Table Of ContentZimmerli, Das Alte Testament als Anrede
Beitrage zur evangelischen Theologie
Theologische Abhandlungen, herausgegeben von E. Wolf
Band 24
WALTHER ZIMMERLI
Professor in Gottingen
DAS ALTE TESTAMENT
ALS ANREDE
LIBRARY
BETHANY THEOLOGICAL SEMINARY
Corner Of Buttez.fiold & •,layers
Oak 3rook, ii!iitos 60523
19 56
CHR. KAISER VERLAG MON-CHEN
4493g1
CD
1956 Chr. Kaiser Verlag Miinchen
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanisdien Wiedergabe
und der Obersetzung vorbehalten. — Printed in Germany
Satz und Druck: Buchdrudterei Albert Sighart, Fiirstenfeldbrudt
VO RWO RT
Das Miihen urn die RUckgewinnung des Alten Testamentes fiir die
Verkiindigung der diristlichen Kirche ist neu in Gang gekommen.
Zwar kann man kaum sagen, da13 die Kirche schon ernsthaft aufge-
scheucht ware durch den aufregenden Parallel-Vorgang der RUck-
gewinnung des Alten Testamentes durch Israel, der sich in unseren
Tagen vollzieht, und durch den sich die Kirche ganz neu zum Ge-
sprach mit der Synagoge gerufen wissen milike. Man kann nur hoffen,
da13 sich Kirche und Synagoge bald in echter Zwiesprache begegnen —
einer Zwiesprache, die nicht Gesprach im akademischen Raum und
am grUnen Tisch sein wird, sondern em n zutiefst beteiligtes Fragen
nach der Wahrheit des sie beide verbindenden alttestamentlichen
Wortes.
Die christliche Gemeinde hat viel Boden verloren in ihrem Kampf
urn den Besitz des Alten Testamentes. Dieses ist nach der Wissen-
schaftsbewegung der letzten zwei Jahrhunderte in der evangelischen
Kirche (trotz Kirchenkampf) weithin zum Fremdling oder doch zu
einer Verlegenheit geworden. Die Riickgewinnung fiir die Kirche,
die sich, wenn sie redlich geschieht, unmittelbar zum Gesprach mit
Israel offnen mu{, wird nur in engster Fiihlung mit der konkreten
Textauslegung geschehen konnen. Das Ringen urn den legitimen Besitz
des Alten Testamentes wird sich nur im aufmerksamen Hinhoren auf
die Satze dieses Buches und die dann folgende Frage nach dem rechten
Verstandnis dieser Satze vollziehen konnen. Das Milkrauen gegen alle
voreilig pauschalisierende Reduktion auf zusammenfassende theolo-
gische Schlagworte wird em n notwendiger Wesenszug dieser Arbeit
sein miissen.
Die im Folgenden abgedruckten drei Vortrage und zwei Predigten
mochten em n Beitrag zu dieser Arbeit sein. Sie sind bis auf kleinere
Glattungen und die erlauternden Anmerkungen so abgedruckt, wie
sie gehalten worden sind. „Einzelerzahlung und Gesamtgeschichte im
Alten Testament" ist am 15. Oktober 1955 in Bad Boll bei einer
Tagung der Religionsdozenten der padagogischen Akademien vorge-
tragen worden (abgedruda in Heft 4 der Schriftenreihe der padagogi-
schen Studienkommission der Studiengemeinschaft der Evangelischen
Akademien „Die biblische Botschaft in der Bildungskrise der heutigen
Schule", 1956). „Ezechiel, em n Zeuge der Gerednigkeit Gottes" ist emn
Gastvortrag, der anfangs Juni 1955 an den drei deutschschweizeri-
schen theologisdien Fakultaten gehalten wurde. „Das Alte Testament
in der Verkfindigung der christlichen Kirche" ist am 4. Oktober 1955
bei der Zusammenkunft der Leiter der deutschen Predigerseminare in
Nurnberg vorgelegt worden. Die Predigt iiber Ez. 33, 23 ff. und
11, 14 if. habe ich am 26. September 1954, diejenige iiber Ez. 43, 1 if.
am Weihnachtssonntag 1955 in der reformierten Kirche in Gottingen
gehalten. — Durch den unveranderten Druck haben sich gewisse
Parallelausfiihrungen zwischen den einzelnen Vortragen ergeben. Da
diese aber jeweils unter einem eigenen Gesichtspunkt stehen, hoffe ich,
da13 die Wiederkehr der gleichartigen Ausfiihrungen ertraglich bleibt,
vielleicht gar dazu hilft, das Gemeinte besser zu verdeutlichen.
Wenn neben den drei Vortragen auch zwei Predigten vorgelegt
werden, so mOchte darin sichtbar gemacht werden, da13 „das Alte
Testament als Anrede" seine urspriingliche Verbindlichkeit in Zuredit-
weisung und Trostung auch vor der christlichen Gemeinde unserer
Tage keineswegs eingebat hat.
Gottingen, den 21. Januar 1956
Walther Zimmerli
IN HALT
Einzelerzahlung und Gesamtgeschichte im Alten Testament . 9
Ezechiel, em n Zeuge der Gereditigkeit Gottes 37
Das Alte Testament in der Verkiindigung der dwistlichen Kirche 62
Predigt iiber Ezethiel 33, 23-29 und 11, 14-20 . 89
Predigt fiber Ezethiel 43, 1-7a 97
EINZELERZAHLUNG UND
GESAMTGESCHICHTE IM ALTEN TESTAMENT
Das Thema „Einzelerzahlung und Gesamtgeschichte im Alten
Testament", das mir gestellt worden ist, meint offenbar nicht die
historische oder literargeschichtliche Frage nach geschichtlicher und
literarischer Einfiigung und Funktion des Einzelberichtes in seinem
graeren Zusammenhang. Man konnte auch diese Frage aus ihm
heraushOren. Es meint offenbar die eigentliche Verstandnisfrage —
wir diirfen sie ruhig als die theologische Frage bezeichnen: Wie weit
ist beim Lesen der einzelnen Erzahlung im Alten Testament der
graere Zusammenhang, in dem sic steht, mitzuhoren? Wie weit be-
stimmt der grofkre Zusammenhang das Verstandnis der unmittelbar
vorliegenden Teilaussage? Darin ist auch die Frage nach den im
Bereich der alttestamentlichen Erzahlung vorkommenden, die Aus-
legung bestimmenden hauptsaohlichen Grof3zusammenhangen der Er-
zahlung gestellt.
Die Fragestellung ist unverkennbar em n Kind der gegenwartigen
Forschungslage am Alten Testament und so noch etwa vor einem
halben Jahrhundert gar nicht denkbar. Ein paar skizzenhafte An-
deutungen mogen den Weg, der zu dieser Fragestellung gefiihrt hat,
verdeutlichen.
1.
Das Riickgrat des alttestamentlichen Wortes bildet em n groger Ge-
schichtsbericht (Gen. — 2. Reg.), der, anhebend mit der Schopfung
der Welt, herunterfiihrt bis zur Katastrophe des staatlichen Scheiterns
des politisch zwiegeteilten Israel. Im chronistischen Geschichtswerk
steht daneben eine Neuaufnahme der Erzahlung, die sic noch urn
em n paar Generationen weiter hinunterfiihrt, iiber die Wiedererhebung
aus dem Exilstod in die Gemeinde des urn das Gesetz gescharten
Judentums hiniiber. Dieser zwiefache Geschichtsberid-rt fiillt etwas
mehr als die Halfte des Alien Testamentes. Es kann auffallen, wie
sparlich daneben das kleinere erzahlende Einzelmaterial ist. Neben
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den in die Wortsammlungen der Prophetenbiicher eingestreuten Ein-
zelberichten nur das Biichlein Ruth, das durch die abschliefknde Ge-
nealogie (4, 17 ff.) nadaraglich auch noch dem groSen Geschichtsgang
eingekniipft worden ist, das Biichlein Jona, das an eine 2. Reg.
14, 25 im Zusammenhang des graen Geschichtsberichtes erwahnte
Prophetengestalt ankniipft, das Buch Esther und die Rahmen-
geschichte des Hiobbuches. Auth die Danielerzahlung will durch 1,
1 if. geschichtlich zugeordnet werden. Die Tendenz der Einordnung der
losen Einzelstoffe in em n als Gesamtgeschichte erzahltes Ganzes wird
schon dem oberflachlichen Blick erkennbar.
Das Nachdenken iiber das Alte Testament muAte sich daher immer
in besonderer Weise auf die hier berichtete Geschichte geworfen wis-
sen. In dieser Geschichte ist nach dem Selbstanspruch des Alten
Testamentes das Handeln Gottes zu vernehmen. So mate sich denn
auch im Zeitpunkt des Aufkommens einer kritischen Forschung als
erstes die Frage melden: Wie steht es mit dieser Geschichte? 1st
sie solider Grund fiir den Glauben?
Jeder Weg zu einer Geschichte, die nicht unmittelbar meine eigene
Geschichte ist, fiihrt iiber den Berichterstatter. Die kritische Frage
wird infolgedessen sehr rasch zur Frage nach dem Berichterstatter,
seiner Nahe zu dem von ihm Berichteten und den Hilfsmitteln, die
ihm fiir sein Berichten zur Verfiigung gestanden haben. Schon ganz
in den Anfangen der kritischen Pentateuchforschung horen wir von
„Conjectures sur les memoires originaux, dont il paroit que Moyse
s' est servi pour composer le livre de la Genese" 1. Und diese Frage
nach den Quellen bewegt die ganzen folgenden anderthalb Jahr-
hunderte. Aufspiiren der Quellen, urn Gewifiheit iiber die von den
Quellen berithtete Geschichte zu erhalten, das bleibt dabei die trei-
bende Fragestellung. Wenn Wellhausen seine glanzende quellenkriti-
sche Arbeit (1878 unter dem Titel „Geschichte Israels I" erschienen) in
der zweiten Auflage 1883 als „Prolegomena zur Geschichte Israels"
hat ausgehen lassen, so ist dieses Absehen auf die Erkenntnis des
Geschichtslaufes nicht zu iiberhoren. Im Bereich der quellenkritischen
Arbeit gilt es vor allem die rechte historische Reihenfolge der Quellen
herauszuarbeiten, sich iiber die mahlithe Triibung der geschichtlichen
Erinnerung, das Eindringen falsthender Tendenzen, klar zu werden,
urn dann der tendenzreinsten Darstellung, die normalerweise auth die
Jean Astruc, 1753.
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alteste Queue sein wird, die brauchbaren Nachrichten iiber das tat-
sachliche Geschehen zu entnehmen.
Es leidet keinen Zweifel, da13 Wellhausen mit dieser Sicht bei aller
zeitgebundenen Befangenheit in gewissen Entwicklungsschemata Ele-
mente, die fiir die Methodik historischen Arbeitens unaufgebbar
sind, zur Geltung bringt. Aber ist man mit dem Dringen auf den
tendenzreinen Quellenbericht wirklich auf dem Wege zur Erkennt-
nis der Geschichte, die das Alte Testament in semen erzahlenden Par-
tien zu Gehor bringen mochte?
Auf dem weiteren Wege ist vornehmlich der Name Hermann Gun-
kels zu nennen. Es sind zunachst Ansatze Herders, die Gunkel in
der alttestamentlithen Arbeit wieder zum Tragen bringen mochte,
wenn er auf das griindlichere Beachten der Formen des Wortes und
die Ausbildung einer alttestamentlichen Literaturgeschichte dringt.
Folgenschwerer aber ist sein Hinweis darauf, dal Form nichts Be-
liebiges ist, sondern ihre lebensmaffige Bestimmtheit besitzt. Echte
Form hat an bestimmter Stelle ihren Sitz im Leben. Bestimmte gei-
stige Bereithe oder Lebenssituationen des Menschen erzeugen be-
stimmte Formtypen. So wenig Gunkel selber, der seine Ansatze zu-
nachst nur im Bereich des Asthetisthen und Literarischen verstan-
den hat, schon die voile Tragweite seiner Sicht iibersehen hat, so
sehr ist doch zu erkennen, da13 hier etwas ganz Entscheidendes ge-
schehen ist. Der Materialismus der reinen Sachaussage ist durchbro-
then. In dieser formgeschichtlichen Betrachtungsweise wird jede Aus-
sage auch eine bestimmte Komponente personlicher Bestimmtheit be-
kommen. Die Erkenntnis, da13 der Mensch in seiner Aussage nie nur
em n Sachliches aussagt, sondern immer auch etwas von seiner Situa-
tion und Fragestellung mitgibt, die Fragwiirdigkeit der Annahme „ob-
jektiver" Aussagen, die nicht irgendwo schon vom sprechenden und
formulierenden Subjekt her bestimmt waren, kiindet sich hier von
ferne an 2.
Gunkels Arbeit ist naturgema13 in starkem Male den Lieddichtun-
gen des Psalters zugute gekommen. Hier haben er und der seine
Arbeit vollendende Begrich 3 eindrucksvolle Gattungsforschung ge-
trieben. Daneben hat Gunkel aber in seinem Genesiskommentar auch
Soil man hier vom Auftauchen des heute auch die Naturwissenschaft beschaf-
tigenden Problems der Nicht-Objektivierbarkeit spredien?
3 H. Gunkel, Die Psalmen (Gottinger Handkommentar zum Alten Testament),
1926. — H. Gunkel-J. Begrich, Einleitung in die Psalmen, 1933.
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