Table Of ContentDas gesollte Wollen
Diana Lindner
D as gesollte Wollen
Identitätskonstruktion zwischen
Anspruchs- und Leistungs-
individualismus
Diana Lindner Bernhard Schmidt
Oldenburg, DeutschlandVoestalpine Langenhagen, Deutschland
Linz, Österreich
Zugl. Dissertation an der Universität Bremen, 2012
Gefördert von der Universität Oldenburg (Fakultät für Bildungs- und Sozialwissen-
schaft en)
ISBN 978-3-531-19192-8 ISBN 978-3-531-19193-5 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-531-19193-5
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Springer VS
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
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Einmal wissen dieses bleibt für immer
Ist nicht Rausch der schon die Nach verklagt
Ist nicht Farbenschmelz noch Kerzenschimmer
Von dem Grau des Morgens längst verjagt
Einmal fassen tief im Blute fühlen
Dies ist mein und es ist nur durch dich
Nicht die Stirne mehr am Fenster kühlen
Dran ein Nebel schwer vorüber strich
Einmal wirklich fassen und nie wieder
alles geben müssen, was man hält
Klagt ein Vogel? Ach, auch mein Gefieder
Nässt der Regen flieg ich durch die Welt
Einmal fassen tief im Blute fühlen
Dies ist mein und es ist nur durch dich
Klagt ein Vogel? Ach, auch mein Gefieder
Nässt der Regen flieg ich durch die Welt.
(Text: Hildegard Maria Rauchfuß)
Inhalt
Einleitung .............................................................................................................. 11
Fragestellung ......................................................................................................... 14
Gliederung und Aufbau der Darstellung ........................................................... 16
1 Individualisierung und Optionenvielfalt ................................................................ 19
1.1 Die Entdeckung des Individuums als Grundlage für
Individualisierungsprozesse ........................................................................ 21
1.2 Individualisierungsschübe ........................................................................... 23
1.2.1 Individualisierung als Wechselverhältnis von
gesellschaftlichen und individuellen Forderungen ........................ 30
1.3 Die klassische Individualisierungstheorie ................................................. 32
1.4 Die moderne Individualisierungstheorie ................................................... 37
1.4.1 Empirische Überprüfung der Beckschen
Individualisierungsthese ................................................................... 41
1.4.2 Handlungstheoretische Lücke in der
Individualisierungstheorie ................................................................ 47
1.5 Umgang mit Optionenvielfalt – Grundlage für eine
handlungstheoretische Fundierung ............................................................ 51
1.5.1 Optionenvielfaltbedingungen und die Entwicklung von
Identität .............................................................................................. 53
1.5.2 Selbstverwirklichung und Zielsetzungsstrategien.......................... 55
1.6 Theoretischer Zugang für die Erklärung individualisierter
Handlungslogik ............................................................................................. 58
2 Anspruchshaltungen als Selbstverwirklichungsstrategie ...................................... 67
2.1 Der Begriff des Anspruchs ......................................................................... 68
2.2 Ansprüche im Rahmen von Selbstverwirklichung ................................... 71
2.2.1 Ansprüche als entwicklungsbasierte Seinsforderungen ................ 73
2.2.2 Ansprüche als Ressourcenforderungen .......................................... 78
2.2.3 Ansprüche als motivationsbasierte Leistungsansprüche .............. 83
2.3 Die Steigerungsdynamik von Ansprüchen durch soziale Vergleiche .... 86
2.4 Überforderung durch Anspruchshaltungen – normative
Anspruchsdiskussion ................................................................................... 90
8 Inhalt
2.5 Sozialtheoretische Zusammenschau auf Selbstverwirklichung durch
Ansprüche ..................................................................................................... 95
3 Anspruchsgeleitete Identitätsentwicklung und Anerkennung .......................... 101
3.1 Der Identitätsbegriff als soziales Konstrukt ........................................... 102
3.1.1 Identität als Ergebnis von Interaktionen ..................................... 105
3.1.2 Identitätsbestimmung als eigeninitiativer Akt ............................. 109
3.1.3 Patchwork-Identität als Folge von Optionenvielfalt .................. 113
3.2 Identitätsentwicklung unter individualisierten Bedingungen ............... 116
3.2.1 Identitätsentwicklung mittels Ansprüchen .................................. 118
3.3 Anerkennung – Grundlegung für anspruchsgeleitete
Identitätsentwicklung ................................................................................. 119
3.3.1 Anerkennungsverhältnisse in der Moderne ................................. 121
3.3.2 Anerkennung von Ansprüchen als Identitätsstabilisatoren ....... 127
3.4 Stabilisierung von entwicklungsbasierten Seinsforderungen
durch das Anerkennungsverhältnis Liebe und emotionale
Wertschätzung ............................................................................................ 130
3.5 Stabilisierung von Ressourcenforderungen durch das
Anerkennungsverhältnis Recht ................................................................ 140
3.6 Stabilisierung von motivationsbasierten Leistungssprüchen
durch das Anerkennungsverhältnis positionale Wertschätzung .......... 147
3.7 Anerkennung von Ansprüchen und ihre Steigerungsdynamik ............ 153
3.8 Identitätsorganisierende Wechselwirkungen durch
Anerkennungsgewichtung ......................................................................... 155
3.9 Gesellschaftstheoretische Gesamtbetrachtung einer
anspruchsgeleiteten Identitätsentwicklung ............................................. 157
4 Anerkennungsmechanismen im Leistungs- und Erfolgsindividualismus ........ 163
4.1 Vorläufer des aktuellen Leistungsindividualismus ................................. 164
4.2 Wandel des Leistungsbegriffs ................................................................... 167
4.3 Individuelle Leistungsansprüche oder Forderungen nach Leistung? .. 169
4.3.1 Selbstverwirklichung im Beruf ...................................................... 170
4.3.2 Selbststeuerung als Forderung ....................................................... 174
4.4 Subjektmodelle zum Leistungsindividualismus ...................................... 179
4.4.1 Bröcklings Ansatz zur Selbstrationalisierung ............................... 179
4.4.2 Reckwitz` Konzept des hybriden Subjekts .................................. 182
4.5 Anerkennungsmechanismen im Leistungsindividualismus .................. 186
4.5.1 Leistungsindividualismus und positionale Wertschätzung ........ 187
4.5.2 Leistungsindividualismus im Rahmen von
Ressourcenforderungen .................................................................. 192
4.5.3 Leistungsindividualismus im Rahmen von Intimbeziehungen .. 197
Inhalt 9
4.6 Zusammenfassende Betrachtung ............................................................. 205
5 Fazit und Anschlussmöglichkeiten für empirische Überprüfungen ................ 209
Literatur .................................................................................................................... 221
Einleitung
Zu keiner Zeit der soziologischen Theoriebildung wurden gesellschaftliche Verän-
derungen und deren Auswirkungen auf die individuelle Lebensgestaltung so umfas-
send diskutiert wie während des Individualisierungsdiskurses. Die hier thematisier-
ten tiefgreifenden strukturellen Umwälzungen waren äußerst öffentlichkeitswirksam
und führten zu kritischen Gesellschaftsdiagnosen mit oftmals feuilletonistischem
Charakter, die den Normen- und Sittenverfall, soziale Kälte, einen ausgeprägten
Egoismus und den Verlust von Bindungsfähigkeit herauf beschworen. Individuali-
sierung war lange Zeit das Modethema, vor allem für individualismuskritische Geis-
ter. Dies wurde zusätzlich durch die Einschätzung zweier Sozialforscher verstärkt,
die bereits 1993 ein Ende des Individualismus mit der Begründung ausriefen, dass
sich derartige Kulturen grundsätzlich selbst zerstören und deshalb immer wieder
von gemeinschaftsorientierten Kulturen abgelöst werden (vgl. Miegel/Wahl 1993).
Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der globalen Finanzkrise verschmelzen
diese Argumente aktuell mit einer umfassenden Kapitalismuskritik und zeichnen ein
noch negativeres Bild von gewinnmaximierenden, konsumorientierten und kühl
kalkulierenden Individuen. All diese Argumentationen setzen das individualisierte,
autonom handelnde Individuum voraus, ohne die tatsächlich wirksamen Bedingun-
gen für sein Handeln zu erfassen. Dies war lange Zeit Aufgabe der Individualisie-
rungstheorie.
Die Phase der Hochkonjunktur der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der
Individualisierungsthese ist jedoch seit einigen Jahren vorbei. Explizit theoretische
Systematisierungsversuche liegen nunmehr 10 Jahre zurück (vgl. Junge 2002; Schro-
er 2000). Zu komplex schienen die dort zusammengetragenen Elemente von gesell-
schaftlichen Veränderungen und neuen individuellen Anforderungen, als dass sie in
einem theoretischen Modell gebündelt werden könnten. Die Ambivalenz zwischen
der Erzeugung individueller Freiräume und der Forderung nach ihrer Nutzung zeigt
sich in derart vielen Wechselwirkungen, dass eine Weiterverfolgung der theoreti-
schen Konzeptualisierung nicht praktikabel erschien. Dies bescheinigt auch ein
gerade erschienener Sammelband mit dem Titel „Individualisierungen“ (Ber-
ger/Hitzler 2010), in dem sowohl die zusammengetragenen theoretischen als auch
empirischen Befunde Beleg für die Schwierigkeit sind, von Individualisierung als
einem einheitlichen Phänomen zu sprechen, das den Individuen insgesamt mehr
Freiheiten einräumt, aber auch mehr Handlungsdruck erzeugt.
D. Lindner, Das gesollte Wollen, DOI 10.1007/978-3-531-19193-5_1,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
12 Einleitung
Ein anderer Sammelband mit dem Titel „Handeln unter Unsicherheit“ (Böh-
le/Weihrich 2009) legt offen, dass die Individualisierungsthese bisher vor allem auf
handlungstheoretischer Ebene diffus und erklärungsarm bleibt. Der Urheber der
modernen Individualisierungsthese, Ulrich Beck, kritisiert an bestehenden hand-
lungstheoretischen Erklärungen, dass sie sich nicht „der ontologischen Unsi-
cherheit“ (Beck 2007: 347) stellen, durch die das individuelle Handeln geprägt ist,
sondern sich stattdessen auf Gewinnmaximierung konzentriert. Er selbst hat sich
von Anfang an eher auf die objektiven Veränderungen konzentriert und die theore-
tische Ausarbeitung auf handlungstheoretischer Ebene vernachlässigt. „Individuali-
sierung (meint) ein makrosoziologisches Phänomen, das sich möglicherweise – aber
eben vielleicht auch nicht – in Einstellungsveränderungen individueller Personen
niederschlägt.“ (Beck 2008: 303). Empirische Beiträge der letzten Jahre zur Indivi-
dualisierung argumentieren aber grundsätzlich aus der Perspektive einer veränderten
Einstellung von Personen unter individualisierten Bedingungen. In den Beiträgen ist
beispielsweise von einer Individualisierung des Rechts, des Unterrichts, der Ge-
sundheit oder der Mediennutzung die Rede. Hierbei geht es um eine allgemeine
Berücksichtigung der individuellen Besonderheiten von Personen. Dies zeigt, dass
in vielen gesellschaftlichen Bereichen mit einem nunmehr durch immer differen-
ziertere Bedürfnisse gekennzeichneten Individuum gerechnet wird.
Sucht man nach einer übergreifenden Perspektive auf die sich im Handeln aus-
drückende Individualisierung, dann ist das fordernde, Ansprüche stellende Indivi-
duum ein Bezugspunkt. So sehr der sich durch Individualisierung tatsächlich erge-
bene erweiterte Handlungsspielraum für alle Gesellschaftsmitglieder in Zweifel
gezogen wird, so einig scheint man sich darin zu sein, dass die Ansprüche der Indi-
viduen in allen gesellschaftlichen Teilbereichen gestiegen sind.
„Das, worüber die Bürger der demokratischen Staaten heute am besten Bescheid wissen, sind – ihre
Ansprüche. Anspruch auf Wohlergehen und Rechtsansprüche auf alle erdenklichen Mittel zu die-
sem Wohlergehen, das im Wesentlichen materiell definiert wird, bestimmen die Haltung des einzel-
nen gegenüber seinem Staat. Nicht nur den Staat aber sieht diese Gesellschaft als den Adressaten
ihrer Forderungen: auch zwischen den Bürgern selbst hat sich Anspruchsdenken breitgemacht.“
(Höhler 1979: 7).
Aus diesem grundlegenden Kennzeichen von Individualisierung wurde aber zu
keiner Zeit eine theoretische Konsequenz gezogen. Dabei bietet diese Perspektive
die Möglichkeit, eine Verhältnisbestimmung von Individuum und Gesellschaft unter
individualisierten Bedingungen zu entwickeln. Betrachtet man den Individualisie-
rungsprozess insgesamt als eine Zunahme von individuellen Ansprüchen, deren
Erfüllung zum gesellschaftlichen Programm geworden ist, dann erscheint die Prob-
lematik der Ambivalenz von Freisetzung und neuartigen Handlungsbeschränkungen
in einem neuen Licht. Denn Ansprüche zu stellen heißt nicht nur, sich aktiv auf die
Welt zu beziehen, sondern auch das eigene Leben einem bewussten Gestaltungs-