Table Of ContentDieter Roth
Empirische Wahlforschung
Dieter Roth
Empirische
Wahlforschung
Ursprung, Theorien,
Instrumente und Methoden
2., aktualisierte Auflage
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1.Auflage 1998
2.Auflage 2008
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© VSVerlag für Sozialwissenschaften | GWVFachverlage GmbH,Wiesbaden 2008
Lektorat:Frank Schindler
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Umschlaggestaltung:KünkelLopka Medienentwicklung,Heidelberg
Druck und buchbinderische Verarbeitung:Krips b.v.,Meppel
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in the Netherlands
ISBN 978-3-531-15786-3
Vorwort
Dies ist die aktualisierte Ausgabe eines Lehrbuchs über empirische Wahlfor-
schung, geschrieben für Studenten, Journalisten und politisch Interessierte. Die
Wahlforschung – misst man sie an der Nachfrage ihrer Ergebnisse – hat im letz-
ten Jahrzehnt weiter an Bedeutung gewonnen. Auch die Veröffentlichungen aus
diesem Bereich sind deutlich gestiegen. Wer wissen will wie die oft zitierten und
auch kritisierten oder bezweifelten Ergebnisse der empirischen Wahlforschung
zustande kommen, kann sich in diesem Buch informieren. Es werden die gängi-
gen Theorien zur Erklärung von Wahlverhalten dargestellt und die Techniken der
Datenerhebung und der Analyse beschrieben, die benutzt werden, um die Fragen
in diesem Bereich zu beantworten. Insbesondere wird aber auf die vielen Feh-
lermöglichkeiten auf dem Weg zu gültigen Ergebnissen hingewiesen und auf die
Begrenztheit der möglichen Aussagen. Das Buch ist eine praxisorientierte Ein-
führung in die empirische Wahlforschung. Es hat auch in der aktualisierten Form
nicht den Anspruch, alle diskutierten Probleme des Faches abzudecken. Für die
nicht behandelten Themen habe ich mich bemüht, Hinweise zu geben, wo man
weitersuchen kann.
Zum Zeitpunkt der Erstausgabe dieses Buches hat es eine Lücke ausgefüllt.
Inzwischen sind viele methodischen Fragen von anderen Autoren aufgegriffen
und behandelt worden. Trotzdem scheint eine Einführung noch eine Berechti-
gung zu haben, denn es besteht Nachfrage. Die meisten Beispiele wurden erneu-
ert. Dabei griff ich – wie zuvor – auf die Datenbestände der Forschungsgruppe
Wahlen e.V. zurück. Mit den Mitarbeitern dort habe ich einzelne Aspekte immer
wieder diskutiert. Für diese Unterstützung bedanke ich mich, wie auch für die
kritischen Kommentare von Studenten und Kollegen.
Dossenheim, im Januar 2008 Dieter Roth
Inhaltsverzeichnis
VORWORT 5
EINLEITUNG 11
KAPITEL 1:
DIE ANFÄNGE EMPIRISCHER WAHLFORSCHUNG
1.1 Wahlstatistik 17
1.1.1 Wahlstatistik in Deutschland 17
1.1.2 Erste wahlstatistische Analysen in Deutschland 19
1.2 Die Wahlgeographie (géographie électorale) André Siegfrieds 21
1.3 Verfeinerte Analysen aggregierter Daten 23
1.4 Von der Aggregat- zur Individualdatenanalyse 25
1.5 Bibliographie 27
KAPITEL 2:
THEORETISCHE ERKLÄRUNGSMODELLE FÜR
WAHLVERHALTEN
2.1 Die soziologischen oder sozialstrukturellen Ansätze 29
2.2 Der sozialpsychologische Ansatz 42
2.3 Rational-Choice-Ansätze („rationales“ Wahlverhalten) 51
2.4 Bibliographie 56
KAPITEL 3:
INSTRUMENTE UND METHODEN DER WAHLFORSCHUNG
3.1 Stichproben 61
3.1.1 Die Grundgesamtheit 64
3.1.1.1 Die Grundgesamtheit bei exit polls 66
3.1.1.2 Die Grundgesamtheit bei Telefonbefragungen 66
3.1.2 Auswahlverfahren 68
3.1.2.1 Quotenstichprobe 68
3.1.2.2 Zufallsstichprobe 71
8 Inhaltsverzeichnis
3.1.3 Stichprobenprobleme und ihre Korrekturmöglichkeiten 84
3.1.3.1 Realisierung von Stichproben 84
3.1.3.2 Korrekturmöglichkeiten 88
3.2 Datenerhebung in der Wahlforschung 91
3.2.2 Erhebung von Individualdaten 96
3.2.2.1 Das Interview 96
3.2.2.2 Frage und Fragebogen 102
3.3 Datenanalyse 132
3.3.1 Messen 133
3.3.2 Die einzelnen Phasen der Datenanalyse 135
3.4 Bibliographie 145
KAPITEL 4:
WAHLFORSCHUNG IN DER BUNDESREPUBLIK
DEUTSCHLAND 149
4.1 Wahlstudien der fünfziger Jahre 149
4.1.1 Die erste Regionalstudie 149
4.1.2 Studien zu den ersten Bundestagswahlkämpfen 1953 und
1957 150
4.1.3 Wahlsoziologische Analysen der Bundestagswahlen 1953
und 1957 151
4.1.4 Weitere frühe Wahlstudien 153
4.2 Die „Kölner Wahlstudie“ zur Bundestagswahl 1961 154
4.3 Die bundesrepublikanische Wahlforschung 1965-1990 155
4.3.1 Die Etablierung einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin
mit vielen Facetten 155
4.3.2 Einschlägige Publikationen der bundesdeutschen
Wahlforschung bis 1990 159
4.4 Entwicklungen seit 1990 160
4.5 Bibliographie 163
KAPITEL 5:
EMPIRISCHE WAHLFORSCHUNG IN ANDEREN
EUROPÄISCHEN LÄNDERN 171
5.1 Großbritannien 172
5.2 Frankreich 175
5.3 Niederlande 180
5.4 Norwegen 184
Inhaltsverzeichnis 9
5.5 Bibliographie 190
5.5.1 Überblicksdarstellungen 190
5.5.2 Großbritannien 190
5.5.3 Frankreich 191
5.5.4 Niederlande 192
5.5.5 Norwegen 193
ANHANG: WAHLSYSTEME DER BUNDESREPUBLIK 195
SACHREGISTER 211
Einleitung
Wahlforschung ist zunächst einmal eine akademische Disziplin, bei der es darum
geht, mit nachvollziehbaren Verfahren den Prozess des Wählens aufzuklären.
Die beteiligten Wahlforscher arbeiten in der Regel theoriegeleitet, nutzen die
Methoden der empirischen Sozialforschung und unterziehen sich der Kritik der
Fachwelt, die ihre eigenen Fachtermini und Kommunikationsgewohnheiten hat.
Nichtsdestotrotz erscheinen die Ergebnisse der Wahlforschung einem rela-
tiv breiten Publikum zugänglich, denn durch die Popularisierung in den Medien
hat die Wahlforschung insbesondere im Vorfeld von Wahlen und an Wahltagen
eine große Verbreitung gefunden. Obwohl die Ergebnisse der Wahlforschung oft
mit Prognosen in Verbindung gebracht werden, sind die Fragestellungen der
Wahlforscher vor allem retrospektiv:
Wer hat wen gewählt und warum?
Erst wenn diese Fragen beantwortet sind und die Funktionsweise von Wahlen in
einem spezifischen demokratischen System ausreichend dargelegt werden kann,1
ist Platz für die weitere Frage, ob etwas und gegebenenfalls was daraus für die
Zukunft abgeleitet werden kann. Zunächst aber verlangt die Hauptfrage der
Wahlforscher eine beschreibende und eine erklärende Antwort. Diese Antworten
werden sinnvollerweise auf empirischer Basis gegeben. Beschrieben und erklärt
werden soll das Wahlverhalten von Individuen oder Gruppen von Individuen.
Damit ist die Datenbasis festgelegt: Es müssen Individualdaten oder Gruppenda-
ten vorhanden sein oder erhoben werden. Erst die Entwicklung von Techniken,
die die Erhebung von Individual- oder Gruppendaten in großem Umfang mög-
lich gemacht haben, führte zu wichtigen Entwicklungsschritten in der empiri-
schen Wahlforschung.
In der Pionierzeit der Wahlforschung konnten nur Daten offizieller Zählun-
gen für die Analyse benutzt werden, wie in Kapitel 1 dargelegt wird. Diese Da-
ten hat man, um dem Ziel der Individual- oder Gruppendaten möglichst nahezu-
kommen, in der kleinstverfügbaren Aggregierung genutzt. Solche Ergebnisse
kleinräumiger Einheiten wurden mit anderen Daten, die man über das Aggregat
1 Siehe hierzu den Anhang dieses Buchs (Wahlsysteme in der Bundesrepublik Deutschland).
D. Roth, Empirische Wahlforschung, DOI 10.1007/978-3-531-91975-1_1,
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12 Einleitung
bzw. die Gebietseinheit hatte, zum Beispiel Zensusdaten, in Beziehung gesetzt.
Dies ergab dann die sogenannte sozialökologische Analyse, aus der man Schlüs-
se auf das Verhalten der Wähler gezogen hat. Die sozialökologische Analyse ist
eine wichtige Analyseform, weil sie auch soziale Kontexte erfasst, sie bleibt aber
letztlich eine Beschreibung der Verhaltensweisen von Aggregaten. Sie ist mit
dem Makel behaftet, dass von diesen Aggregaten, die in der Regel nicht homo-
gen sind, nicht auf individuelles Verhalten geschlossen werden kann. Darüber
hinaus beantwortet die ökologische Analyse nicht oder zumindest sehr ungenü-
gend die Frage nach dem „Warum“ einer Entscheidung. Natürlich können aus
der längerfristigen Beobachtung von Aggregaten, deren Veränderungen und de-
ren Wahlergebnissen Hypothesen über die Ursachen der Entscheidungen aufge-
stellt werden. Zur Überprüfung dieser Hypothesen eignen sich Aggregatdaten-
analysen aber nicht. Andererseits können für historische Zeiträume wahlanalyti-
sche Befunde nur auf der Basis von Aggregatdaten erarbeitet werden, weil es
Individualdaten für diese Zeiträume nicht gibt.
Erst die Möglichkeit, eine Vielzahl von individuellen Entscheidungen und
deren Determinanten in repräsentativen Stichproben zu erfassen, führte dazu,
sich der Frage „Wer wählt wen?“ immer präziser und schließlich auch dem „Wa-
rum“ zu nähern. Die Interviewtechnik in der Repräsentativ-Befragung wurde
eine wichtige Stütze der empirischen Wahlforschung. Die Fortschritte in der Da-
tenverarbeitung und der Telekommunikation machen den schnellen Zugang zu
solchen Zusammenhängen möglich, und die Veränderungen in der Massenkom-
munikation führten schließlich zu einer relativ großen Verbreitung der Ergebnis-
se empirischer Wahlforschung.
Empirische Wahlforschung hat eine Vielzahl von Voraussetzungen. Tech-
nik und Theorie sind dabei vielfach verwoben. So ist es beispielsweise eine
wichtige Frage, wie man bei begrenzter Zeit und mit knappen Mitteln die Viel-
zahl der Wähler auf analysierbare Größenordnungen reduzieren und zu generali-
sierbaren Aussagen kommen kann, d. h. zunächst sind stichprobentheoretische
Probleme zu bewältigen. Dann aber sind Hypothesen zu operationalisieren, in
Fragen umzusetzen oder andere Formen der Verhaltensmessung zu finden. Als
nächster Schritt ist sauberes Handwerk gefragt: Eine optimale Realisierung der
Stichprobe in sorgfältiger Feldarbeit. Schließlich müssen die Ergebnisse in ein
Verhaltensmodell integriert werden, d. h. es müssen Ursachen und Wirkungen
getrennt werden, um letztlich zu Wahrscheinlichkeitsaussagen zu kommen, was
wen wie stark bedingt. Davon handelt dieses Buch, vor allem in Kapitel 3, wobei
keinesfalls vollständige oder abschließende Antworten gegeben werden, sondern
hauptsächlich auf die vielen Fallen und Fehlermöglichkeiten empirischen Arbei-
tens hingewiesen wird.
Einleitung 13
Auch sind die in Kapitel 2 dargestellten Verhaltensmodelle nicht als starre
Operationalisierungsanweisungen zu verstehen. In die jeweilige Theorie muss
der institutionelle Rahmen einbezogen werden, innerhalb dessen Wahlen statt-
finden, und die gesellschaftlichen Bedingungen sowie die daraus resultierenden
Werte und Attitüden oder anders ausgedrückt: die politische Kultur der entspre-
chenden Wahleinheit (Nation, Region, Kommune). Alle Aussagen, zu denen
man schließlich kommt, sind naturgemäß Wahrscheinlichkeitsaussagen, die
immer wieder an der Realität gemessen werden müssen und bei einem solchen
Vergleich auch scheitern können. Dies ist der typische Charakter empirischer
Theorien.
Aber die empirische Wahlforschung deckt nicht nur das Erkenntnisinteresse
der Wissenschaft ab, auch die Öffentlichkeit ist interessiert an einer umfassenden
Ergebnisdarstellung und möglicherweise auch an einer Analyse der Ergebnisse.
Vor allem aber möchten die Parteien eine Erfolgskontrolle ihres Tuns haben
bzw. aus der Analyse von Wahlen erkennen, wie sie ihre eigenen Erfolgschancen
verbessern können; deshalb hat Wahlforschung eine Reihe von sehr unterschied-
lichen Interessenten.
Alle Ereignisse von gesellschaftlicher Relevanz unterliegen der Neugierde
der Wissenschaft. Dass Wahlen von großer gesellschaftlicher Relevanz sind, darf
man annehmen. In demokratisch organisierten Gesellschaften sind die Entschei-
dungen der Wähler nun mal die Grundlage der politischen Machtverteilung. Der
Wähler ist also der Souverän. Das wissenschaftliche Interesse konzentriert sich
in diesem Fall darauf, Richtung und Ausmaß von Verhaltenskomponenten und
die Beständigkeit der Zusammenhänge festzustellen, schließlich aber auch die
Möglichkeit zu ergründen, aus diesen Erkenntnissen zukünftiges Verhalten abzu-
leiten.
Eine besondere Legitimation der Wahlforscher könnte darin bestehen, dass
ihre Arbeit dazu dient, überprüfbar zu machen, ob die Ziele, die durch den Wahl-
vorgang beabsichtigt sind, nämlich die gewaltfreie Umsetzung des Volkswillens
in ein Machtkonstrukt, tatsächlich erreicht werden, ohne dass substantielle Rech-
te des einzelnen oder von Gruppen vernachlässigt werden. Dies heißt, dass der
Wahlvorgang nicht nur an den bestehenden gesetzlichen Rahmenbedingungen
gemessen wird, sondern darüber hinaus diese Wahlgesetze oder Wahlordnungen
auch einer kritischen Prüfung im Hinblick auf das Erreichen des Gesamtziels
unterliegen. Doch diese Problematik wird hier ausgeklammert.
Es gibt noch einen recht egoistischen Grund der Sozialwissenschaft dafür,
dass Wählerverhalten ein besonders gut erforschtes Gebiet darstellt: Die regel-
mäßige Wiederkehr von Wahlen, die saubere (offizielle) Datenerhebung und die
nahezu sofortige Verfügbarkeit der Daten eignen sich besonders gut zur Über-
prüfung von wissenschaftlichen Konzepten und Theorien.