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Aus dem Leben einer
jüdischen Familie
und weitere autobiographische Beiträge
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Edith Stein/Sr. Teresia Benedicta a Cruce OCD
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort .........................................................................................................4
I. Aus den Erinnerungen meiner Mutter ......................................................6
II. Aus unserer Familiengeschichte: Die beiden Jüngsten ...........................29
III.Von Sorgen und Zerwürfnissen in der Familie ......................................40
IV. Vom Werdegang der beiden Jüngsten ...................................................64
V. Von den Studienjahren in Breslau ........................................................110
VI. Aus dem Tagebuch zweier Mädchenherzen ......................................135
VII. Von den Studienjahren in Göttingen ................................................145
VIII. Aus dem Lazarettdienst in Mährisch-Weißkirchen .........................197
IX. Von Begegnungen und inneren Entscheidungen ...............................230
X. Vom Rigorosum in Freiburg ................................................................248
Ein Beitrag zur Chronik des Kölner Karmel ...........................................259
Anhang .....................................................................................................270
Inaugural-Lebenslauf ................................................................................270
Festgedicht zur Hochzeit von
Erna Stein und Hans Biberstein ...............................................................271
Weihetext ..................................................................................................278
Testament .................................................................................................279
Gebet ........................................................................................................281
Aufzeichnungen von Erna Biberstein, New York 1949 ............................282
Aus dem Leben einer
jüdischen Familie
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Vorwort
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Die letzten Monate haben die deutschen Juden aus der ruhigen Selbstverständlichkeit des Daseins
herausgerissen. Sie sind gezwungen worden, über sich selbst, ihr Wesen und ihr Schicksal,
nachzudenken. Aber auch vielen andern jenseits der Parteien Stehenden hat sich durch die
Zeitereignisse die Judenfrage aufgedrängt. Sie ist z.B. in den Kreisen der katholischen Jugend mit
großem Ernst und Verantwortungsbewußtsein aufgegriffen worden. Ich habe in diesen Monaten immer
wieder an eine Unterredung denken müssen, die ich vor einigen Jahren mit einem Priester und
Ordensmann hatte. Es wurde mir darin nahegelegt aufzuschreiben, was ich als Kind einer jüdischen
Familie an jüdischem Menschentum kennengelernt habe, weil Außenstehende so wenig von diesen
Tatsachen wüßten. Vielerlei andere Aufgaben hinderten mich damals, diesen Vorschlag ernstlich
aufzugreifen. Als im letzten März mit der nationalen Revolution der Kampf gegen das Judentum in
Deutschland einsetzte, fiel er mir wieder ein. »Wenn ich nur wüßte, wie Hitler zu seinem furchtbaren
Judenhaß gekommen ist!«, sagte eine meiner jüdischen Freundinnen in einem jener Gespräche, in denen
man um Verständnis dessen, was da über einen hereinbrach, rang. Die progammatischen Schriften und
Reden der neuen Machthaber gaben Antwort darauf. Wie aus einem Hohlspiegel blickt uns daraus ein
erschreckendes Zerrbild an. Mag sein, daß es in ehrlicher Überzeugung gezeichnet wurde. Mag sein,
daß die einzelnen Züge lebenden Modellen nachgebildet wurden. Aber ist das jüdische Menschentum
schlechthin die notwendige Auswirkung des »jüdischen Blutes«? Sind Großkapitalisten, schnoddrige
Literaten und die unruhigen Köpfe, die in den revolutionären Bewegungen der letzten Jahrzehnte eine
führende Rolle spielten, die einzigen oder auch nur die echtesten Vertreter des Judentums? In allen
Schichten des deutschen Volkes werden sich Menschen finden, die diese Frage verneinen: Sie sind als
Angestellte, als Nachbarn, als Schul- und Studiengefährten in jüdische Familien hineingekommen; sie
haben dort Herzensgüte, Verständnis, warme Teilnahme und Hilfsbereitschaft gefunden; und ihr
Gerechtigkeitssinn empört sich dagegen, daß diese Menschen jetzt zu einem Pariadasein verurteilt
werden. Aber vielen andern fehlen diese Erfahrungen. Vor allem wird der Jugend, die heute von
frühester Kindheit an im Rassenhaß erzogen wird, die Gelegenheit dazu abgeschnitten. Ihnen
gegenüber haben wir, die wir im Judentum groß geworden sind, die Pflicht, Zeugnis abzulegen.
Was ich auf diesen Blättern niederschreiben will, soll keine Apologie des Judentums sein. Die »Idee«
des Judentums zu entwickeln und gegen Verfälschungen zu verteidigen, den Gehalt der jüdischen
Religion darzulegen, die Geschichte des jüdischen Volkes zu schreiben – zu all dem sind Berufenere
da. Und wer sich darüber unterrichten will, der findet eine ausgebreitete Literatur vor. Ich möchte nur
schlicht berichten, was ich als jüdisches Menschentum erfahren habe; ein Zeugnis neben andern, die
bereits im Druck vorliegen oder in Zukunft erscheinen werden: Wem es darum zu tun ist, sich
unbefangen aus Quellen zu unterrichten, dem will es Kunde geben. –
Es war zunächst meine Absicht, die Lebenserinnerungen meiner Mutter aufzuzeichnen. Sie war
immer unerschöpflich im Erzählen, und wenn ich auch nicht hoffen konnte, daß ihr in ihrem hohen
Alter – sie steht im 84.Jahr – noch die Niederschrift gelingen würde, so wollte ich doch versuchen, mir
erzählen zu lassen und ihre Worte möglichst getreu wiederzugeben. Aber auch das erwies sich als sehr
schwierig. Es fanden sich nicht genug ruhige Stunden dafür. Ich mußte bestimmte Fragen stellen, um
in den Strom der Erinnerungen soviel Ordnung und Klarheit zu bringen, wie für einen fremden Leser
zum Verständnis unerläßlich war, und oft war es nicht möglich, greifbare und zuverlässige Tatsachen
festzustellen. Ich stelle im folgenden die kurzen Aufzeichnungen im Anschluß an die Gespräche mit
meiner Mutter voran. Darauf soll ein Lebensbild meiner Mutter folgen, wie ich es selbst zu geben
vermag.
Breslau, 21.IX.33
Edith Stein
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I. Aus den Erinnerungen meiner
Mutter
1.
Der Vater meiner Mutter, Salomon Courant, ist i.J. 1815 geboren. Wo seine Familie herstammt,
daran erinnert sich meine Mutter nicht mehr; sie meint, von der französischen Grenze. Das ist aber
wohl nur eine Vermutung, die durch den französischen Namen nahegelegt wurde. Der kann aber
ebensogut von der damals üblichen Münzbezeichnung »Preußisch Courant« herrühren. Später wohnten
seine Eltern in Peiskretscham Oberschlesien. Er war Seifensieder und »Lichtzieher«. Auf seinen
Wanderungen kam er ins Haus meiner Urgroßeltern in Lublinitz O. S. Er sah meine Großmutter, die
damals 12 Jahre alt war, und sie gefiel ihm gleich. Von da an kam er jedes Jahr. Als sie 17 Jahre alt
war, wurden sie verlobt, und im Jahr darauf war die Hochzeit. Das war das Jahr 1842.
Der Urgroßvater Joseph Burchard stammte aus der Provinz Posen, ebenso seine Frau Ernestine geb.
Prager. Im ersten Jahr ihrer Ehe lebten sie in Hundsfeld i. Schlesien. Als ihr Häuschen dort
niederbrannte, gingen sie nach Lublinitz. Der Urgroßvater war viele Jahre Kantor und Vorbeter. Als er
diesen Posten aufgeben mußte, richtete er eine Wattefabrik ein. Er hatte einen Betsaal im eigenen
Hause. Dort kamen an den hohen Festtagen alle Schwiegersöhne zum Beten zusammen. Er war ein
sehr strenger Vater und Lehrer. Die Enkelsöhne mußten zu ihm kommen, um beten zu lernen. Er
schalt viel, schlug aber nie. Und nie ging ein Kind ohne ein Geschenk aus dem Hause. Die
Urgroßeltern hatten 11 Kinder, 4 Söhne und 7 Töchter. Vom 70. an wurden die Geburtstage als
große Feste gefeiert, zu denen sich möglichst alle Kinder und Enkel einfanden. In einem Tafellied, das
ihr Sohn Emanuel zu einer solchen Gelegenheit dichtete, hieß es: »Selten gab's wohl einen Vater, der
seiner Kinder so bedacht, anscheinend rauh und doch so zarter Sorge über sie gewacht.« – »In den 78
Jahren, / die Dir heut verflossen sind, / hast Du Gottes Huld erfahren, / der Dir gnädig stets
gesinnt. / Immer treu steht Dir zur Seite / Großmama in Freud' und Leide. / Sie schützt Dich und
ist auch uns allen so gut, / vor Unglück und Kummer hält sie uns in Hut.« Dies hat ein Enkelsohn,
Jakob Radlauer, gedichtet, der Sohn der ältesten Tochter Johanna, der Liebling der ganzen Familie. Er
lebte als hochangesehener Kaufmann in Breslau und starb vor einigen Jahren als Greis von 85 J.,
nachdem er seine beiden Söhne im Weltkrieg verloren hatte. (Der ältere, Ernst Radlauer, stand bei
Ausbruch des Weltkriegs als Jurist im Verwaltungsdienst in Ostafrika. Es gelang ihm, in
abenteuerlicher Verkleidung nach Deutschland zurückzukehren, um wichtige Papiere zu retten und ins
Heer einzutreten.) Die Urgroßeltern lebten als alte Leute in großer Armut, aber sie wußten immer
noch etwas für Ärmere zu ersparen. Wenn die Urgroßmutter Kaffee kochte – damals noch eine
Kostbarkeit –, legte sie jedesmal ein paar Bohnen beiseite und sammelte so die ganze Woche. Jeden
Freitag bekam eine arme Frau das Gesammelte. Alle abgetragenen Sachen aus dem eigenen Haushalt
und aus denen der verheirateten Töchter wurden sorgfältig ausgebessert, um sie an Arme zu
verschenken. Bei diesen Näharbeiten mußten die kleinen Enkelinnen tüchtig helfen. Die Großmutter
versammelte sie um sich, leitete sie zur Arbeit an und wachte streng darüber, daß alles mit der größten
Sorgfalt gemacht wurde. Von 6 Jahren an mußten die Kinder Säume nähen, die größeren bekamen die
langen Nähte anvertraut. Ganze Aussteuern für befreundete Familien wurden in dieser Nähschule
gearbeitet.– In den letzten Lebensjahren führten die Urgroßeltern keinen Haushalt mehr. Das Essen
wurde ihnen von den Großeltern gebracht. Das ganze Leben hindurch hatte der Urgroßvater seine Frau
zärtlich geliebt, nie geduldet, daß sie eine grobe Arbeit anrührte. In seiner letzten Krankheit wurde er
von Wahnideen geplagt und faßte Verdacht gegen sie, so daß man sie schließlich aus dem Haus
nehmen mußte. Er starb mit 89 Jahren. Seitdem lebte die Urgroßmutter bei ihrer Tochter Adelheid
Courant, meiner Großmutter. Sie war schon leidend, als sie herüberzog, und ist viele Jahre von ihrem
Schwiegersohn und den Enkelinnen mit der größten Liebe und Sorgfalt gepflegt worden – ihre Tochter
hat sie lange überlebt. Bis zuletzt war sie geistig völlig rege, sie ließ sich gern vorlesen – dazu wurden
noch die Urenkelinnen angestellt, die am Ort lebten oder zu den Ferien kamen – und folgte mit dem
größten Interesse. Sie wurde 93 Jahre alt; sie mußte sehr viel körperlich leiden und fühlte sich auch
sehr bedrückt durch die viele Mühe, die sie verursachte. Meine Mutter hat sie immer eine »wahrhaft
fromme Frau« genannt. In der Synagoge und auf dem Friedhof betete sie mit der größten Sammlung
und Innigkeit, ebenso am Freitagabend, wenn sie die Sabbathlichte anzündete und die zugehörigen
Gebete sprach. Am Schluß pflegte sie hinzuzufügen: »Herr, schicke uns nicht so viel, wie wir ertragen
können.«
Meine Großmutter Adelheid Burchard war von Kindheit an gewöhnt, viel zu arbeiten. Sie und ihre
Schwester Johanna mußten die jüngeren Geschwister hüten. Und weil das kleine Gehalt, das ihr Vater
als Kantor hatte, für den Unterhalt der großen Familie nicht ausreichte, mußten sie sehr zeitig
aufstehen, um in den frühen Morgenstunden feine Handarbeiten zu machen und dadurch etwas zu
verdienen.
Als die Großeltern heirateten, eröffneten sie eine kleine Kolonialwarenhandlung. Nach der Anschaffung
der Waren blieben ihnen als »Barvermögen« 25 Pfennige. Das Geschäft richtete sich durch den Fleiß
und die Tüchtigkeit beider in kürzester Zeit sehr gut ein. Alle Unternehmungen berieten sie gemeinsam,
die Bücher wurden immer von der Großmutter geführt; ohne sie zu befragen, hätte der Großvater nichts
unternommen. Als das Geschäft sich vergrößerte, wurden die jüngeren Geschwister Burchard zur Hilfe
herangezogen und arbeiteten unter der Leitung ihrer Schwester. Fast jedes Jahr kam ein Kind zur Welt.
Das älteste starb als Säugling, die andern 15 sind alle herangewachsen, und die meisten haben ein
hohes Alter erreicht. Von diesen 15 Kindern war meine Mutter das4. Wie die Großmutter ihre eigenen
Eltern hoch in Ehren gehalten und ihnen alle Liebe erwiesen hatte, so erntete sie von ihren Kindern die
größte Verehrung und Liebe. Alle Töchter wurden vom Alter von 4 Jahren an zur Arbeit angehalten,
zur Hilfe im Geschäft, das sich von Jahr zu Jahr vergrößerte, zum Haushalt, den sie später
abwechselnd führten, und zu Handarbeiten. Den Anfangsunterricht erhielten die älteren Geschwister
in der öffentlichen Schule (meine Mutter von 5 Jahren an in einer katholischen Volksschule). Später
begründete mein Großvater für seine 4 Ältesten und die Kinder von noch 3 andern jüdischen Familien
eine Privatschule. Meine Mutter wurde schon mit 12 Jahren aus der Schule genommen, um zu Hause
zu helfen. Sie bekam aber noch einige Privatstunden in Deutsch und Französisch. Alle Söhne wurden
nach außerhalb, schließlich alle nach Breslau, aufs Gymnasium geschickt; 5 wurden Kaufleute, 2
Akademiker (Apotheker und Chemiker).
Der Religionsunterricht wurde von dem jüdischen Lehrer in der Schule erteilt. Es wurde etwas
Hebräisch gelernt, aber zu wenig, um später selbständig übersetzen und mit Verständnis beten zu
können. Die Gebote wurden gelernt, Teile aus der Hl. Schrift gelesen, manche Psalmen (deutsch)
auswendig gelernt. Meine Mutter sagt, daß sie mit der größten Begeisterung diesem Unterricht
beigewohnt habe. Es sei ihnen immer eingeprägt worden, daß sie jede Religion achten, niemals gegen
eine fremde etwas sagen sollten. Die Knaben wurden, wie schon früher erwähnt, vom Großvater in den
vorgeschriebenen Gebeten unterrichtet. Am Sonnabend nachmittag nahmen beide Eltern alle Kinder,
die zu Hause waren, zusammen, um mit ihnen Vesper- und Abendgebet zu beten und es ihnen zu
erklären. Das tägliche Schrift- und Talmudstudium, wie es in früheren Jahrhunderten als Pflicht jedes
jüdischen Mannes galt und bei Ostjuden auch heute noch häufiger gepflegt wird, war im Hause meiner
Großeltern nicht mehr üblich. Aber alle gesetzlichen Vorschriften wurden aufs strengste beobachtet.
(Ich lasse nun folgen, was mir aus früheren Erzählungen meiner Mutter und meiner Geschwister in
Erinnerung geblieben ist und was ich selbst miterlebt habe.)
Über dem Sofa in unserem Wohnzimmer hängen die Bilder meiner Großeltern. Das feine, zarte
Gesicht meiner Großmutter, von einem weißen Häubchen umrahmt, ist sehr ernst und spricht von viel
Leiden. Sie starb lange vor meiner Geburt; was ich von ihr weiß, stammt also nur aus Erzählungen.
Aber ich glaube, sie innerlich zu kennen und herauszufühlen, welche ihrer Töchter und Enkelinnen ihr
besonders gleichen und was vielleicht in mir selbst von ihr herstammen mag. Noch heute klingt
ehrfürchtige Scheu aus der Stimme meiner Mutter, wenn sie von ihr spricht. Die Kinder liefen mit ihren
kleinen Nöten eher zum Vater als zu ihr. Zu meiner Großmutter ging man, wenn man ernsten Rat
brauchte: nicht nur Mann und Kinder und Geschwister, auch viele Fremde. Adlige Damen von den
großen Gütern der Umgegend fuhren oft in ihren Wagen vor, um sie zu besuchen und rechneten es sich
zur Ehre an, sie als Freundin zu haben.
Mein Großvater guckt munter und humorvoll auf den Beschauer herab. An ihn habe ich noch eigene
Erinnerungen. Er starb, als ich fünf Jahre alt war. Er war ein kleiner, lebhafter Mann. Wenn er uns
in Breslau besuchte, zog er aus seinen Taschen für jedes Kind eine Tafel Chokolade. Aber auch die
fremden Kinder auf der Straße wußten, daß er immer etwas für sie bei sich hatte. Wenn bei großen
Familienfesten Torten mit schönen Verzierungen bereitstanden, holte er die kandierten Früchte herunter
und steckte sie uns in den Mund. Er war immer voller lustiger Einfälle und unerschöpflich im
Erzählen von Witzen. Als hervorragend tüchtiger Kaufmann hatte er sich aus den kleinsten Anfängen
heraufgearbeitet, hatte 15 Kinder großgezogen und immer noch für andere, besonders für arme
Verwandte, etwas übrig gehabt. Er lebte im eigenen geräumigen Hause, umgeben von Kindern und
Enkeln, und übte eine unbegrenzte Gastfreundschaft. Nicht nur in dem kleinen Städtchen, wo er
wohnte, sondern in ganz Oberschlesien war er hochgeachtet. Das größte Vertrauen genoß er bei den
Bauern der Umgebung, die am Sonntag zur Kirche und am Mittwoch zum Wochenmarkt in die Stadt
kamen und dabei ihre Einkäufe machten. Einigemal brachte ihm ein Bauer Geld zum Aufheben. Der
Großvater nahm es und sagte: »Wart', ich will dir einen Schuldschein dafür geben.« Er brachte den
Schein, der Bauer betrachtete ihn aufmerksam und gab ihn dann zurück: »Heben Sie mir den mit auf.«
Die Erinnerung an den alten Herrn Courant ist heute noch bei denen lebendig, die ihn kannten. Vor
zwei Jahren besuchte mich öfters eine Dozentin von der pädagogischen Akademie in Beuthen. Als ich
meiner Mutter ihren Namen nannte, meinte sie, die Familie stamme sicher aus Lublinitz. Wir stellten
fest, daß ihr Vater tatsächlich dort aufgewachsen, aber schon mit 16 Jahren fortgezogen war. Als ich
sie einmal zu einem Spaziergang abholte, kam er herein, um mich als Sprößling der Familie Courant
zu begrüßen; das sei ja eine der angesehensten Familien der Stadt gewesen, er könne sich gut an den
alten Herrn erinnern.
In den letzten Jahren war mein Großvater halsleidend und suchte öfters das Bad Salzbrunn auf. Ich
erinnere mich, daß wir ihn dort besucht haben. Auch an seinen 80.Geburtstag erinnere ich mich, zu
dem meine Mutter meine Schwester Erna und mich mitnahm. Es war eins jener großen Feste, wie sie
in unserer Familie als Ausdruck kindlicher Liebe und verwandtschaftlicher Zusammengehörigkeit
üblich sind; das erste, an dem ich teilnehmen durfte. Im Jahr darauf starb mein Großvater. {Zusatz
in der Handschrift Rosa Steins:} Er wurde 83 Jahre und war nur wenige Wochen wirklich krank.
2.
Haus und Geschäft wurden von seinem jüngsten Sohn und zwei unverheirateten Töchtern
übernommen und in seinem Sinn weitergeführt. Das Haus blieb der Mittelpunkt der weitverzweigten
und weitverstreuten Familie. »Ich fahre nach Hause«, sagte meine Mutter noch als alte Frau, wenn sie
in ihre Heimat fuhr. Und für uns Kinder war es die größte Ferienfreude, wenn wir zu den Verwandten
nach Lublinitz fahren durften. Der Direktor, der den Geographieunterricht in unserer Schule gab,
erkundigte sich jedesmal nach den großen Ferien, was für Reisen man gemacht hätte, und quittierte mit
ironischem Lächeln, wenn man nicht weiter als bis Lublinitz gekommen war. Aber das störte uns
nicht. In dem kleinen Städtchen hatten wir die größte Freiheit. Wir wurden nicht viel beaufsichtigt,
wir sollten es nur gut haben und vergnügt sein. Schon in dem großen Haus konnte man sich ganz
anders bewegen als in der engen Mietswohnung, die wir in unseren Kinderjahren in Breslau hatten.
Jeder Winkel war einem schon vertraut und mit jedem feierte man Wiedersehen. Da war der große
Laden mit den verlockenden Bonbonkrausen, den Chokoladenvorräten und den Schubladen, in denen
Mandeln und Rosinen zu finden waren. Es stand uns alles offen; wir waren aber von zu Hause
streng gewöhnt und es bedurfte erst wiederholten Zuredens, bis wir uns trauten, selbst etwas zu
nehmen. Daneben war das Eisengeschäft, das hauptsächlich das Reich meines Onkels war. Auch da
gab es verlockende Dinge, von denen wir gewöhnlich etwas zum Abschied geschenkt bekamen:
Taschenmesser, Scheren u. dgl. Am Wochenmarkt, wenn die Bauern hereinströmten und gar nicht
genügend Hände dasein konnten, durften wir später auch etwas helfen. Wie stolz war man, wenn
man ein paar Brocken Wasserpolnisch aufgeschnappt hatte, um sich mit den Bauern zu verständigen,
oder gar, wenn einem die Bedienung der Kasse anvertraut wurde! Abends saß man plaudernd auf den
Stufen vor der Ladentür oder ging um den »Ring« spazieren, dort saßen auf den Bänken vor den
Häusern alte Bekannte, und in der Mitte stand zwischen hohen Bäumen der hl. Johannes. Am
Sonnabend wurden wir manchmal in die Synagoge mitgenommen.
Mitunter wurde ein Spaziergang in den Wald gemacht und ein Besuch auf dem schönen Friedhof am
Walde, wo unsere Großeltern begraben liegen und in kleinen Kindergräbern Geschwister, die lange vor
unserer Geburt gestorben sind. Den Höhepunkt der Ferienfreuden bedeutete eine Wagenfahrt zu
Verwandten in einer andern oberschlesischen Kleinstadt. Am meisten zog uns aber doch in die Heimat
unserer Mutter die Liebe zu ihren Geschwistern. Der Onkel war etwas kurz angebunden, aber immer
gut und freundlich. Seine Frau und die jüngere unserer beiden Tanten standen den getrennten
Haushalten vor. Sie überboten sich an jugendlichem Übermut, an Witzen und Neckereien; mit ihnen
konnten wir Kinder wie mit unseresgleichen verkehren. Dagegen schauten wir mit Ehrfurcht zu unserer
Tante Mika Friederike auf: Sie nahm den Platz im Hause ein, den einst die Großmutter innehatte,
führte die Bücher, war die Beraterin des Onkels in allen geschäftlichen Angelegenheiten und die
Vertraute aller ihrer Geschwister, der älteren wie der jüngeren, und später auch ihrer Neffen und
Nichten. Wir besitzen ein Jugendbild von ihr, das von einer wunderbaren Anmut, mädchenhaften
Reinheit und tiefem Ernst ist. Sie war die Einzige im Hause, die den Glauben der Eltern bewahrt
hatte und für die Erhaltung der Tradition sorgte, während bei den andern der Zusammenhang mit
dem Judentum von der religiösen Grundlage losgelöst war. Sie stand einsam in ihrer andersgearteten
Umgebung, und ihr Geist sehnte sich hinaus über die engen Schranken der häuslichen und
geschäftlichen Angelegenheiten und des Kleinstadtlebens. Sie las gern, machte zu den Familienfesten –
gemeinsam mit einer andern Schwester – kleine Theaterstückchen, in denen die Personen mit scharfem
Blick und liebevollem Humor gezeichnet waren, besuchte bei Aufenthalten in Breslau oder in anderen
größeren Städten gern das Theater. Einer ihrer Brüder, der wie sie unverheiratet geblieben war, pflegte
sie auf seine Sommerreisen mitzunehmen.
Als wir heranwuchsen, wurden auch unsere Besuche für sie bedeutungsvoll. Sie ließ sich gern von
unsern Studien erzählen, forschte nach unsern Ansichten über dies und jenes und ließ es, wo es ihr
nötig schien, auch an Ermahnungen und Tadel nicht fehlen. Übrigens waren wir ihr etwas zu ernst
und zu wenig weltfreudig. Sie hatte, wohl als Gegengewicht gegen ihre eigene Schwere, heitere und
lebenslustige Menschen gern, hätte uns wohl auch ein sonnigeres Leben, als das ihre es war, gegönnt.
Das Ende ihres Lebens hängt aufs engste zusammen mit dem Verlust der oberschlesischen Heimat.
Lublinitz liegt nicht weit von der polnischen Grenze. Den ganzen Krieg hindurch kamen
Truppentransporte hindurch, und meine Tanten betätigten sich eifrig bei der Verpflegung der Soldaten.