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Anke Kramer studierte Germanistik und Romanistik in i e Idee des Albums, in dem sich die Gedanken in kurzen Ein Album kann man »an jeder beliebigen Stelle,
Tübingen und Aix-en-Provence. Sie ist wissenschaftliche Absätzen, kreuz und quer nach allen Richtungen hin bewegen, u in jeder Richtung, in jedem Sinne aufschlagen,
Assistentin am Institut für Germanistik der Universität Wien. wandert in vielfältigen Ausprägungen in die gegenwärtige soziale, ohne daß irgendeine Sinnparzelle verlorenginge.«
künstlerische und wissenschaftliche Praxis ein. Scrapbooks, soziale
Annegret Pelz ist Professorin für Neuere deutsche Roland Barthes, Die Vorbereitung des Romans, 2008
Netzwerk-Plattformen und Kunstprojekte schaffen neue Formen. Organisationsform narrativer Kohärenz
Literatur am Institut für Germanistik der Universität Wien. b
In exemplarischen Lektüren und in übergreifenden Beiträgen
Herausgegeben
werden hier die historischen Wandlungen und kulturellen Einflüsse l
von Anke Kramer
beschrieben, die aus dem Album ein Netzwerkmedium von beson-
derem kultur- und medienwissenschaftlichem Interesse machen. und Annegret Pelz
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Wallstein
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Album
Organisationsform narrativer Kohärenz
Herausgegeben von Anke Kramer und Annegret Pelz
ALBUM
Organisationsform narrativer Kohärenz
Herausgegeben von
Anke Kramer und
Annegret Pelz
WALLSTEIN VERLAG
Gedruckt mit Unterstützung des Fonds zur Förderung
der wissenschaftlichen Forschung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Wallstein Verlag, Göttingen 2013
www.wallstein-verlag.de
Vom Verlag gesetzt aus der Aldus
Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf
Umschlagabbildung: Jane Hammond: Scrapbook, 2003, dreidimensionale Collage:
Tintenstrahldruck, Holzschnitt, Wasserfarben, 69,5 × 109,7 × 1,9 cm, publiziert bei
Universal Limited Art Editions: Edition 43, New York 2008. © Jane Hammond.
Innere Umschlagseiten: Jane Hammond: Album (Madeline Tomaini), 2007, 100 × 268,6 cm,
farbiger Tintenstrahldruck und Mixed Media. Museum of Modern Art, New York.
© Jane Hammond, New York.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung.
Druck und Verarbeitung: Memminger MedienCentrum AG
ISBN 978-3-8353-1174-9
Inhalt
Einleitung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Essays
Jane Hammond
Scrapbook (2003) and Album (Madeline Tomaini) (2007) . . . . . . . . . 25
Alexander von Reiswitz
Family Constellation Project – das erfundene Familienalbum . . . . . . . 27
Transformationen des Albums
Vivian Liska
Die Idee des Albums. Zu einer Poetik der Potentialität . . . . . . . . . . 35
Annegret Pelz
Vom Bibliotheks- zum Albenphänomen .. . . . . . . . . . . . . . . 40
Georges Didi-Huberman
ALBUM vs. ATLAS (Malraux vs. Warburg) . . . . . . . . . . . . . . 59
Heike Gfrereis
Geistermaschinen. Poetische Alben im Deutschen Literaturarchiv Marbach . . 74
Ute Holl
Album, Montage, carte postale. Aspekte medialer Historiografie. Zum Film
No pasarán, album souvenir (F 2003) von Henri-François Imbert . . . . 89
Matthias Bickenbach
Die Enden der Alben. Über Ordnung und Unordnung eines Mediums
am Beispiel von Rolf Dieter Brinkmanns Schnitte . . . . . . . . . . 107
Migrierendes Gedächtnis – portatives Museum – Gegenarchiv
Marianne Hirsch
Der archivale Impuls der Nacherinnerung .. . . . . . . . . . . . . . 125
Ulrike Vedder
Alben, Sammelsurien, Inventare, Museen. Todesnähe und Literatur . . . . . 143
Helmut Lethen
Schrecken und Schatten des family frame in Brieftaschen,
privaten Sammlungen und öffentlichen Ausstellungen . . . . . . . . 156
Birgit R. Erdle
Maidon Horkheimers Album Photographs . . . . . . . . . . . . . . 168
Franz M. Eybl
Alben der Analphabeten. Religiöse Bücher als Speicher .. . . . . . . . . 191
Monika Seidl
Das Scrapbook . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
Album Amicorum – Gruppenkonstitution – Netzwerke
Werner Wilhelm Schnabel
Das Album Amicorum. Ein gemischtmediales Sammelmedium und
einige seiner Variationsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
Kurt Mühlberger
Das Album Universitatis. Eine reiche Quelle mittelalterlicher und
frühneuzeitlicher Universitätsgeschichte .. . . . . . . . . . . . . 240
Margarete Zimmermann
Salonalben. Kollektive Gedächtniswerke der Frühen Neuzeit .. . . . . . . 254
Stephanie Bung
Exkurs zu La Guirlande de Julie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
Ute Pott
Das Tapeten-Album im Gleimhaus / Halberstadt .. . . . . . . . . . . . 271
Eva Raffel
Im Umfeld des Musenhofes. Ein bisher nicht identifiziertes Stammbuch
der Herzogin Anna Amalia Bibliothek zu Weimar . . . . . . . . . . 277
Lesarten. Alben und albenhafte Verfahren in Wissenschaft und Kunst
Gisela Steinlechner
Vom Verdichten und Anrichten der Bilder. Hannah Höchs Album .. . . . . 289
Leo A. Lensing
Semmering 1912. Ein Ansichtskartenalbum von Peter Altenberg . . . . . . 297
Ute Jung-Kaiser
Album und Albumblatt bei Schumann. Wie künstlerische Evidenz und Zufall
die narrative Logik bestätigen und aushebeln . . . . . . . . . . . . 303
Peter Keicher
Wittgensteins Fotoalbum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
Anja Tippner
Leben in Bildern. Zum Verhältnis von Album und Bildbiographie am Beispiel
Vladimir Nabokovs .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
Anhang
Abbildungen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
Einleitung
I. Ordnung der Wiederkehr und Vermehrung durch Ableger
Albenhafte Verfahren in Wissenschaft und Kunst
»So ist also dieses Buch eigentlich nur ein Album«, schreibt Ludwig Wittgenstein
1945 im Vorwort der Philosophischen Untersuchungen, um seine Leserschaft auf
ein Buchkonzept einzustimmen, in dem die Gedanken keine lückenlose Folge bil-
den, sondern sich in »kurze[n] Absätze[n]«, »längeren Ketten«, »in raschem Wech-
sel von einem Gebiet zum andern überspringend«, »kreuz und quer, nach allen
Richtungen hin« bewegen.1 Statt des ›richtigen‹, linear und kohärent argumentie-
renden Buches, das Wittgenstein ursprünglich anvisiert hatte, versammelt sein
Album die Resultate des langen und verwickelten Schaffensprozesses topologisch
»gleichsam [als] eine Menge von Landschaftskizzen« und »berührt« einzelne
Punkte in immer neuen »Bilder[n]« »stets von neuem von verschiedenen Richtun-
gen her«.2 Das so entstandene Netzwerk von Wiederholungen und unzähligen
Querverweisen lässt sich jedoch nicht länger als Buch, sondern ›nur‹ als Album
mit familienähnlichen Verweisstrukturen und transtextuellen Abzweigungen be-
zeichnen – als eine Form, bei der das Problem der Organisation im Vordergrund
steht. Diese von Wittgenstein verwendete Formel »eigentlich nur ein Album« und
sein in der Wendung »hätte gerne ein gutes Buch hervorgebracht« deutlich ge-
machtes Gedankenspiel mit dem Buch wird von der Forschung unterschiedlich
ausgelegt – mal als echte Unzufriedenheit mit dem Album als dem vermeintlich
›schlechteren Buch‹, mal als Bescheidenheitstopos und letztlich als Ausdruck einer
methodischen Wende hin zu einer vielstimmigen und bildhaften Darstellung, für
die nach und nach die Begriffe Konglomerat, Sammlung, Zusammenstellung von
Zeichnungen, Menge von Ansichten verworfen wurden, bis schließlich mit »Al-
bum« die bestmögliche Bezeichnung für diese Organisationsform gefunden war.3
1 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. Auf der Grundlage der Kritisch-
genetischen Edition neu hg. v. Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 2003, Vorwort.
2 Ebd., vgl. Alois Pichler: Wittgensteins »Philosophische Untersuchungen«. Vom Buch zum
Album. Amsterdam, New York 2004, insbes. 57 ff.
3 Ebd., 77 ff., zu Wittgensteins albenhaftem Verfahren zwischen Fotografie und Text vgl. den
Beitrag von Peter Keicher in diesem Band.
Einleitung
8
BUCH / ALBUM
Gegenstand dieses Buches sind nun jene wissenschaftlichen und künstlerischen
Verfahren, bei denen die Entscheidung für das Album das Ergebnis einer Wahl
zwischen den beiden Buchformen ist, zwischen denen sich, nach Roland Barthes,
die ganze Dramatik der Formenwahl abspielt: Zwischen dem Buch als einem
durchkonstruierten und wohldurchdachten, einheitlich gegliederten und hierar-
chisch geordneten Universum und dem Album als einem uneinheitlichen, zerfa-
serten Gewebe von Kontingenzen.4 Buch und Album stehen einander als zwei kul-
turelle Phantasien und als zwei an der Opposition Kontinuum und Diskontinuum
orientierte Werktypen gegenüber. Das gewählte Paradigma hat jeweils eigene Im-
plikationen. Das Album steht dem Buch als eine »›Struktur‹ entgegen‚ ›die auf der
Natur der Dinge beruht‹«.5 Es bildet ein künstliches Ensemble von Elementen mit
einer zufälligen und situationsbedingten Ordnung: »Ein Albumblatt läßt sich
willkürlich hin- und herschieben oder hinzufügen; absolut gegensätzlich zum
Verfahren des BUCHES.«6 Große Schöpfer, die wie Mallarmé und Schumann auf
der Seite des Albums stehen, werden durch die Zufälligkeit der Umstände ange-
regt.7 Die Begeisterung für das Album oder dessen Geringschätzung (Ursache ist
der »Ehrgeiz zum Buch«) resultieren aus der Sicht auf die äußere Welt als einem
kontingenten »Wirrsal von Empfindungen« und einer »Fülle bunten Geschehens«,
die das Rhapsodische und die »Idee des ZUSAMMENGENÄHTEN, des FLICKWERKS,
des PATCHWORK« rechtfertigen.8 Dennoch gehören »›FRAGMENTE‹ nach Barthes
nicht unbedingt auf die Seite des ALBUMS«, denn ein Album besteht nicht aus ein-
zelnen, sondern aus einem Gewebe von Fragmenten, die zwar keine planvolle Ord-
nung, wohl aber eine aus der »Ordnung der Wiederkehr [und] der Vermehrung
durch Ableger« gebildete Architektur haben.9 Diese subtile, aber entscheidende
Differenz zwischen Fragment und Album ist zugleich eine von Struktur und Me-
thode. Die Methode erfordert einen Plan, beispielsweise die (im Tagebuch) gere-
gelte Bewegung von einem Eintrag zum anderen, die Struktur hingegen besteht
aus einer systematischen Zergliederung in Teile, deren Einheit sich erst am Ende
4 Vgl. Roland Barthes: Die Vorbereitung des Romans. Vorlesung am Collège de France 1978-
1979 und 1979-1980, hg. v. Éric Marty, Vorwort von Nathalie Léger, übers. v. Horst Brühmann,
Frankfurt a. M. 2008, 294.
5 Vgl. ebd., 289 (mit Bezug auf Le Livre von Mallarmé).
6 Ebd., 290.
7 Ebd., 291. Zu den Alben Schumanns vgl. den Beitrag von Ute Jung-Kaiser in diesem Band.
8 Ebd., 290 mit Bezug auf Poe und Baudelaire. Die Schreibung in Majuskeln ist ein Spezifikum
der deutschen Übersetzung, im französischen Original wird das Oppositionspaar Livre und
Album kursiv gesetzt, wenn es hervorgehoben wird oder sich auf Buchtitel bezieht. Roland
Barthes: La Préparation du Roman I et II. Notes de cours et séminaires au Collège de France
(1978-1979 et 1979-1980), sous la direction de Éric Marty, Texte établi, annoté et présenté par
Nathalie Léger, Paris 2003.
9 Barthes: Vorbereitung (Anm. 4), 291.
Einleitung
9
durchsetzt.10 Das Album kann beide Formen realisieren, sein größtes Problem und
zugleich sein Potential aber birgt die unklare Zwischenstellung zwischen Münd-
lichkeit und Schriftlichkeit. Das Album basiert auf der Notiz, es ist »eine Auffor-
derung zum Notizenmachen« – über Bücher oder über das »›Leben‹ in seinen
Verästelungen«.11 Der unklare Status der Notiz, die »schon Schrift und noch
Wort« ist, verleiht den Äußerungen von Alben einen brüchigen Wert, der (wie das
Sprechen) durch jede Aktualisierung entwertet wird.12
Beide Formen, das kompakte, auf Essenz und Summe des Wissens konzen-
trierte durchkonstruierte und wohldurchdachte Buch und das desorganisierte,
splitternde, pluralistische, aus einer Masse von Notizen und einzelnen Gedanken
zusammengesetzte Album, existieren nicht unabhängig voneinander. Sie bleiben
als die zwei Terme einer Wahl in einer spannungsreichen Dialektik aufeinander
bezogen. Das Album – Buch avant la lettre – versammelt Notate, die für sich exis-
tieren können oder im Hinblick auf ein zukünftiges Buch zusammengetragen wer-
den. Barthes’ These lautet daher, dass nicht bloß das Schicksal des Albums, son-
dern grundsätzlich das eines jeden Buches ephemer ist. So »wie die Ruine die
Zukunft des Bauwerkes ist«, wird auch jedes literarische Werk im Laufe der Zeit
wieder in Fragmente zerlegt – es überlebt nicht als Ganzes, sondern als Album, in
Trümmern oder Zitaten, die einsinken und bleiben: »Was in uns vom BUCH lebt,
ist das ALBUM«, das Buch bleibt im Album als Ruine lebendig und bildet als solche
wiederum den Keim und das Imaginarium eines neuen Buches.13
Ad album producere – album corrumpere: zeigen und überschreiben
Seit der Antike sind zweierlei Umgangsformen mit dem sich beständig aktualisie-
renden Medium bekannt: Ad album producere hieß in der römischen Rechts-
geschichte jemanden vor die mit Gips geweißten Wände oder Tafeln führen, um die
Inskriptionen (Rechtssätze, Edikte) zu zeigen, album corrumpere meinte dagegen,
die Tafeln zu ergänzen oder im jährlichen Turnus der Amtsführung zu revidieren
und zu überschreiben.14 Für die rasche Veröffentlichung von Aufzeichnungen, die
von vorneherein dem Wechsel unterworfen waren, wurde ein leicht erneuerbarer
Beschreibstoff gewählt. Die geweißten Tafeln mit Einträgen in Form von Listen
»mit roten Überschriften (rubricae)« und »großen schwarzen Buchstaben« waren
auf das Wesentliche begrenzt und so gestaltet, dass sie für die Eiligen im Vorüber-
gehen leicht lesbar waren oder das müßige Volk zum Verweilen und Betrachten
10 Ebd., 292 mit Bezug auf Cage und Schönberg.
11 Ebd., 299.
12 Ebd., 293. Barthes verweist hier auf die These Kafkas, dass »die Wertlosigkeit des Notierten
zu spät erkannt wird«.
13 Vgl. ebd., 296 f.
14 Leopold Wenger: Die Quellen des Römischen Rechts, Wien 1953, 57, 408, 410.
Einleitung
Description:Wallstein Verlag, Göttingen 2013 .. an Ort und Stelle gewesen sind: HOC SCRIPSIT.19 Ilya Kabakov und die Mos- . Die heute mögliche digitale Reproduktion ganzer Konvolute in ebooks führt all verfügbaren Printausgabe doppelt so dick ist. 30 Vgl. Hervé Guibert: »Das Album«, in: Phantom-Bild.