Table Of ContentWalther Müller-Jentsch
Arbeit und Bürgerstatus
Walther Müller-Jentsch
Arbeit und
Bürgerstatus
Studien zur sozialen und
industriellen Demokratie
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1.Auflage 2008
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© VSVerlag für Sozialwissenschaften | GWVFachverlage GmbH,Wiesbaden 2008
Lektorat:Frank Engelhardt
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Umschlaggestaltung:KünkelLopka Medienentwicklung,Heidelberg
Druck und buchbinderische Verarbeitung:Krips b.v.,Meppel
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in the Netherlands
ISBN 978-3-531-16051-1
Inhalt
Über den Tag hinaus .............................................................................................7
Kapitalismus und Zivilgesellschaft
1 Über Produktivkräfte und Bürgerrechte......................................................13
2 Management und Industriekultur.................................................................37
Gewerkschaften und Tarifautonomie
3 Gewerkschaften als intermediäre Organisationen.......................................51
Postskriptum – Intermediaritätsthese revisited............................................79
4 Versuch über die Tarifautonomie.
Entstehung und Funktionen kollektiver Verhandlungssysteme in
Großbritannien und Deutschland.................................................................87
Postskriptum – Tarifautonomie als Konfliktpartnerschaft........................121
5 Berufs-, Betriebs- oder Industriegewerkschaften......................................125
Postskriptum – Nach den Fusionen: Rückkehr der
Berufsgewerkschaften?..............................................................................139
6 Kapitalismus ohne Gewerkschaften?.........................................................143
Mitbestimmung in Organisationen
7 Versuch über die Betriebsverfassung – Mitbestimmung als
interaktiver Lernprozess............................................................................159
8 Industrielle Demokratie – Von der repräsentativen Mitbestimmung
zur direkten Partizipation...........................................................................173
9 Mitbestimmung zwischen wirtschaftlicher Effizienz und
demokratischem Anspruch. Eine Argumentation in zehn Thesen............181
10 Wie robust ist das deutsche Mitbestimmungsmodell?..............................201
Theorien industrieller Beziehungen
11 Technik als Rahmenbedingung und Gestaltungsoption
industrieller Beziehungen..........................................................................213
12 Theorien industrieller Beziehungen...........................................................239
6 Inhalt
Anhang
Nachweise..........................................................................................................287
Literaturverzeichnis...........................................................................................291
Personenregister.................................................................................................310
Über den Tag hinaus ...
... so lautet die eingängige Metapher für Schriften, die der flüchtigen Tagesaktua-
lität standhalten. Wenn, mit gebotener Zurückhaltung, diese Metapher für die
hier versammelten Aufsätze in Anspruch genommen wird, dann nicht, weil der
eine oder andere Beitrag nach über zwanzig Jahren noch als Ausgangspunkt für
theoretische Auseinandersetzungen dienlich ist oder in der universitären Lehre
weiterhin Verwendung findet. Vielmehr deshalb, weil der Autor sie unter seinen
wissenschaftlichen Publikationen als Kernstücke betrachtet, mit denen er – nach
angelsächsischem Vorbild – die Industriellen Beziehungen als einen distinkten
Gegenstand wissenschaftlicher Analyse in Deutschland einzubürgern trachtete.
Gewiss haben schon früh deutsche Wissenschaftler unter anderen Bezeich-
nungen – etwa: „Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit“ (Adolf Weber) oder
„Die Klassen auf dem Arbeitsmarkt und ihre Organisationen“ (Emil Lederer und
Jakob Marschak) – den Industriellen Beziehungen in der ersten Hälfte des vergan-
genen Jahrhunderts ihre Aufmerksamkeit gewidmet. Aber ihre exzellenten Analy-
sen erwiesen sich nicht als schulbildend – letztlich triumphierte die disziplinäre
Arbeitsteilung. Zwischen Industriesoziologie, Arbeitsrecht, politikwissenschaftli-
cher Verbändeforschung, Arbeitsökonomik und Organisationspsychologie konnte
sich schwerlich eine eigenständige Industrial Relations-Forschung etablieren; die
Gräben zwischen den Disziplinen boten dafür keinen fruchtbaren Nährboden.
Die Chance, ihr den Weg zu einer wissenschaftlichen Teildisziplin zu eb-
nen, ergab sich mit dem verlegerischen Anstoß zu einem Lehrbuch,1 das den
Begriff der Industriellen Beziehungen im Titel führt, und der – mit einigen
gleichgesinnten Kollegen aus unterschiedlichen Disziplinen initiierten – Grün-
dung einer Zeitschrift namens „Industrielle Beziehungen“. Inwieweit diesem
Impetus „with a little help from my friends“ Erfolg beschieden war, mögen ande-
re beurteilen. Immerhin bezeugt die Existenz der nunmehr im 15. Jahrgang er-
scheinenden Zeitschrift ein über die Klause des anglophilen Industrial Relations-
Forschers hinausreichendes Interesse an dem interdisziplinären Forschungsfeld.
Die Aufsätze des Sammelbandes stammen aus den letzten fünfundzwanzig
Jahren. Den Zeitkern kann keine Publikation verleugnen, insofern wirkt die Tages-
aktualität ihres Entstehungsdatums auch in den ausgewählten Aufsätzen nach.
1 Soziologie der Industriellen Beziehungen. 1. Aufl. 1986, 2. Aufl. 1997. Frankfurt/M: Campus.
8 Über den Tag hinaus ...
Hinzu kommt: Organisationen und Institutionen sind als historische Gebilde mo-
ving targets – sie entwickeln sich weiter. Dem zeitlichen Abstand tragen die Post-
skripta zu einigen frühen Aufsätzen Rechnung. Zwei zentrale Beiträge, die Kapitel
9 und 12, wurden für die Buchausgabe gründlich überarbeitet, aktualisiert und
substanziell erweitert.
Die thematische Klammer der beiden Aufsätze im ersten Teil bildet das
Spannungsverhältnis zwischen dem Wirtschaftssystem des Kapitalismus und der
Zivilgesellschaft mit ihrer politischen Verfassung und Kultur. Es ist die lebendi-
ge Arbeit, welche die Spannung und den Widerspruch zwischen diesen beiden
Sphären auszuhalten hat – den Widerspruch zwischen dem Status des rechtlich
freien Bürgers und seiner sozialen Unterlegenheit als Lohnabhängiger und Fab-
rikuntertan. Wo Karl Marx nur die „Despotie der Fabrik“ mit ihren „Lohnskla-
ven“ sah und Max Weber das Arbeitsverhältnis als legitimes Herrschaftsverhält-
nis deutete, erkannten andere die soziale Sprengkraft des bürgerschaftlichen
Status mit seinen politischen und sozialen Rechtsansprüchen. Mit der expliziten
Anknüpfung an Thomas H. Marshall und Karl Polanyi widerfährt den bei Marx
unterbewerteten Bürgerrechten und der politischen Kultur Gerechtigkeit. Beide
als Epiphänomene des Überbaus zu marginalisieren, haben schon nachgeborene
Marxisten wie Antonio Gramsci zurückgewiesen.
Der zweite Teil umfasst vier Aufsätze, die Gewerkschaften und Tarifauto-
nomie zum Gegenstand haben. Als Säulen zivilgesellschaftlicher Verfassung
sind sie dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht wenn nicht gleichgestellt,
dann doch wie dieses unverzichtbare Einrichtungen, die bürgerschaftliche Parti-
zipation und Subsidiarität im demokratischen Procedere sicherstellen. Die Bei-
träge reflektieren historische Genese und die miteinander verwobene Entwick-
lung beider Institutionen und führen an die heutige Problematik mit den
Herausforderungen der Globalisierung durch die Infragestellung des rheinischen
Kapitalismus heran.
Die Mitbestimmung mit ihren verschiedenartigen Formen bildet den thema-
tischen Schwerpunkt des dritten Teils. Im Zentrum steht dabei die Mitbestim-
mung als ein rechtlich garantierter Bestandteil der deutschen Betriebs- und Un-
ternehmensverfassungen. Wie die historische Rekonstruktion zeigt, ist sie das
Ergebnis eines langen interaktiven Lernprozesses im Spiel von Macht und Ge-
genmacht der beteiligten Akteure. Neben ihrem spezifischen Entwicklungspfad
interessiert ihre theoretische Ortsbestimmung im begrifflichen Kontext der In-
dustriellen Demokratie. Aufgenommen wird schließlich die aktuelle Diskussion
über die wirtschaftlichen Effekte der Mitbestimmung unter Abwägung der effi-
zienztheoretischen mit den demokratietheoretischen Argumenten und einmün-
dend in den Versuch einer ordnungspolitischen Verankerung im Bezugsrahmen
der Sozialen Marktwirtschaft. Es wäre verwunderlich, wenn im Zeitalter der
Globalisierung diese für das deutsche System der industriellen Beziehungen
Über den Tag hinaus ... 9
älteste und charakteristischste Arbeitsinstitution nicht auch ihre neoliberalen
Verächter fände, die den Test auf ihre Robustheit herausfordern, wie im letzten
Beitrag dieses Teils dokumentiert.
Den Band beschließen im vierten Teil zwei theoretische Abhandlungen. Die
erste konzentriert sich auf die konzeptionelle Verortung einer seit John Dunlops
Publikation „Industrial Relations Systems“ bevorzugten Kontextvariable der
Industriellen Beziehungen: Technik und Technologie. Im Durchgang von Schrif-
ten der deutschen und angelsächsischen Industriesoziologie und Industrial Rela-
tions-Forschung werden die verschiedenen Positionen zur Technik und ihr im-
manenter theoretischer Progress von einer determinierenden Rahmenbedingung
zur gestaltbaren Option aufgezeigt. Der letzte Aufsatz entfaltet ein Panorama des
vielfältigen Theorieangebots der Industriellen Beziehungen (für die Buchfassung
erweitert um Ansätze der neueren, autopoietischen System- und der Strukturati-
onstheorie); er schließt mit einem eigenen Theorievorschlag.
Zeitgenössische Wissenschaftler sehen als Zwerge auf den Schultern von
Riesen weiter als diese. Es sind nicht wenige Theoretiker, deren Schultern bei
den versammelten Arbeiten herhalten mussten. Neben den zahlreichen anglo-
amerikanischen Industrial Relations-Experten (John Dunlop, Allan Flanders,
Richard Hyman, Thomas Kochan e tutti quanti) sind dies in erster Linie (und in
alphabetischer Reihenfolge) so unterschiedliche Geister wie Lujo Brentano, der
junge Goetz Briefs, Jürgen Habermas, Thomas H. Marshall, Karl Marx, Karl
Polanyi, Hugo Sinzheimer sowie Sidney und Beatrice Webb. Ihren zumeist sozi-
alhistorisch grundierten theoretischen Arbeiten verdanken sich aufschlussreiche
Einsichten in Charakter und Formen von abhängiger Arbeit und Arbeitsmärkten,
generell in die Dynamik von Arbeitsinstitutionen in marktwirtschaftlich organi-
sierten Zivilgesellschaften.
Bis auf die zwei oben erwähnten Kapitel blieben die Beiträge weitgehend in
ihrer originären Fassung belassen, kleinere Korrekturen, Streichungen und Ergän-
zungen nicht ausgeschlossen. Beibehalten wurden die voneinander durchaus ab-
weichenden Binnengliederungen, wohingegen die Zitierweise vereinheitlicht und
die Schreibweise an die neuere angepasst wurde. Die zitierte Literatur wird kumu-
lativ in einem einheitlichen Verzeichnis ausgewiesen. Wenn die der Erstveröffent-
lichung einiger Aufsätze beigefügten okassionellen Danksagungen, Dedikationen
und Hinweise auf Entstehungskontexte in der Buchfassung wegfallen, möchte ich
es gleichwohl nicht versäumen jenen engen Freunden und Kollegen zu danken, mit
denen ich in der einen oder anderen Weise produktiv zusammengearbeitet habe,
die meine Arbeiten seit mehr als drei Jahrzehnten kritisch kommentiert haben und
denen ich so manchen kreativen Hinweis verdanke: Joachim Bergmann, Otto Ja-
cobi, Eberhard Schmidt, Hans Joachim Sperling und Hansjörg Weitbrecht.
Düsseldorf, im Juni 2008 Walther Müller-Jentsch
Kapitalismus und Zivilgesellschaft
1 Über Produktivkräfte und Bürgerrechte
I.
Ausgehend von der generellen Hypothese, dass die je spezifische Form der Or-
ganisation des kapitalistischen Arbeitsprozesses nicht allein vom jeweiligen
Stand der Produktivkräfte abhängt, sondern ebenfalls durch den erreichten ge-
setzlichen und politischen Status der abhängig Beschäftigten mitbestimmt wird,
wird in diesem Essay die historische Entwicklung der Produktivkräfte wie der
Bürgerrechte seit Beginn des Industriekapitalismus skizziert, sowie deren wech-
selseitige Förderungen und Beschränkungen, Entsprechungen und Kontradiktio-
nen aufgezeigt. Damit wird einmal auf eine bislang vernachlässigte Dimension in
der industrie- und organisationssoziologischen Analyse aufmerksam gemacht
und zum anderen in die aktuelle Diskussion über den Eintritt in eine neue Phase
der Industrialisierung, mit der Notwendigkeit des Übergangs zur „postfordisti-
schen“ Arbeitsorganisation, eine neue Perspektive eingebracht.
Dem Essay liegen drei Ausgangshypothesen zugrunde:
1. Die Evolution der Produktivkräfte einerseits und der Bürgerrechte anderer-
seits sind zwei gesonderte historische Prozesse, die jeweils ihre eigene Dy-
namik und Entwicklungslogik haben. Indes sind ihre spezifischen Sphären –
Produktionssystem einerseits und Zivilgesellschaft andererseits – nicht ge-
geneinander abgeschottet; vielmehr gibt es Bereiche, in denen sie dyna-
misch aufeinander einwirken, sowie Instanzen und Akteure, durch die sie
interagieren.
2. Metaphorisch gesprochen, ist die Arbeitskraft die Brücke oder der Vermitt-
ler zwischen Produktionssystem und Zivilgesellschaft. Sobald Lohnarbeit
mit „freier Arbeit“ gleichgesetzt wird, ist sie notwendigerweise mit zivilen
Bürgerrechten ausgestattet. Diese finden durch politische und soziale sowie
wirtschaftliche („industrielle“) Bürgerrechte ihre Erweiterung.
3. Da keine „invisible hand“ beide Evolutionsprozesse koordiniert, sind Un-
gleichzeitigkeiten, Konflikte und Friktionen zwischen beiden Entwicklun-
gen zu erwarten; diese führen zu Umwälzungen, Anpassungen und neuen
Arrangements. In diesen Reorganisationsprozessen spielt wiederum die –
individuelle und kollektive – Arbeitskraft eine wichtige Rolle sowohl als
Objekt wie als Subjekt.