Anatomie am Lebenden: Ein Ubungsprogramm fur Medizinstudenten

398 Pages·1989·20.288 MB·German

by  Professor Dr. med. Dr. phil. Herbert Lippert (auth.)

Springer-Lehrbuch
Herbert Lippert
Anatomie am
Lebenden
Ein Übungsprogramm für Medizinstudenten
Mit 219 Abbildungen, 19 Tabellen und 180 Protokollschemata
Springer-V erlag Berlin Beideiberg GmbH
Professor Dr. med. Dr. phil. Herbert Lippert
Abteilung für Funktionelle und Angewandte Anatomie
der Medizinischen Hochschule Hannover
Postfach 61 01 80, D-3000 Hannover 61
ISBN 978-3-540-50713-0 ISBN 978-3-662-00661-0 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-662-00661-0
CiP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek.
Lippert, Herbert:
Anatomie am Lebenden :ein Übungsprogramm für
Medizinstudenten I Herbert Lippert.-Berlin ; Heidelberg ;
New York ; London ; Paris ; Tokyo ; Hong Kong :Springer, 1989
(Springer-Lehrbuch)
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©Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1989
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Satz: Verfasser
2173145-54321 0-Gedruckt aufsäurefreiem Papier
Vorwort
Zum Reizwort "Anatomie" assoziieren nicht helfen, Anatomie als etwas zu erleben, das
nur Laien sogleich "Leichen". Das Zergliedern nicht nur im Buch steht, sondern das man auch
der Leiche ist der klassische Zugang zum Ver selbst hat. Vom Sportwissenschaftler erwartet
ständnis des Körperbaus. Der Arzt kann aber man, daß er selbst einen Sport betreibt. Vom
dem Patienten nur nützen, wenn er die an der Psychoanalytiker wird eine "Lehranalyse"
Leiche erworbenen Kenntnisse auf den leben gefordert. Auch bei der Anatomie geht ein tie
den Menschen überträgt. In der Ausbildung feres Verständnis nur über die Erfahrung des
des Arztes klafft bislang eine Lücke: In der eigenen Körpers.
Vorklinik präpariert er die Leiche, in der Kli
nik untersucht er den Kranken. Die natürliche Das in diesem Buch dargestellte Untersu
Zwischenstufe müßte das Studium des gesun chungsprogramm ist nicht "am grünen Tisch"
den lebenden Menschen sein. erdacht, sondern Ergebnis langjähriger Erfah
rungen. 1962 hatte ich als frischgebackener Pri
Man klagt so häufig über die Inhumanität der vatdozent an der Universität München erst
modernen Schulmedizin. Erziehen wir den Stu mals Übungen zur Oberflächenanatomie ange
denten nicht schon in der Vorklinik zum sorg kündigt. Damals hatte ich noch einige männ
losen Umgang mit dem Patienten, wenn wir liche Studenten angestellt, die von den ande
ihn nur an der gefühllosen Leiche ausbilden? ren Oberkörper, Arme und Beine betasten
Er sollte immer wieder am eigenen Körper er ließen. In den verflossenen nahezu drei Jahr
fahren, wie schmerzlich eine uneinfühlsame zehnten ist die Einstellung zum unbekleideten
Untersuchung ist. Körper viel vorurteilsfreier geworden. Ein
Kurs, in welchem die Studenten sich gegensei
Übungen zur Anatomie am Lebenden sollen tig untersuchen und sich dabei nach eigener
nicht klinische Untersuchungskurse ersetzen. Wahl zu gleichgeschlechtlichen oder gemisch
Sie können jedoch eine wichtige Vorstufe für ten Gruppen zusammenschließen, ist für die
diese bilden. Der zu erarbeitende Stoff muß jüngere Generation bereits selbstverständlich.
notwendigerweise in der Vorklinik angesiedelt
sein. Er sollte aber Ausblicke in die Klinik bie In den letzten zehn Jahren konnte ich zusam
ten. Die Anatomie am Lebenden wird dann für men mit Reinhard Pabst an der Medizinischen
viele Studenten ein Lichtblick in einem oft zu Hochschule Hannover die "Übungen zur Ana
wenig am späteren Beruf orientierten vorklini tomie am Lebenden" immer weiter ausbauen.
schen Studium. Der Kurs erstreckt sich jetzt über zwei Seme
ster und ist in 25 Übungsabschnitte gegliedert.
In 13 Jahren Schulzeit vor Beginn des Studi Für jede Übung wird etwa eine Doppelstunde
ums hat sich der Student daran gewöhnt, sich benötigt, wobei der Zeitaufwand naturgemäß
mit Gegenständen zu befassen, die ihn selbst je nach der Dauer der Einführung und der In
nicht unmittelbar berühren. Er weiß in der An tensität der Betreuung zwischen ein und drei
tike besser Bescheid als in der Gegenwart. Er Stunden schwankt. Die einzelnen Tagespro
kann die Lichtgeschwindigkeit berechnen, aber gramme sind möglichst abwechslungsreich ge
kaum die Zellzahl seines eigenen Körpers staltet, so daß der Student alle wichtigen
schätzen. Mit dieser Mentalität lernt er häufig Methoden an jedem Tag übt (also nicht einen
in der Anatomie Muskelursprünge und -ansät Tag nur Gelenkbewegungen messen, einen Tag
ze, weil diese eben abgefragt werden. Im Te Arterienpulse tasten, einen Tag Reflexe prüfen
stat an der Leiche sieht er häufig nicht auf das usw.).
Präparat, sondern zur Decke. Er liest lieber in
seinem Gedächtnis, als zu beobachten, was vor Für den Lehrer ist es eine große Genugtuung
ihm liegt. Dieses Übungsprogramm will ihm zu verfolgen, wie seine Schüler von Kurs zu
V
Vorwort
Kurs in den Methoden immer sicherer werden. auch das Kapitel 8 (Arm). In jedem Fall aber
Über die Untersuchungstechnik hinaus erlernt sollte man vorweg die ersten beiden Abschnit
der Student dabei mehr oder weniger spielend te (1.1 und 1.2) des ersten Kapitels lesen. Das
auch den Lehrstoff. Lernziele werden so "ope Programm ist nach dem Dezimalsystem geglie
rationalisiert". Besonderer Wert wird auf ex dert. Die Nummern der einzelnen Übungen
akte Protokollierung gelegt, um den angehen sind als Kurzschreibweise zu verstehen: Ü253
den Arzt frühzeitig an seine Aufzeichnungs steht für Übung 2.5.3.
pflicht zu gewöhnen.
Dank schulde ich vor allem Herrn Prof. Dr.
In Vorschlägen zur Reform des Medizinstudi Reinhard Pabst, meinem ehemaligen Schüler
ums wird immer wieder gefordert, die scharfen und jetzigen gleichberechtigten Kollegen, des
Grenzen zwischen vorklinischem und klini sen Initiative das regelmäßige Abhalten der
schem Studium zu lockern und einen Kurs der "Übungen zur Anatomie am Lebenden" in
klinischen Propädeutik in die Vorklinik einzu Hannover wesentlich bestimmte. In vielen Ge
führen. An der Medizinischen Hochschule sprächen wurden die Kurserfahrungen ausge
Hannover versuchen wir zu zeigen, daß bei ge tauscht. Er bestärkte mich, wenn ich wegen
nügender Initiative der vorklinischen Lehrer auswärtiger Anfeindungen manchmal mutlos
ein derartiger Kurs schon bei der jetzigen Ge war. Von den jüngeren Mitarbeitern, die sich
setzeslage durchzuführen ist. Auch ohne Ge um die Übungen verdient gemacht haben,
setzeszwang ist das Interesse bei den Studen seien Frau Dr. Sabine Delventhal und Herr
ten an den (freiwilligen!) Übungen so groß, Dr. Jürgen Westermann erwähnt. Frau cand.
daß wir sie in 4 parallelen Kursen in jedem med. Desiree Herhold las das Manuskript und
Semester abhalten. gab wertvolle Hinweise. Viele Anregungen
verdanke ich Frau Prof. Dr. Petra Köpf-Maier,
Das vorliegende Buch ging aus Skripten her die mir wiederholt über ihre Kurse am Leben
vor, die ich im Kurs verteilte. Gegenüber den den an den Universitäten U1m und West-Ber
Skripten wurde das Hintergrundwissen aus lin (FU) berichtete. Herr Prof. Dr. H.-J. Cle
führlicher dargestellt. Übungen, die im Kurs mens förderte das Projekt über Jahre hinweg
aus Zeitgründen nicht regelmäßig oder nur und ermöglichte das Erscheinen des Buches im
Stichprobenhaft ausgeführt werden können, Springer-Verlag. Frau Gabriete Meier widmete
sind vollständig beschrieben worden. Zusätz sich mit großer Sorgfalt dem Copyediting. Herr
lich aufgenommen wurden die Abschnitte über Joachim W. Schmidt beriet mich im Layout.
die Geschlechtsorgane, die in der ärztlichen
Ausbildung nicht fehlen dürfen, aber zur Zeit Der Text des Buches wurde mit Hilfe des Text
kaum in einem allgemeinen Kurs behandelt programms Microsoft Word auf einem IBM
werden können. In Hannover überläßt man es AT geschrieben und auf einem HP Laserjet II
der Eigeninitiative der Studenten, sich zu ei ausgedruckt. Frau Comelia Chmura, Frau
nem "gynäkologisch-urologischen Untersu Hanna Grages, Frau Gabriete Hoppmann,
chungskurs" zusammenzuschließen und dann Frau Bärbel Piepenburg und Frau Christa
die Unterweisung von einem Gynäkologen und Lichtenberg gaben Teile des Manuskripts in
einem Urologen zu erbitten. den Computer ein oder halfen bei Fotoarbei
ten. Frau Antje Luhmann koordinierte die Ar
Die einzelnen Kapitel dieses Übungspro beiten am Computer und am Drucker, brachte
gramms sind weitgehend unabhängig vonein wertvolle Anregungen für die Textverarbeitung
ander. Reichliche Querverweise sichern den und erstellte die Mehrzahl der Zeichnungen.
Zusammenhang. Man kann also eine beliebige
Reihenfolge wählen. Ein günstiger Beginn ist
VI
Vmwort
Zuletzt möchte ich eines Mannes gedenken, Eine didaktische Idee kann nur im Zwiege
dem ich meinen Dank nicht mehr persönlich spräch von Schülern und Lehrern weiterent
ausdrücken kann, weil er schon über zwei wickelt werden. Deshalb richte ich die herzli
Jahrzehnte tot ist, meinem Lehrer Titus Ritter che Bitte an alle Benutzer dieses Buches:
von Lanz. In meinen Assistentenjahren bei ihm Schreiben Sie bitte, was Ihnen nicht gefällt
forderte er häufig meinen Widerspruch heraus. oder was man besser machen könnte. Ich wer
Aus dem größeren zeitlichen Abstand erkenne de für jede Zuschrift dankbar sein und die An
ich, daß seine Leitidee der "praktischen Ana regung bei einer evtl. Neuauflage berücksichti
tomie" meine Sichtweise der Anatomie ent gen!
scheidend bestimmte.
Hannover, im Januar 1989
Herben Lippen
VII
Inhalt
1 Einführung .................................................... ! 6 Kopf ............................................................ l83
1.1 Aufgaben und Organisation von 6.1 Schädel... .................................................. 183
Übungen zur Anatomie am Lebenden .. 1 6.2 Muskeln und Leitungsbahnen .............. 189
1.2 Allgemeines über Untersuchungs- 6.3 Mundhöhle .............................................. 198
methoden ................................................... 9 6.4 Nase und Nasennebenhöhlen ............... 208
1.3 Der Körper als Ganzes: Länge, 6.5 Auge ......................................................... 212
Gewicht, Oberfläche .............................. 20 6.6 Ohr ........................................................... 230
1.4 Proportionen ............................................. 25 6.7 Gehirn ...................................................... 237
1.5 Konstitution ............................................. .33
1.6 Haut .......................................................... .38 7 Hals ............................................................ 243
2 Rumpfwand ............................................... .43 7.1 Gliederung und Bewegungsapparat... .. 243
7.2 Gefäße ..................................................... 248
2.1 Wirbelsäule A .......................................... .43 7.3 Nerven ..................................................... 254
2.2 Wirbelsäule B (Bewegungsmessung) .... .52 7.4 Eingeweide .............................................. 256
2.3 Wirbelkanal und Rückenmuskeln .......... 60
2.4 Brustkorb ................................................... 66
2.5 Brustdrüse ................................................. 75 8 Arm ............................................................. 264
2.6 Beckengürtel ............................................. 79
2.7 Bauchwand ................................................ 84 8.1 Schultergürtel ......................................... 264
2.8 Gefäße und Nerven der vorderen 8.2 Schultergelenk und Achselgegend ....... 270
RumpfWand ............................................. 92 8.3 Ellbogengelenk ....................................... 277
8.4 Oberarm und Ellbogen ......................... 281
3 Brustorgane ............................................... 96 8.5 Unterarm und Hand A
(Knochen) .............................................. 287
3.1 Lunge ......................................................... 96 8.6 Unterarm und Hand B
3.2 Herz A ..................................................... 104 (Muskeln) .............................................. 293
3.3 Herz B ...................................................... 111 8.7 Unterarm und Hand C
3.4 Mittelfellraum ......................................... ll7 (Blutgefäße) .......................................... 301
8.8 Unterarm und Hand D
4 Bauchorgane ........................................... 120 (Nerven) ................................................. 307
8.9 Arm als Ganzes ...................................... 310
4.1 Allgemeines, Blutgefäße ........................ 120
4.2 Magen und Darm ................................... 126 9 Bein ........................................................... .317
4.3 Leber, Milz, Bauchspeicheldrüse ......... 134
4.4 Nieren und Hamwege. ........................... l41 9.1 Hüftgelenk .............................................. 317
9.2 Gesäßgegend ........................................... 320
5 Beckenorgane und Becken- 9.3 Kniegelenk .............................................. 327
boden .................................................... 145 9.4 Oberschenkel und Kniekehle .............. .331
9.5 Unterschenkel und Sprunggelenke ..... .339
5.1 Untere Bauchwand ................................. l45 9.6 Fuß A (Skelett) ....................................... 351
5.2 Beziehung der Beckenorgane 9.7 Fuß B (Weichteile) ............................... .357
zur Bauchwand ...................................... l51
5.3 Beckenausgang und Beckenboden ....... l55 Literatur ......................................................... 360
5.4 Gynäkologische Untersuchung ............. 164
5.5 Männliche Geschlechtsorgane .............. 174 Sachverzeichnis ........................................ .364
1 Einführung
1.1 Aufgaben und Organisation Menschen gewinnen wie heute. Die letzten 150
von Übungen zur Anatomie am Jahre brachten eine vorher auch in den kühn
sten Phantasien nicht erwartete Entwicklung
Lebenden
von Methoden zum Studium des Körperbaus
des lebenden Menschen. Als Marksteine seien
Ü111 Was ist "Anatomie am Lebenden"? genannt:
• Chirurgie: Die moderne Anästhesie (Äther
Das Wort Anatomie leitet sich vom griechi narkose 1846) ermöglicht es, Operationen na
schen anatemnein = aufschneiden ab. Es be hezu beliebig in Zeit und Raum auszudehnen.
deutet ursprünglich die Zergliederung einer Es gibt praktisch keine Tabus mehr. Jedes Or
Leiche. Aus der Antike sind Leichenöffnungen gan steht dem chirurgischen Eingriff offen.
aus wissenschaftlichem Interesse überliefert. • Endoskopie: Als Helmholtz 1850 den Au
Dann kam man ein Jahrtausend wieder ohne genspiegel erfand, ahnte er wohl nicht, daß wir
Studium der Leiche aus. Mit dem Beginn der heute mit Hilfe biegsamer Glasfiberoptiken
Neuzeit wurden an den medizinischen Fakultä nahezu alle Hohlräume des Körpers direkt
ten regelmäßig "Anatomien" veranstaltet. Für besichtigen können. Der mehrere Meter lange
die Mehrzahl der Zuschauer - es waren kei Verdauungskanal ist ebenso zugänglich wie die
neswegs nur Ärzte und Medizinstudenten - Gelenkräume der größeren Gelenke.
hatte dabei sicher der Reiz des Gruseligen ge • Radiologie: Die Entdeckung der Röntgen
genüber dem Erkenntnisstreben den Vorrang. strahlen (1895) ließ zunächst alle Einzelheiten
Die damals übliche Bezeichnung eines anato des Skeletts, bald aber mit Hilfe von Kon
mischen Hörsaals als "Theatrum anatomicum" trastmethoden auch alle Blutgefäße und viele
erscheint rückblickend durchaus doppelsinnig. innere Organe im Bild sichtbar werden. Bisher
letzter Höhepunkt ist die Computertomogra
Hatte man sich ursprünglich mit Demonstra phie {CT), mit der man die Struktur nahezu
tionen an der Leiche begnügt, so wurde es im beliebiger Scheiben aus dem Körper vom
19. Jahrhundert allgemeine Überzeugung, ein Computer errechnen und auf den Bildschirm
angehender Arzt müsse eigenhändig eine Lei projizieren lassen kann.
che möglichst bis in die feinsten Einzelheiten • Magnetresonanztomographie (Kernspinre
zerlegt haben, bevor er dem Lebenden helfen sonanztomographie, MRT, NMR): Schnittbil
könne. Die ursprünglich getrennten Begriffe der ähnlich der Computertomographie kann
"Zergliederung der Leiche" und "Lehre vom man auch mit Hilfe riesiger Magneten erzeu
Bau des menschlichen Körpers" wurden nun gen und dabei die Strahlenbelastung des Pati
im Begriff "Anatomie" gleichgesetzt. enten vermeiden. Die noch immensen Kosten
der Geräte (mehrere Millionen Deutsche
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts be Mark) stehen einer breiteren Einführung des
findet sich die Anatomie als "Zergliederungs Verfahrens im Wege.
kunst" in einem ständigen Rückzugsgefecht. • Biopsie: Interessiert der Feinbau der inne
Ursprünglich war sie "via regia" zum Ver ren Organe, so sticht man eine dicke Hohlna
ständnis des menschlichen Körpers. Jetzt ma del durch die Leibeswand und saugt Gewebe
chen ihr Biochemie, Physiologie und Psycholo teile zur mikroskopischen Untersuchung an
gie als am Lebenden orientierte Wissenschaf (Sternalpunktion 1922, inzwischen "Blindpunk
ten den Vorrang streitig. Wollen die Anato tionen" für die meisten parenchymatösen Or
men nicht Vertreter einer "toten" Wissenschaft gane). Oder man schneidet mit dem Operati
werden, müssen auch sie sich von der Leiche onsendoskop verdächtige Gewebebezirke ab.
auf den lebenden Menschen um orientieren. • Sonographie: Im letzten Jahrzehnt wurde
die Ultraschalldiagnostik vor allem für die in
Noch zu keiner Zeit konnte man soviel neren Organe bedeutend. Ohne Strahlenbela
anatomische Informationen vom lebenden stung können wir z.B. die Bewegung der Herz-
1
1 Einführung
klappen beobachten oder die Größe der überschreiten bei weitem die Haushaltsmittel
Frucht in der Gebärmutter messen. vorklinischer Institute.
• Soll Ultraschalldiagnostik mehr sein als eine
Über die genannten Methoden hinaus gibt es Spielerei, so erfordert sie eine sehr zeitaufwen
zahlreiche weitere, die unmittelbar (Thermo dige Einarbeitung. Hierfür dürften weder die
graphie, Szintigraphie usw.) oder mittelbar vorklinischen Studenten noch ihre Ausbilder
(EKG, EEG usw.) anatomische Ausblicke er die nötige Zeit aufbringen können.
öffnen. Sicherlich werden heute mehr anatomi
sche Erkenntnisse am lebenden Menschen als Anatomie am Lebenden im weitesten Sinne ist
an der Leiche gewonnen. Grund genug, auch die Erforschung des Körperbaus des lebenden
den anatomischen Unterricht verstärkt am le Menschen mit allen hierzu geeigneten Metho
benden Menschen zu orientieren. den. In "Übungen zur Anatomie am Leben
den" müssen wir uns beschränken. Wir können
Die Faszination des Arztes durch die techni sie am bequemsten definieren als "Untersu
schen Errungenschaften ist so groß, daß die chungskurs am Gesunden mit einfachen Me
einfachen Untersuchungsmethoden mit dem thoden".
"unbewaffneten" Auge, der Hand und dem
Ohr in Vergessenheit zu geraten drohen. Doch
nach wie vor bilden die dem Menschen ange Ü112 Abgrenzung gegen Physiologie und
borenen Möglichkeiten zu sehen, zu tasten und Klinik
zu hören die Grundlage jeglicher ärztlichen
Diagnostik. Die vielen technischen Geräte ei Die Grenzen zwischen funktioneller Anatomie
ner "modernen" Arztpraxis verfeinern die Aus und Physiologie sind fließend. Wollte man alle
sage, verursachen aber meist hohe Kosten und Funktionsanalysen der Physiologie vorbehal
gefährden nicht selten den Patienten (z.B. ten, so wäre funktionelle Anatomie nicht mög
Strahlenbelastung). Sie sollten daher gezielt lich. Anatomie und Physiologie haben sich erst
nur nach den einfachen diagnostischen Ver in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Ein
fahren eingesetzt werden. Die klassischen richten gesonderter Lehrstühle für die beiden
Untersuchungsmethoden sind Fächer getrennt. Die spezielle "Physiologie"
1. Inspektion: das sorgfältige Besichtigen des des Bewegungsapparats (die Erklärung der
entkleideten Patienten, Fuiiktion der einzelnen Gelenke und Muskeln)
2. Palpation: das Abtasten des Körpers zum blieb dabei traditionsgemäß immer bei der
Beurteilen der nicht sichtbaren Organe, Anatomie. In einem "Untersuchungskurs" am
3. Perkussion: das Abklopfen des Rumpfes, Gesunden lassen sich die traditionellen Gren
um aus dem Klopfschall Schlüsse auf die inne zen nicht immer einhalten. Im folgenden Un
ren Organe zu ziehen (Auenbrugger 1761), tersuchungsprogramm sind auch Übungen ent
4. Auskultation: das Abhören der im Innern halten, die üblicherweise im physiologischen
des Körpers spontan entstehenden Geräusche Kurs durchgeführt werden. Trotzdem ist der
(Stethoskop: Laennec 1819), Akzent verschieden. Bei der Blutdruckmessung
5. Funktionsprüfung: z.B. Messen der Gelenk interessiert den Physiologen in erster Linie der
beweglichkeit, Auslösen von Reflexen, Beurtei Kreislaufaspekt, den Anatomen die To
len der Kraft einzelner Muskeln, Bestimmen pographie der Arterie. Physiologischer Kurs
der Leistungsfähigkeit der Lungen und des und Übungen zur Anatomie am Lebenden ma
Herzens usw. chen sich nicht gegenseitig überflüssig, sondern
vermitteln verschiedene, einander ergänzende
Diese fünf "klassischen" Untersuchungsmetho Einsichten.
den sind die Grundlage des Kursprogramms
dieses Buches. Zweifellos wäre es sehr reizvoll, Die Approbationsordnung für Ärzte sieht für
auch die gefahrlose Ultraschalluntersuchung den ersten klinischen Studienabschnitt einen
einzubeziehen. Dies scheitert vorerst aus zwei klinischen Untersuchungskurs vor. In ihm wird
Gründen: die Technik gelehrt, die zur Untersuchung des
• Kaum ein anatomisches Institut verfügt über Patienten nötig ist. Die gegenseitige Untersu
entsprechende Ultraschallgeräte. Die Kosten chung der Studenten ist dabei, wenn über
für Anschaffung und Wartung der Geräte haupt, nur eine kurze Zwischenphase. Meist
2