Table Of ContentBERICHTE ÜBER DIE VERHANDLUNGEN DER SÄCHSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN ZU LEIPZIG
Philologisch-historische Klasse
97. Band • 3. Heft
WALTER BAETKE
DIE GÖTTERLEHRE DER
SNORRA-EDDA
1950
AKADEMIE-VE KLAG • BERLIN
BERICHTE ÜBER DIE VERHANDLUNGEN DER SÄCHSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN ZU LEIPZIG
Philologisch-historische Klasse
97. Band • 3. Heft
WALTER BAETKE
DIE GÖTTERLEHRE DER
SNORRA-EDDA
1 950
AKADEMIE-VERLAG•BERLIN
Vorgetragen in der Sitzung vom 21. März 1949
Manuskript eingeliefert am 11. Juli 1949
Druckfertig erklärt am 14. Februar 1950
Erschienen im Akademie-Verlag GmbH., Berlin NW 7, Schiffbauerdamm 19
Lizenz-Nr. 156 • 6407/49-8713/49
Satz und Druck der Buchdruckwerkstätte Gutenberg GmbH., Zweigniederlassung Leipzig
Bestell- und Verlagsnummer: 2026/97/3
Preis: 6,30 DM
WALTER BAETKE
Die (jötterlehre der Snorra-Edda
Soviel auch schon über die Snorra-Edda geschrieben worden
ist, besteht doch über den eigentlichen Sinn und Zweck des
Buches noch immer wenig Klarheit. Das liegt z. T. daran, daß
es sich aus mehreren Teilen sehr verschiedenen Charakters zu-
sammensetzt, deren innerer Zusammenhang nicht ohne weiteres
deutlich ist. Ihren Wert für uns und die Wissenschaft der Welt
hat die Edda als das Buch, das uns die nordische Mythologie
bewahrt hat. Nach der gewöhnlichen Ansicht hat Snorri eine
Poetik für Skalden verfassen wollen und die Mythen nur er-
zählt, um durch sie die Kenningar, die poetischen Umschreibun-
gen, und andere Eigentümlichkeiten der Dichtersprache zu er-
klären. Diese Auffassung trifft gewiß für den zweiten Teil der
Edda, die Skäldskaparmal zu, kaum jedoch für den ersten, die
Gylfaginning. In ihr wird über die Kenningar nicht gehandelt,
überhaupt auf die Sprache der Skalden kein Bezug genommen,
die Mythen dienen nicht zur Erläuterung oder Yeranschaulichung
sprachlicher Erscheinungen. Es ist wahrscheinlich, daß der
Wunsch, ein skaldisches Lehrbuch zu schreiben, Snorri den Ge-
danken zur Schaffung der Edda eingegeben hat. Aber man wird,
wie Siguröur Nordal mit Recht betont, zwischen dem Anlaß und
der Ausführung unterscheiden müssen; wenn es Snorri auch
ursprünglich um die Dichtersprache zu tun gewesen sei, so seien
doch die Geschichten von den Göttern so interessant und ein
solcher Stoff zum Betrachten gewesen, daß das Interesse des Yer-
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fassers sich ihm allmählich ganz und gar zuwandte1. Die Gyl-
faginning muß so als durchaus selbständiger Teil der Edda be-
trachtet werden, und sie ist, so wie sieuns vorliegt, eine Mythenlehre,
keine Poetik. Es kann gar kein Zweifel sein, daß bei ihrer Ab-
fassung die Mythen für Snorri Selbstzweck gewesen sind, daß
er sich also wirklich als Mythologe hat betätigen wollen. Damit
ist der Ausgangspunkt gewonnen für die weitere Fragestellung.
Wir haben den Sinn eines literarischen Werkes ja wohl erst
dann verstanden, wenn wir das innere Verhältnis des Verfassers
zu seinem Stoff und die Gedanken, die ihn bei seiner Gestaltung
geleitet haben, kennen. Bei einem mythologischen Werk des
Mittelalters wird man die religiöse Einstellung des Verfassers
nie außer Betracht lassen können; von ihr hängt sein Verhältnis
zu den Gestalten und Inhalten der mythologischen Überlieferung
wesentlich ab. Nun wissen wir, daß Snorri seine Edda im ersten
Drittel des 13. Jahrhunderts schrieb, über 200 Jahre nach der
Einführung des Christentums in Norwegen und Island, und es
kann eigentlich kein Zweifel sein, daß sein Interesse an den
alten Göttern ein vorwiegend historisches, wissenschaftliches
war. Verband sich aber damit vielleicht doch auch ein religiöses
Interesse? Hielt er die Mythen in irgendeinem Sinne für wahr?
Trug er vielleicht noch einen — wenn auch durch das Christen-
tum abgeschwächten und modifizierten — Glauben an die alten
Götter im Herzen? Wollte er vielleicht in der Edda davon Zeug-
nis ablegen oder die Götter seinen Zeitgenossen durch sein Buch
näherbringen? Es möchte bei dem heutigen Stande der For-
schung vielleicht überflüssig erscheinen, diese Frage aufzu-
werfen. Aber das ist von anderer Seite neuerdings geschehen.
HANS KUHN hat in seinem Aufsatze „Das nordgermanische
Heidentum in den ersten christlichen Jahrhunderten2" allen
Ernstes die These verfochten, Snorri habe tatsächlich an die
Wahrheit der von ihm erzählten Mythen geglaubt. „Die Mythen",
1 Siguröur Nordal, Snorri Sturluson, S. 107.
2 Zs f. d. Alt. Bd. 79, 1942, S. 133 ff.
Die Götterlehre der Snorra-Edda 5
sagt er, „haben die 200 Jahre vor Snorri nicht im Aktenschrank
gelegen, von keinem angerührt. Sie lebten fort, wurden weiter-
geglaubt und wandelten sich weiter." Snorri habe, als er die
Edda schrieb, sein Christentum draußen gelassen, die Vermensch-
lichung und die Verteufelung von den Göttern ferngehalten und
dadurch viel gemildert. „Aber er hat nicht alle Widersprüche
beseitigt und kein System geschaffen. Hätte er nur als Alter-
tumsfreund geschrieben, dann wäre er dem wohl nähergekom-
men. Er hatte das Zeug dazu. Darum scheint mir auch dies ein
Zeugnis dafür, daß er andasm eiste, waserdaschrieb,
geglaubtha t1" (a. a. 0., S. 165). Das schließt natürlich den
Glauben an die heidnischen Götter ein. Und so meint denn auch
Kuhn, wir müßten damit rechnen, daß Snorri an einen zwei-
fachen Odin geglaubt habe, nicht nur an den Menschen, der einst
die Einwanderung aus dem Orient geleitet hatte, sondern auch
an den Gott, der immer noch leibhaftig unter die Menschen kam
und in ihre Kriege eingriff. Es ist klar, daß unter dieser Voraus-
setzung die Mythen und die Aussagen über die Götter in der
Edda ein ganz anderes Gesicht gewinnen; aus dem mythologi-
schen Handbuch würde, wenigstens zum Teil, ein Glaubensbuch
oder eine Bekenntnisschrift. Die Frage, wieweit Snorri noch an
die alten Götter geglaubt hat, ist ein Teil der größeren Frage
nach dem Fortleben des Heidentums in den ersten christlichen
Jahrhunderten, die Kuhn in jenem Aufsatz behandelt hat. Das
Problem ist nicht nur, wie er mit Recht betont, von allgemeiner
religionsgeschichtlicher Bedeutung; es berührt aufs engste auch
die Frage nach dem religionsgeschichtlichen Wert der Edda und
das Urteil über Snorris gesamte mythologische und wissenschaft-
liche Tätigkeit. Wir müssen uns daher zuerst mit ihm ausein-
andersetzen.
KUHN schlägt den Quellenwert der Edda verhältnismäßig
hoch an; er räumt ein, daß die Mythen in den 200 Jahren vor
Snorri sich, zum Teil unter dem Einfluß christlicher Vorstellun-
1 Sperrung von W. B.
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gen, gewandelt haben, meint aber, daß Snorri selbst sich im
wesentlichen treu an die Überlieferung gehalten habe. Die gegen-
teilige Ansicht hat bekanntlich EUGEN MOGK vertreten. Er hat
sich in mehreren sorgfältigen Untersuchungen um den Nachweis
bemüht, daß Snorri nicht nur seine Quellen frei wiedergegeben,
sondern auch Überliefertes selbständig kombiniert, Unverstan-
denes frei gedeutet, Lücken durch eigene Phantasie ausgefüllt,
ausländischen Werken Motive1 entnommen habe usw., daß also
die von ihm erzählten Geschichten großenteils sein eigenes Werk
sind. Mag MOGK auch in einzelnen Punkten geirrt haben, mag
die Annahme, daß in Reykjaholt unter Snorris Leitung gleich-
sam eine Dichterschule gearbeitet habe, die eine neue Dichtungs-
art, die „mythologische Novelle", geschaffen habe, über das
Beweisbare hinausgehen, so hat er m. E. doch überzeugend
nachgewiesen, daß Snorri sich bei der Behandlung des überlie-
ferten mythologischen Stoffes große Freiheiten erlaubt hat und
daß sowohl seine dichterische Phantasie wie seine Gelehrsam-
keit an der Gestaltung der in der Edda vorliegenden Götter-
geschichten wesentlichen Anteil haben. Dieses Ergebnis seiner
Untersuchungen ist auch von den meisten Forschern anerkannt
worden. Wenn KUHN meint, die Annahme künstlichen Weiter-
bildens beruhe auf dem Irrtum, daß wir nahezu alle Quellen
Snorris kennten, so daß alles, was nicht in ihnen enthalten ist,
seine eigenen Zutaten oder Fehler seien, so trifft das keineswegs
zu. MOGK hat die Möglichkeit, daß Snorri mehr Quellen als wir
kennen zur Verfügung gestanden haben, sehr wohl erwogen,
aber er hat' über die Art dieser Quellen, über das Wesen mythi-
scher Vorstellungen und ihr Fortleben in christlicher Zeit andere
und, wie ich meine, gesündere Ansichten gehabt als KUHN1.
Gewiß: das Fortleben des Heidentums auf Island und sein
Kampf mit dem sich immer mehr befestigenden und ausbreiten-
1 Vgl. EUGEN MOGK, F. F. Communications XV, 51, S. 10 ff; Bericht© über
die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissensch., Phil. hist. Kl.,
84. Bd., 1932, 2. Heft, S. 3 f.
Die Götterlehre der Snorra-Edda 7
den Christentum in den ersten Jahrhunderten ist ein komplizierter
und nicht leicht zu beurteilender Vorgang. Es ist bekannt, auf
wie äußerliche Weise (durch einen Beschluß des Allthings) sich
der offizielle Übertritt der Isländer zum Christentum vollzogen
hat und wie langsam es mit der Ausbildung eines geordneten
Kirchenwesens auf der Insel vorangegangen ist. Die geographi-
schen Verhältnisse, die den Verkehr zwischen den Bezirken und
Gehöften und damit auch die Gemeindebildung so sehr erschwer-
ten, die geringe Anzahl der Geistlichen, ihre Abhängigkeit von
den Großbauern, die das Eigentumsrecht an den Kirchen be-
saßen, die Abgelegenheit des Landes, die dem in Lund sitzenden
Erzbischof ein tatkräftiges Eingreifen in die kirchlichen Ver-
hältnisse kaum ermöglichte, das alles hat die Entwicklung des
Christentums auf Island naturgemäß schwer gehemmt und be-
wirkt, daß das Heidentum sich in manchen seiner Positionen
verhältnismäßig lange halten konnte. Aber es hat sich dabei um
Jahrzehnte, nicht um Jahrhunderte gehandelt. Schon um die
Mitte des 11. Jahrhunderts nimmt die kirchliche Organisation
Islands mit der Begründung des Bistums Skalholt feste Gestalt
an; und die bedeutende Persönlichkeit des Bischofs Gizur Is-
leifsson (1082—1118), der das Bistum in Holar gründete und den
Zehnten einführte, hat der Kirche im ganzen Lande Ansehen und
Einfluß verschafft. Spätestens 100 Jahre nach der Einführung
des Christentums stand sie äußerlich und innerlich gefestigt da.
Aber auch im 11. Jahrhundert hat das Heidentum als Religion
kaum noch eine bedeutende Rolle gespielt. Die Kristnisaga be-
richtet, daß die Dinge, die man auf dem Allthing des Jahres 1000
den Heiden zugestanden hatte (Pferdefleischessen, Kindesaus-
setzung, heimliches Opfern) bald ganz von selbst verschwanden,
d. h. die Leute machten keinen Gebrauch mehr davon. Ob das
freiwillig oder unter dem Druck des norwegischen Königs ge-
schah, tut wenig zur Sache. Hätte man innerlich mehr am Hei-
dentum gehangen, würde man kaum so leicht darauf verzichtet
haben; man hätte es heimlich weitertreiben können. Daß man
darauf verzichtete, ist von entscheidender Wichtigkeit. Es zeigt,
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daß die Kraft des Heidentums gebrochen war. Der Allthings-
beschluß des Jahres 1000, so äußerlich er uns anmutet, bedeutet
religionsgeschichtlich doch sehr viel. Um das zu verstehen, muß
man freilich wissen, daß die heidnische Religion nicht eine Sache
persönlichen Glaubens, sondern ein Politikum, eine Volks- und
Staatsangelegenheit war. Sie ruhte nicht auf der Überzeugung
des einzelnen, sondern auf dem öffentlichen Kult, von dem nach
heidnischem Glauben Erntesegen, Wohlfahrt, Friede und Ord-
nung, kurzum die geordnete Existenz von Volk und Staat ab-
hing. Der Schiedsspruch, den der heidnische Gesetzessprecher
Thorgeir fällte, lief im wesentlichen darauf hinaus, daß statt
der alten Götter nun der Christengott es sein sollte, dem der
öffentliche Kult galt, ihm also die Existenz und die Wohlfahrt
des Staates anvertraut werden sollten. Das war, wie der Vorgang
deutlich zeigt, das Ergebnis einer politischen Erwägung — die
Rechtsgemeinschaft und damit die staatliche Einheit sollte ge-
rettet werden — aber es war darum nicht weniger auch ein reli-
giöser Akt; denn der Staat war, weil er auf dem Kult ruhte, ein
religiöser Staat, wie alle antiken Staaten — es ist kein Zufall,
daß das isländische Staatswesen sich auf den Godentümern auf-
baute, die primär kultische Funktion hatten. Die religionsge-
schichtliche Bedeutung des Vorgangs besteht gerade darin, daß
er zeigt, daß der Glaubenswechsel für die heidnischen Isländer
nicht in einem Wechsel der religiösen Vorstellungen bestand,
sondern eine willensmäßige Entscheidung war: die Entscheidung
für die Herrschaft des neuen, fremden Gottes. Damit waren die
alten Götter entmachtet wie abgesetzte Fürsten. Für die Staats-
und Rechtsgemeinschaft bedeuteten sie nichts mehr. Es ist mög-
lich, daß einzelne aus persönlicher Treue noch lange an ihnen
festhielten, auch Opfer darbrachten; das waren dann reine Pri-
vatkulte, ohne Zusammenhang mit dem öffentlichen Kultwesen,
und schon darum bedeutungslos und in sich fragwürdig, ganz
abgesehen von der gebotenen Heimlichkeit. Es wird nicht lange
gedauert haben, bis man dieses Opferwesen mit der Zauberei
zusammenwarf, wie das in den Sagas üblich ist. Die Flamme des