Table Of ContentDie ED - eine politische Gemeinschaft
im Werden
F orschungen zur Europaischen Integration
Band 7
Ingeborg Tommel
Chryssoula Kambas
Patricia Bauer (Hrsg.)
Die EU - eine politische
Gemeinschaft im Werden
Leske + Budrich, Opladen 2002
Gedruckt auf sliurefreiem und alterungsbestlindigem Papier.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Ein Titeldatensatz fUr die Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhliltlich
ISBN 978-3-8100-3589-9 ISBN 978-3-322-93447-5 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-322-93447-5
© 2002 Leske + Budrich, Opladen
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Inhaltsverzeichnis
Einfiihrung............................................................................................... 7
Die ED: Eine politische Gemeinschaft im Werden?................................. 9
Ingeborg Tommel, Chryssoula Kambas, Patricia Bauer
I. System-Entwicklung und Politikgestaltung: Die Interaktion
zwischen europiiischer, nationaler und regionaler Ebene ................... 21
Europaisierung und die Transformation des Nationalstaates:
Ergebnisse empirischer Fallstudien ........................................................... 23
Maria Green Cowles / Thomas Risse
Die Rolle supranationaler Institutionen bei der Weiterentwicklung des
europaischen Integrationsprozesses:
Policy entrepreneurs oder Logistik-Dienstleister? ..................................... 47
Anne Faber
Europaische Mehrebenen-Demokratie?
Dezentrale Steuerung und demokratische Legitimation am Beispiel
europaischer Beschaftigungspolitik........................................................... 63
Holger Huget
Geschlechterpolitik in Europa: Supranationale Gestaltungsimpulse
und mitgliedstaatliche Systemtraditionen ................................ .................. 95
Nora Fuhrmann
II. System-Entwicklung und Au6enbeziehungen:
Die Interaktion zwischen EU und Drittstaaten ..................................... 105
Regional Integration as Response to External Challenge .................. ........ 107
Walter Mattli
Die politischen Strukturen der EU in der Osterweiterungspolitik ............. 139
Patricia Bauer
Grenzregionen Mittel- und Osteuropas im Vorfeld der
EU-Osterweiterung.................................................................................... 163
Kai Rabenschlag
III. Konzeptionen europaischer Identitat.............................................. 175
Nationale und europaische Identitat in historischer Perspektive ........ ....... 177
Wilfried Loth
Annaherung und Abgrenzung im Europa der Aufklarung:
Sprachenlernen, nationale Identitat, Verstehen des Anderen..................... 189
Wiebke Raben de Alencar Xavier
Pluralisierung der Zivilgesellschaft, Individualisierung der Identitaten:
Europa zwischen nationaler SchlieBung und globaler Offnung................. 207
Richard Munch
Demokratie, Identitat und Konstitutionalismus in Europa:
Ein Kommentar zu Richard Munch........................................................... 229
Jenny Carl
Europa voraussagen................................................................................... 235
Nils Plath
Autorinnen und Autoren ........................................................................ 249
Einfiihrung
Die EU: Eine politische Gemeinschaft im Werden?
Ingeborg rommel, Chryssoula Kambas, Patricia Bauer
1. Einleitung: Die EU als System "sui generis"
In der aktuellen politikwissenschaftlichen Debatte herrscht weitgehend Kon
sens dariiber, dass das politische System der EU als System "sui generis",
also ganz eigener Art, zu charakterisieren ist. Auch wenn Vergleiche mit nati
onalen Staaten, Foderationen, international en Organisationen oder Regimen,
ja sogar mit mittelalterlichen politischen Strukturen oder dem Romischen Im
perium nach wie vor beliebt sind, werden sie doch kaum mit dem Anspruch
lanciert, die EU als eines dieser Systeme charakterisieren zu wollen. Vielmehr
sollen solche Vergleiche primar der Erhellung bestimmter Aspekte des EU
Systems oder der Herausarbeitung gewisser Analogien und weniger seiner er
klarenden Erfassung dienen.
Wenn der vorliegende Band die EU als eine "politische Gemeinschaft im
Werden" thematisiert, so ist damit ebenfalls nicht der Anspruch verbunden,
"the nature of the beast" (Puchala 1972) definitiv erfassen oder gar erklaren
zu konnen. Vielmehr soli an die Debatte urn das System "sui generis" und die
dabei lancierten Konzepte zur Charakterisierung dieses Systems angekniipft
werden. Dabei geht es jedoch nicht darum, diese Charakterisierungen zu
bestatigen oder zu widerlegen, etwa Charakterisierungen der EU als Verhand
lungs system, als Mehrebenensystem, als System multipler Policy-Netzwerke
(vgl. beispielsweise Scharpf 1994a; 1994b; Jachtenfuchs/Kohler-Koch 1996;
Kohler-KochiEising 1999; GrandeIJachtenfuchs 2000). Vielmehr soli zum
einen mit dem Verweis auf die "politische Gemeinschaft" betont werden, dass
die EU nicht mehr langer als eine rein intergouvernementale Veranstaltung zu
werten ist, bei der die Mitgliedstaaten das ~b, Was und Wie und damit auch
das Tempo der Integration bestimmen. Zum Zweiten, und wichtiger, soli
verdeutlicht werden, dass sich jenseits der nationalen Staaten eine neue
politische Ordnung, eine Polity, herausbildet, die - wenngleich nicht als
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supranationaler Staat konzipiert oder konstruiert - dennoch in ihrer Wirkung
als den nationalen Staaten tibergeordnet zu werten ist.
1st damit das EU-System in seinen Grundztigen zwischen intergouveme
mentalem System und supranationalem Staat verortet, so soli jedoch im Fol
genden nicht der Versuch gemacht werden, eine irgendwie geartete Synthese
aus diesen beiden Sichtweisen zu konstruieren. Vielmehr richten sich die
Analysen des vorliegenden Bandes auf die Prozesse, die das EU-System kon
stituieren, reproduzieren, transformieren und konkret auspragen, und die auch
die theoretische Debatte auf den Intergouvemementalismus sowie Supranati
onalismus ausgerichtet haben. Es geht also nicht primar urn die Erfassung der
konkreten Merkmale der politischen Gemeinschaft bzw. des Systems "sui
generis", als vielmehr urn das "im Werden", also urn Dynamiken, die dieses
System hervorbringen und strukturieren. Ausgangsthese ist dabei, dass das
EU-System nicht Produkt eines planmaBigen oder intentionalen Prozesses der
Obertragung von Kompetenzen oder gar der Systemkonstruktion auf der eu
ropaischen Ebene ist, als vielmehr die Resultante komplexer, vielfaltig auf
einander einwirkender Prozesse, die teilweise von konvergenten, aber auch
ebenso vielen divergenten Visionen, Planungen, Strategien und Handlungs
weisen einer Vielzahl von institutionellen Akteuren gesteuert bzw. beeinflusst
werden. Erst tiber komplexe Aushandlungs- und Konsensfindungsprozesse
zwischen diesen Akteuren bzw. den entsprechenden Institutionen kommt es
zur Btindelung, Selektion und Modifikation von Integrationskonzepten und
demzufolge zum schrittweisen Ausbau der Systemstrukturen. Mit anderen
Worten: Das EU-System wird als Resultante von komplexen und wider
sprtichlichen Wirkungsfaktoren, Entwicklungsprozessen und -dynamiken ge
sehen, die sich weder in vorgegebenen Bahnen bewegen, noch einer definier
ten oder definierbaren Finalitat zustreben; vielmehr sind es das Kraftespiel
und die Wechselwirkungen zwischen den beteiligten Akteuren und
Institutionen, die ihr konkretes Movens bilden (Tommel i.E.).
2. Prozessdynamiken der europaischen Integration
Wenn im V orgehenden die Herausbildung des EU -Systems als Resultante
komplexer Wirkungsfaktoren, die tiber die Strategien und Handlungen insti
tutioneller Akteure in konkrete Integrationsschritte umgesetzt werden, her
vorgehoben wurde, so lassen sich drei Prozessdynamiken herausschalen, die
in besonderem MaBe als konstitutiv fUr die Herausbildung bzw. Weiterent
wicklung des EU-Systems zu werten sind, und die dementsprechend auch die
Struktur des vorliegenden Bandes bestimmen, namlich:
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1. die Wechselwirkungen zwischen europaischer, nationaler und regionaler
Politik- und Verwaltungsebene bzw., einfacher, zwischen EU-System und
seinen konstitutiven Elementen, den Mitgliedstaaten, oder, noch einfacher,
die Wechselwirkungen im Innem des EU-Systems;
2. die Wechselwirkungen zwischen dem EU-System und extemen politi
schen Systemen, also Drittstaaten, Staatengruppen oder Intemationalen
Organisationen oder, kiirzer, die Wechselwirkungen zwischen dem EU
System und seinem intemationalen Umfeld;
3. die Wechselwirkungen im Bereich der Bildung kollektiver Identitaten
unter dem Dach der EU, konkret: zwischen einerseits der Herausbildung
transnationaler Identitaten und andererseits der Persistenz nationaler oder
auch subnational gepragter Kulturen.
Diese drei Prozessdynamiken umschreiben allerdings jeweils ein sehr weites
und vielschichtiges Feld, so dass es weiterer Eingrenzungen und Prazisie
rungen bedarf, sollen sie als Brennpunkt fur die Btindelung konkreter Analy
sen fungieren.
Bezogen auf die erstgenannte Prozessdynamik, die Wechselwirkung zwi
schen EU-System und Mitgliedstaaten, ergibt sich diese Eingrenzung tiber
den Prozess des Policy-Making bzw. die Politikgestaltung und -implementa
tion im Rahmen der ED. Indem die europaische Ebene bei der konkreten
Ausgestaltung und Umsetzung europaischer Politik immer auf die konstruk
tive Mitarbeit der nationalen und teilweise auch der regionalen Politik- und
Verwaltungsebenen angewiesen ist, ergibt sich tiberhaupt erst eine struktu
rierte Interaktion zwischen den beteiligten Institutionen und Akteuren, tiber
die sich in der Folge nicht nur neue Formen der politischen Steuerung heraus
bilden, sondem durch die auch die Systemstruktur der EU eine Ausdifferen
zierung und Konsolidierung erHihrt. Dabei ist hervorzuheben, dass sich die
Ebenen tibergreifende Interaktion nicht auf staatliche bzw. Offentliche Ak
teure beschrankt; vielmehr werden in zunehmendem MaBe auch nicht-staatli
che bzw. private Akteure, Institutionen und Organisationen in diesen Prozess
einbezogen, was seinerseits zu einer weiteren Ausdifferenzierung und
zugleich Komplexitatserhohung des EU-Systems fuhrt. Denn im Rahmen eu
ropaischer Politikgestaltung und -implementation ist es nicht nur die EU, die
den Mitgliedstaaten, den Regionen oder den nicht-staatlichen Akteuren neue
Verfahrensweisen auferlegt, womit sie sie zur Erbringung von systemischen
Anpassungsleistungen zwingt; vielmehr sind es auch umgekehrt die de zen
tralen Institutionen und Akteure, die gestaltend oder sogar strukturbestim
mend auf die Entfaltung des EU-Systems und seine konkrete Auspragung
einwirken.
Zur zweitgenannten Prozessdynamik ist eingrenzend zu bemerken, dass es
einerseits allgemeinere Herausforderungen sind, etwa veranderte globale
Konstellationen, Prozesse der okonomischen Modemisierung und Intematio-
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