gewebe im Blinddarm bei Allesfressern am starksten ausgebildet.
Yereinzelt steht dagegen der auffallende Reichtum des Kaninchenblinddarms an Lymph
knotchen (FIEDLER). Einen abgrenzbaren Processus vermiformis kann man durchschnittlich
nicht finden. Dieser ist erst bei manchen niederen Affen ausgebildet. Dagegen weisen die
Anthropoiden einen dem menschlichen Processus vermiformis ahnlichen Processus vermi
formis auf. Die Ahnlichkeit ist sehr weitgehend und reicht bis in die Variationen und ihre
Haufigkeitsziffern hinein. Wie beim Menschen findet sich bei den Primaten zu 25 % der
Falle ein trichterformiger Abgang des Processus vermiformis vom Coecum, der eine fetale
Erscheinung ist. Auch bei den Anthropoiden ist aber die Zylinderform des Processus
vermiformis mit dorsal-medial gelagertem Abgang durch starkere Entwicklung des vorderen
Blinddarmabschnittes die haufige, die Zylinderform mit Abgang vom Blinddarmgrunde
die seltene Form.
Man kann hieraus schlie13en, da13 die Umbildung des Blinddarmendes sich unter Verlust
der Darmfunktion iiber die fetal noch regelma13ige Trichterform hinweg zur Zylinderform
erst relativ spat vollzogen hat. Die verloren gegangene Darmfunktion wurde durch eine
andere ersetzt, entsprechend den sich andernden Lebens- und Ernahrungsbedingungen.
Dagegen beweist aber die Tatsache des Verlustes der Darmfunktion nicht ein FeWen
jeder Funktion, also eine Riickbildung schlechthin, zumal der Verkleinerung des Processus
vermiformis als Darmorgan eine reiche Entwicklung lymphatischen Gewebes in der Mucosa
gegeniibersteht.
Nach JAKOBSHAGEN handelt es sich jedoch nicht urn einen lymphatischen Umbau
der Mucosa, sondern urn ein Yerharren der Lymphknotchen, die dem kataplastischen
Proze13 widerstehen, absolut gemessen aber nicht zahlreicher seien als im Diinndarm.
ALBRECHT erkennt in dem Schwund normaler Darmschleimhaut und der Anhaufung lym
phatischen Gewebes den anatomischen Ausdruck eines Funktionswechsels. Aus einem fiir
den Kottransport ungeeignet gewordenen blinden Darmabschnitt entwickelte sich ein
"lymphatisches Organ (,Bauchtonsille') der Absonderung, Aufsaugung und Abwehr".