Table Of ContentWas wird aus der Demokratie?
Thomas AssheuerlWemer A. Perger (Hrsg.)
Was wird aus der
Demokratie?
Mit Beitrdäigen von
Francis Fukuyama, Zygmunt Bauman
Ulrich Beck, Alain Touraine
Claus Offe, Jean-Marie Guehenno
A vishai Margalit, David Held
GUünntther Grass und Pierre Bourdieu im Gespräach
Ein Buch mit der ZEIT
Leske + Budrich, Opladen 2000
Gedruckt auf alterungsbestandigem und saurefreiem Papier.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Ein Titeldatensatz fUr diese Publikation ist bei
Der Deutschen Biblkiothek erhaltlich
ISBN 978-3-322-95164-9 ISBN 978-3-322-95163-2 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-322-95163-2
© 2000 Leske + Budrich, Opladen
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Satz: Leske + Budrich, Opladen
Inhalt
Einleitung ............................................................................ 7
Francis Fukuyama
Ich oder die Gemeinschaft ................................ .................. 19
Zygmunt Bauman
Die Demokratie zwischen den Fronten ............................... 27
Ulrich Beck
Die postnationale Gesellschaft und ihre Feinde .................. 35
Alain Touraine
Lob auf die Zivilgesellschaft 51
Claus Offe
Wenn das Vertrauen fehlt ................................................... 59
lJeeaann--Marie Guehenno
Die neue Machtfrage ........................................................... 67
Avishai Margalit
Kann es eine gerechte Weltgesellschaft geben? 77
David Held
Die Riüickkehr der Politik ...... .............................................. 85
Güunter Grass und Pierre Bourdieu im Gespriäich
Zivilisiert den Kapitalismus! ............................................... 95
Die Autoren .... ............ .......... ............ ............................ ...... 111
Einleitung
SchOöne neue Welt. Der Sieges zug der Demokratie ist unauf-
haltsam. Die Zitadellen der Tyrannen wanken, die Mauern der
Autokraten bersten. Zwischen Kapstadt und Singapur, Teheran
und Wladiwostok: Kein Land, vielleicht nicht einmal China,
scheint dem gewaltlosen Versprechen der Freiheit und dem
Anspruch auf Menschenrechte dauerhaft widerstehen zu köon-
nen. LUäingst klingt die Arroganz, mit der die letzten Despoten
ihre Folterkeller verteidigen, wie Hochmut vor dem Fall. Was
das angeht, scheinen die Propheten der Neuen Weltordnung
recht zu behalten. Der Weltgeist ist demokratisch und sein Do-
mizil das Parlament. Das alte, 1989 geräauschlos implodierte so-
wjetische Imperium war das letzte Hindernis vor dem Triumph-
zug der Demokratie; heute, nach dem Ende der bipolaren Welt,
weht ihr Geist, wo er will. Wenn die jiüingste Demokratisie-
rungswelle die letzten autoritäaren Regime unterspiüilt, wenn ei-
nes Tages liberal befriedete Gesellschaften ihren Sieg mit der
Griüindung einer Weltrepublik feiern, dann geht unter der Sonne
der Freiheit die Geschichte tatsäachlich ihrem Ende entgegen.
Rechtsstaat und Demokratie, die Filme Hollywoods und die
Semiotik des Pop bilden die weltweit verstandene Universal-
sprache einer mit sich versöohnten Menschheit. Es ist Frieden.
Ewiger Frieden. Doch ist das wirklich die Wirklichkeit?
Auf den Sieg der Demokratie fallen in Wahrheit dunkle
Schatten. Selbst Francis Fukuyama, der als erster die Melodie
vyom liberalen Ende der Geschichte intoniert hatte, wird inzwi-
schen von seiner Skepsis belehrt - und den Verwerfungen des
neuen Zeitalters. Denn die eben noch glanzvoll obsiegende
Demokratie wird gleich von zwei Seiten bedroht, von innen
8 Einleitung
und von auBßen, von der Aufweichung liberaler Strukturen und
den Turbulenzen der globalisierten ÖOkonormnie. Sogar in den
MutterrHläindern der Demokratie verdichten sich vieWlfai1lttige Ver-
äanderungen zu einem Symptom der Krise. Immer seltener ge-
lingt es der Politik, Alternativen zu sich selbst zu entwickeln,
ihr Programmprofil zu schäarfen und ihre argumentative Sub-
stanz von deren Medieninszenierung zu retten. Mehr noch be-
unruhigt die - von der ÖOffentlichkeit nahezu unbemerkte -
schleichende Entparlamentarisierung der Politik. Politische
Entscheidungen werden zwar tüiberall, aber immer seltener im
Parlament getroffen; klassisches Regierungshandeln wandert
aus in ,Subpolitikenn ' oder vernetzt sich zur Konsenserzielung
mit auBßeerrppaarrllamentarischen ,Btüindnissen' und Verhandlungs-
runden, tüiber die sich die Repräasentanten der Btüirger nur
schwerlich noch Aufkläarung verschaffen, geschweige diese
korrigieren kö6nnen. Existentielle Entscheidungen, zum Beispiel
auf dem Feld der Gentechnik, werden in den ,Subsystemen'
von pharmazeutischer Wirtschaft und biowissenschaftlicher
Forschung getroffen und dtüirfen vom Parlament oft nur noch ex
post behandelt werden. Auch die ,sekundäare' Gesetzgebung
von Expertenkommissionen ist nicht dazu angetan, den Spiel-
raum des Paril aments zu erweitern.
Kommt es zu einer Rtüickbildung des parlamentarisches
Systems? Waächst bei den Btüirgern der Verdacht, Parteien seien
langfristig tüiberflütissige Organisationen, die soziale Bewegun-
gen und Interessen nicht mehr repräasentieren? Die geschwaächte
parlamentarische Kontrolle hat in der Apathie der Waähler und
dem ,Vertrauensentzug' (Claus Offe) ihr trauriges Spiegelbild.
Gibt es nichts mehr zu wäahlen, bleibt der Waähler der Wabhl
fern. Verstäarkt wird die Legitimitäatskrise durch die Politik
selbst. Der unter dem Schlagwort von Eigenverantwortung und
Selbsthilfe eingeleitete Rtüickzug des Staates aus öOffffeennttlliichen
Feldern, die notwendigen, aber zweischneidigen Reformen des
Gesundheitssystems, die fragwtüirdige Technifizierung der Bil-
dung und die Kommerzialisierung der Kultur "befreien" die
Gesellschaft ja nicht nur aus den Fesseln einer wohlfahrtsstaat-
Einleitung 9
licehen bzw. sozialbiüirokratischen Erstarrung. Dabei fäallt die
neoliberal gefeierte Selbstmodernisierung des Staates negativ
auf ihn selbst. Obwohl das politische System unter dem Diktat
leerer Kassen die Reichweite des Regierungshandelns drastisch
eingeschräankt und das Feld teilweise geräaumt hat, werden ihm
als Alleinverantwortlichen gesellschaftliche Krisen weiterhin
zugerechnet. Die Entstaatlichung des Staates, mit der eine
Legitimitäatskrise der Demokratie abgewendet werden sollte,
beschleunigt diese, falls sie niceht iüiberhaupt deren Ursache ist.
Legitimitaätsgeschwaächte Demokratien, die im politischen
Raum keine starken und iüiberzeugenden Alternativen mehr
entwicklen bzw. zulassen, verlieren an Integrationskraft und
werden anfallig fOür extremistische Stroömungen, die siech mit
nomadisierenden Ressentiments anreichern und vom Rand in
die ,biüirgerlicehe' Mitte draängen. Von der konservativen OÖVP
hoffaähig gemacht, iüibt in OÖsterreich eine im programmatischen
Kern und ihrer politischen Tradition nach illiberale Partei Re-
gierungsmacht aus, die mit dem demokratietheoretisch auf-
schluBßreichen ,Versprechen' angetreten war, freiheitsfeindliche
Proporzstrukturen abzuschaffen und demokratische Alternati-
ven durchzusetzen. In diesem Sinn fordert man unter dem Titel
"Mehr Demokratie" praäsidentielle und plebiszitaäre Instrumente,
die in den Haänden eines Volkstribuns jedoch hervorragend ge-
eignet sind, eben erwirkte demokratische Spielraäume wieder
einzuschraänken. Entsprechend soll auch die Rolle der OÖffent-
liechkeit umdefiniert werden; sie muBß niecht !läanger als demokra-
tische Arena der Willensbildung geschiüitzt, sondern soll viel-
mehr als Instrument der Loyalitaätsbeschaffung in Dienst ge-
nommen werden. Es bleibt abzuwarten, ob postmodern mas-
kierte, mit rechtsextremen Versatzstiüicken agierende Parteien
wie die FPOÖ die Achillesferse des liberalen Rechtsstaats treffen
und ihn autoritaär ,reformieren' - oder ob so1lche latent freiheits-
feindliche Parteien durch Regierungsbeteiligung doch noch de-
mokratisiert werden. In jedem Fall aber koönnte siech die Regie-
rungsbeteiligung rechtsextremer Parteien als Menetekel fOür Eu-
ropas Christdemokraten erweisen, die mit der Mehrheitsfaähig-
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keit auch ihre historische Rolle flüir die Stabilitäat der Demokra-
tien verlieren und anderen Konstellationen das Feld üuberlassen
müussen - etwa nicehttraditionalen bzw. populistisch radikalisier-
ten Parteien oder der wachsenden Partei der Nichtwäahler. Noch
allerdings sind dies keine tektonischen Erschüutterungen, son-
dern schleichende Veräanderungen, die im Gegenzug sogar
Tendenzen zur Selbst stabilisierung der Demokratie freisetzen
köonnten.
Das gilt möoglicherweise auch flüir die deutsche Parteispen-
denaffare. Sie macht sicehtbar, dass unter der politisch unbeweg-
ten Oberfläache eine demokratisch niceht mehr kontrollierte Op-
portunitäatsstruktur ausgebildet wurde, ein "System", das den
flüir Demokratien lebensgefahrlichen Verdacht weckt, Regie-
rungshandeln sei käaufliceh. Auf der Basis eines permanenten
Rechts- und Verfassungsbruchs wurde eine Arkanpolitik in-
stalliert, die auf persöonlichen Abhäangigkeiten und einer pater-
nalistischen Schattenpolitik beruhte. Eine ,etatisierte', program-
matisch auf Recht und Gesetz vereidigte Partei hat sich selbst
als Bestandteil des Staates definiert, urmn unter Einsatz ,schwar-
zer Kassen' ein quasi-korporatives und wirtschaftsnahes Netz-
werk zu spinnen. Die zu recht alarmierten Reaktionen des Sou-
veraäns und der Medien bestaätigen, was Claus Offe zur Grund-
lage seiner UÜberlegungen macht: den Umstand naärmnlich, daBß
Demokratien urmn den Preis ihres Fortbestehens zwingend auf
die Ressoouurrccee , Vertrauen' angewiesen sind.
Diese Krisenzeiechen sind nicht zu verwechseln mit dem
Typus der im Kern beschäadigten, "defekten Demokratien"
(Wolfgang Merkel). Oft handelt es sich urmn Läander, die - Stich-
wort ,Singapur-Syndrom' - ihre demokratische Legitimation
benutzen, urmn unmittelbar nach der Wahl die Grundrechtsga-
rantien und Instanzen einer liberal-rechtsstaatlichen Demokra-
tie zu beschneiden, parlamentarische Präarogativen auszuhöohlen
oder die politische Kultur im ganzen unter Kuratel zu stellen.
1Im Namen der Waählerlegitimation behindern sie die Justiz, be-
grenzen die Pressefreiheit oder verschanzen sich hinter einer
folkloristischen Kulissendemokratie, urmn den menschenrechtli-
Einleitung 11
chen Kern des Demokratieprinzips zu attacekieren. Darmnit sind
niceht nur Fiüihrerdemokraten (wie Fujimori in Peru) gemeint;
auceh junge osteuropiäliscehe Demokratien erliegen der Gefahr,
das MaBß ihrer errungenen Freiheit wieder einzuscehräanken. In
WeiBßruBßlland treten präasidiale Vo ollmacehten tendenziell an die
Stelle parlamentarisceher Diskussion; die wecehselseitige Legi-
timation von Recehtsstaat und Demokratie wird auBßer Kraft ge-
setzt und das Prinzip der Gewaltenteilung ausgehhOöhlt. Zusaätz-
liech werden langwierige Prozesse der Oöffffeennttllichen Willensbil-
dung durch Referenden oder Fokusgruppen abgekiüirzt oder
durch kampagnengesteuerte Volksentscheide neutralisiert - ei-
ne Entwicklung, die nicht auf die jungen Demokratien be-
schräankt ist. So zeichnet siceh das triüibe Bild einer postpolitisch
illiberalen Gesellschaft ab, die zwar noch den Abstimmungs-
modus der Demokratie benutzt, in der zugleich aber die demo-
kratische Partizipation zunehmend durch Akklamation ersetzt
wird, die ihrerseits von beeinflluuBßten Medienmonopolen erzeugt
werden. Die Kernelemente der klassiscehen liberalen Demokra-
tie sind in diesen Formaldemokratien niceht mehr enthalten,
näamliceh: Oppositionsrechte, Minderheitenschutz und vor allem
Recehtsstaatlicehkeit.
Die zweite, elementare Bedrohung fUür junge und alte De-
mokratien kommt ,von auBßen' und ist geeignet, die genannten
Selbstgefaährdungen noch zu verstäarken. Mit dem Sticehwort
,Globalisierung' ist ein ProzzeeBß gemeint, bei dem die Klammer
zwischen Nationalstaat und Volkswirtsechaft zugunsten trans-
nationaler Kooperationen ge1lö6st wird. OÖkonormnien entwaechsen
dem Territorium des Nationalstaates und organisieren siech als
,staatenlose' Konglomerate. Diese im gesetzesfreien Raum
operierende, eine eigene globale "Klasse" ausbildende OÖko-
nomie gefaährdet zwar niecht die reechtlieche Autonormnie der Na-
tionalstaaten, aber sie untergraäbt deren politisech-praktiseche
Souveraänitaät, indem sie siech dem Zugriff des Steuer- und So-
zialstaates sowie der Entsecheidungshoheit nationaler Parlamen-
te entzieht. Hinzu kommt, dass die Macht der global player die
Regierungen in eine Standortkonkurrenz treibt und einen ko-
12 Einleitung
stensenkenden Deregulierungswettlauf aufnöotigt, bei dem mul-
tinationale Investoren einzelnen LUämndermn bei "Fehlverhalten"
mit Auszug drohen oder bei "Goodwill" mit Ansiedlung lok-
ken. Auch die mäachtigsten Regierungen köonnen sich diesem
Katz-und-Maus-Spiel nicht entziehen, obwohl Kapitalbewe-
gungen oft nur symbolisch - darmnit "arbeitsplatzneutral" - sind
und nur auf der digitalen Landkarte der Weltböorse ihre Spuren
hinterlassen. Nicht nur das. Wäahrend die global vermnetzten
ÖOkonomien unter simultanen und kontinuierlichen Zeithorizon-
ten agieren köonnen, ist nationalstaatliche Politik gezwungen,
mit einem lokalen Nullsummenspiel zu antworten. Es besteht
darin, daBß Nationalstaaten ihr "Entgegenkommen", zum Bei-
spiel eine weitere Deregulierung des Marktes, mit sozialen und
politischen Kosten begleichen miüissen, die auf Dauer den Zu-
sammenhalt ihrer Gesellschaften beschäadigen, Stichwort Pau-
perisierung und Marginalisierung. Beides, die politisch gewoll-
te Deregulierung der Wirtschaft und die politisch erwiüinschte
Integration der Gesellschaften, scheinen langfristig unverein-
bar. Dahinter steht kaum anderes als die machtpolitische Kon-
frontation zwischen Kapital und Politik. In diesem Sinne be-
schrieb der frtüihere spanische Ministerpräasident Filipe Gonzalez
eine europäaische Realitläit, die vyom UÜbergewicht sozialdemo-
kratischer Regierungen gepräagt ist, mit dem nütichtermnen Satz:
"Wir regieren zwar fast iüiberall in der EU, aber wir sind nicht
an der Macht. "
In dieser Lage, schreibt Ulrich Beck, Oöffffnet sich auf drama-
tische Weise die Schere zwischen politischem Steuerungsbe-
darf und faktischer Handlungsohnmacht. Doch daraus den
SchlluuBß zu ziehen, die gesellschaftliche Strukturierungsmacht
sei vollstaändig von der Politik an die OÖkonomie tüibergegangen
und Politik als Ganzes von der Bildflaäche verschwunden,
koönnte sich als TrugscchhlluuBß erweisen. 1Im ÜUbrigen waren es ja
gerade die Parlamente, die durch rechtliche Implementierungen
den neuerlichen Globalisierungschub ausgee1lö6st haben. ODem
Siegeszug der transnationalen OÖkonomie, deren Dynamik in-
zwischen sogar ihren Akteuren zu entgleiten droht, gingen po