Ukraine-Analyse Nr. 19 - Laender-Analysen

27 Pages·2007·0.31 MB·German

NR. 19 13.02.2007
uukkrraaiinnee--
aannaallyysseenn
ukraine-analysen.de
DER KONFLIKT ZWISCHEN REGIERUNG UND PRÄSIDENT
DIE SPRACHENFRAGE
■ ANALYSE
Man spielt mit den Regeln und nicht nach den Regeln.
Politische Ungewissheit in der Ukraine. Sarah Whitmore, Oxford 2
■ ANALYSE
Ukrainisch – Russisch: Sprachen, Sprachgebrauch, Sprachenkonfl ikte in der Ukraine 6
Gerhard Simon, Köln
■ TABELLEN UND GRAFIKEN ZUM TEXT
Statistiken und Umfragen zur Sprachenfrage 12
■ KOMMENTAR
Gespalten in Ost und West? Sprachenfrage und Geschichtspolitik in der Ukraine im
Kontext der Wahlkämpfe 2004 und 2006. Wilfried Jilge, Leipzig 18
■ CHRONIK
Vom 22. Januar bis zum 13. Februar 2007 23
■ LESETIPP
Arbeitspapiere und Materialien Nr. 81. Das Comeback von Viktor Janukowitsch 24
■ LESETIPP
Abstracts der Artikel mit Ukraine-Bezug in OSTEUROPA 2–3/2007 25
Die nächsten Ukraine-Analysen erscheinen am 27. Februar 2007. Th ema werden Arbeitsmigration und demographische Krise sein.
Forschungsstelle Deutsche Gesellschaft für Otto Wolff -
Osteuropa Osteuropakunde Stiftung
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aannaallyysseenn
Analyse
Man spielt mit den Regeln und nicht nach den Regeln.
Politische Ungewissheit in der Ukraine
Sarah Whitmore, Oxford Brookes University
Zusammenfassung
Der Rücktritt von Außenminister Boris Tarasjuk und das Inkrafttreten des Gesetzes „Über das Ministerkabi-
nett“ ohne die Unterschrift des Präsidenten sind die letzten Manifestationen des Machtkampfes innerhalb
der Exekutive, der die Politik in Kiew seit dem Amtsantritt von Viktor Janukowitsch als Ministerpräsident
im August 2006 dominiert hat. Auf einer Ebene ist dieser Machtkampf eine Reaktion auf gesetzliche Un-
stimmigkeiten und off ensichtlichen Mängel der Verfassungsreform, die Präsident und Parlament jeweils zu
ihren Gunsten korrigieren wollen. Der „Krieg der Gesetze“ spiegelt aber auch die post-sowjetische Verfasst-
heit an sich wider, in der formale politische Institutionen von den Akteuren als formbar und unverbindlich
angesehen werden.
Einleitung von politischen Deals und der legale Nihilismus, der
Die Parlamentswahlen im März 2006 führten so- ihre Handlungen leitet, off enbar werden. Die erbitter-
wohl zu einer Umgestaltung der politischen Kräf- ten Kämpfe um Personen (insbesondere die Entlassung
te als auch der formalen Spielregeln der Politik in der von Ministern, die vom Präsidenten ernannt wurden)
Ukraine. Die Partei der Regionen wurde zur größten und Ämter (vor allem bei dem Gesetz „Über das
Partei im Parlament und Viktor Janukowitsch gelang Ministerkabinett“) sind die deutlichsten Beispiele für
damit das Comeback als Ministerpräsident. Gleich- diesen institutionellen Machtkampf.
zeitig trat die so genannte „Politreform“ in Kraft, d.h.
die Verfassungsänderungen, die auf dem Höhepunkt Startvorteil für Janukowitsch
der Orangen Revolution vereinbart worden waren. Seit seinem Amtsantritt als Ministerpräsident ver-
Die neue Regierung mit erweiterten Vollmachten sucht Viktor Janukowitsch eindeutig, sich als
wurde durch eine Koalition gebildet und nicht vom mächtigster Politiker der Ukraine zu etablieren. Hier-
Präsidenten ernannt. Seitdem wird die ukrainische für hat er substantielle Ressourcen: einen deutlichen
Politik durch erhöhte Unsicherheit und durch einen Vorsprung in Meinungsumfragen als der Politiker der
bitteren Machtkampf zwischen den politischen Eliten, Ukraine, dem am meisten vertraut wird, die Unter-
vor allem zwischen Ministerpräsident und Präsident, stützung durch einige der reichsten Unternehmer der
gekennzeichnet. Ukraine und den Rückhalt durch eine Parlaments-
koalition, in der seine Partei der Regionen mit 186 von
Off ener Machtkampf 238 Sitzen mit Abstand die dominierende Kraft ist.
Seit 1996 hat es ständig Versuche gegeben, die ukrai- Trotz anfänglicher Vorhersagen, dass die
nische Verfassung entweder direkt oder indirekt „Antikrisenkoalition“ nur von kurzer Dauer sein wür-
(durch Ermächtigungsgesetze) zu ändern. In dieser de, hat sie bis jetzt gehalten, da die Juniorpartner, die
Hinsicht ist die heutige Unsicherheit nichts Neues. Sozialisten und Kommunisten, viel zu verlieren haben,
Die „Politreform“ mit dem gleichzeitigen Übergang falls sie die Koalition verlassen. Janukowitsch hat auch
zu einem proportionalen Wahlrecht führte zu den weit von dem schlechten Verhältnis zwischen den Blöcken
reichendsten Änderung des Machtssystems seit einem außerhalb der regierenden Koalition profi tiert, von
Jahrzehnt. Dies führte zu einer Übergangsperiode zu denen jeder bedeutsame (Wirtschafts-)Anhänger hat,
den neuen formalen Spielregeln, die sich in einem die sich nicht damit abfi nden konnten, nicht an der
multidimensionalen Machtkampf manifestiert, der Regierung beteiligt zu sein und damit keinen Zugang
seinerseits den laufenden Kampf der Lobbyisten um zu staatlichen Ressourcen zu haben.
wirtschaftliche Vorteile überlagert. Daher hatte Janukowitsch eine gute Position inne,
Ein hohes Maß an Unsicherheit hat dazu geführt, um eine Politik durchzusetzen, die seine Position stärken
dass sich alle wesentlichen politischen Akteure noch würde und von der die wirtschaftlichen Interessen, die
mehr als zuvor auf kurzfristige anstatt auf strategische die Partei der Regionen unterstützen, profi tieren wür-
Ziele konzentrieren und dass die zynische Grundlage den. Obwohl es Spannungen zwischen den verschiede-
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nen Faktionen innerhalb der Partei gibt, sind diese im Der Einzug der fünf propräsidialen Minister in die
Vergleich zu Julia Timoschenkos Block und vor allem zu Regierung Janukowitsch (zusätzlich zu den verfassungs-
Unserer Ukraine von Juschtschenko eher gering. mäßig gewährten Ernennungen des Verteidigungs-
Juschtschenko hat sich schwer damit getan, die und Außenministers) sollte den Weg dafür bahnen,
neue konstitutionelle Realität und die neue Regierung dass Unsere Ukraine formal der Koalition beitrat, was
zu akzeptieren, die beide nicht seinen Präferenzen ent- das internationale Image von Janukowitsch verbessern
sprachen. Er schwankte zwischen Kompromiss und und Unternehmern von Unsere Ukraine den Zugang
Widerstand. Ein großer Kompromiss war die „Erklärung zu staatlichen Ressourcen ermöglichen würde. Die
der nationalen Einheit“, womit Juschtschenko die rapide eskalierenden Spannungen zwischen Präsident
Ernennung von Juri Luzenko zum Innenminister und und Ministerpräsident führten aber schnell dazu, dass
von vier Mitgliedern von Unserer Ukraine zu Justiz-, Juschtschenkos Partei in die Opposition ging und ihre
Jugend und Sport-, Kultur- und Gesundheitsministern Minister aus der Regierung zurückzog.
durchsetzen konnte. Sein Widerstand zeigte sich
durch den Gebrauch des Präsidentenvetos und die Der Streit um die Minister
Anrufung des Verfassungsgerichts. Die Ressourcen Die vier Minister von Unsere Ukraine traten im
des Präsidenten sind jedoch begrenzt durch die zah- Oktober zurück, nicht jedoch Außenminister
lenmäßige Unterlegenheit und die Zerstrittenheit der Boris Tarasjuk, der zusammen mit dem Parteilosen
Parlamentsfraktion seiner Partei Unsere Ukraine, durch Anatoli Hrizenko gemäß der neuen Verfassung vom
seine geringe Popularität, die neuen Beschränkungen Präsidenten ernannt worden waren. Zusammen mit
für seine konstitutionelle Autorität und beschränkte Innenminister Luzenko waren sie als Mitglieder der
Unterstützung von Seiten seines Sekretariates, das Regierungskoalition in der Lage die Regierungspolitik
durch hohe Personalfl uktuation und unberechenbare zu konterkarieren. Die pro-westliche Position von Ta-
Entlassungen (manchmal ganzer Abteilungen) durch rasjuk stand im Konfl ikt zur Wahlkampfplattform der
das Staatsoberhaupt geschwächt ist. Partei der Regionen und hatte Russland schon lange
geärgert. Es war bekannt, dass Luzenko Geschäfts-
Konfl iktpunkte leute in der Partei der Regionen mit Untersuchungen
Anzeichen für einen grundlegenden Machtkampf durch Rechtsschutzbehörden irritiert hatte. Das Ver-
zwischen dem Präsidenten und dem Minister- teidigungsministerium hat sehr viele Ressourcen, vor
präsidenten gab es fast sofort nach der Ernennung der allem Land, unter seiner Kontrolle.
Regierung im August 2006, trotz der viel gepriesenen Es wurden Kampagnen lanciert, um die verblei-
„Erklärung der nationalen Einheit“, die eine koor- benden pro-Juschtschenko-Minister zu diskreditieren,
dinierte Politik der Exekutive auf den wichtigsten Ge- indem sowohl Luzenko wie Hrizenko der Korruption
bieten sichern sollte, aber in Wahrheit als Feigenblatt beschuldigt wurden. Im Fall des Innenministers
diente, um Juschtschenko vor öff entlicher Demüti- wurden sowohl eine parlamentarische als auch eine
gung durch die Ernennung von Janukowitsch zum Mi- kriminalpolizeiliche Untersuchung durchgeführt,
nisterpräsidenten zu bewahren. Janukowitsch ergriff während die Rechnungsprüfer der Regierung be-
die Initiative und forderte die Autorität des Präsident haupteten, den Missbrauch von Haushaltsmitteln
bei einer Reihe von politischen Th emen und Prozedur- im Verteidigungsministerium aufgedeckt zu haben.
fragen heraus, darunter bezüglich des Rechtes, den In beiden Fällen war jedoch klar, dass die Vorwürfe
Verteidigungs- und den Außenminister zu entlassen politisch motiviert waren. Hryzenko verteidigte sich
(das nach der geänderten Verfassung ein Vorrecht energisch vor dem Parlament und behielt vorläufi g
des Präsidenten blieb) und legte einen Vorschlag für sein Amt, Luzenko jedoch wurde für ineff ektive Arbeit
ein Gesetz „Über das Ministerkabinett“ vor, das lange gerügt und am 30. November mit den Stimmen der
überfällig war (nachdem Präsident Kutschma fünfmal Partei der Regionen und der Kommunisten sowie von
sein Veto dagegen eingelegt hatte) und das die neue 18 Abgeordneten des Blocks Timoschenko entlassen.
Gewaltenteilung eindeutig zugunsten des Ministerprä- Zwei Tage später wurde Tarasjuk von der
sidenten klarstellen würde. Antikrisenkoalition entlassen, obwohl seine
Im Folgenden entzündeten sich Konfl ikte zwischen Ernennung laut Verfassung zur Quote des Präsidenten
Ministerpräsident und Präsident an einer Vielzahl von gehörte. Mit der Unterstützung des Präsidenten und
Punkten, darunter das Recht des Präsidenten, Dekrete einer Gerichtsentscheidung, die die Entlassung für il-
ohne die Gegenunterschrift des Ministerpräsidenten zu legal erklärte, im Rücken weigerte sich Tarasjuk, sein
erlassen, die Gestaltung des Staatshaushaltes und die Amt zu verlassen. Janukowitsch hinderte ihn jedoch
Rolle des Ministerpräsidenten in der Außenpolitik. daran, an Ministertreff en teilzunehmen und stoppte
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die Finanzierung des Ministeriums, was schließlich zusetzen: die nötigen 300 Abgeordnetenstimmen im
Tarasjuk dazu zwang, am 30. Januar zurückzutre- Parlament, um das präsidiale Veto zu überstimmen,
ten. Der erfolgreiche Ausschluss von Tarasjuk und den Einsatz der neuen Bestimmungen der Verfassung,
Luzenko aus der Regierung beraubte Juschtschenko die die Notwendigkeit einer Unterschrift unter das
seiner Hauptverbündeten in der Regierung und Gesetz durch den Präsidenten umgehen, indem
stellte eine bedeutende Niederlagen im Machtkampf der Parlamentspräsident diese leisten kann sowie
mit Janukowitsch dar. Die Regierungskoalition ansonsten ein für die Koalition positives Urteil des
konnte Luzenko mit Hilfe von Stimmen aus dem Verfassungsgerichts.
Block Timoschenko entlassen, was die internen Demzufolge nahm die Koalition Ende Dezember
Widersprüche innerhalb der Opposition off enbarte. 2006 die Regierungsversion des Gesetzes an, ohne
Der erzwungene Abgang von Tarasjuk war jedoch sehr einen einzigen von Juschtschenkos Vorschlägen zu
viel schwerwiegender, da er das verfassungsmäßige berücksichtigen. Dies hatte Juschtschenkos Veto
Recht des Präsident, den Außenminister zu ernennen, zufolge, was wiederum am 12. Januar 2007 unter
in beträchtlichem Maße untergrub. skandalträchtigen Umständen überstimmt wurde:
Die erforderlichen zusätzlichen Stimmen kamen vom
Verfassungslücken Block Timoschenko, der im Austausch dafür die
Es blieb weiterhin unklar, was geschehen würde, Unterstützung der Koalition für das Gesetz über das
wenn das Parlament dem Kandidaten des Prä- „imperative Mandat“ für Abgeordnete von Lokalräten
sidenten für das Amt des Außenministers die Zustim- und das Gesetz über die Opposition (in erster Lesung)
mung verweigern würde. Dies war nur ein Beispiel für erhielt. Beide Gesetze sind für den Block Timoschenko
die vielen Lücken in der neuen Verfassung, die eine von großer Bedeutung. Das imperative Mandat, d.h.
Klärung der Prozeduren durch das Gesetz „Über das der Verlust des Sitzes im Lokalrat beim Verlassen der
Ministerkabinett“ erforderte. Die Annahme dieses Partei, auf deren Liste sie gewählt worden sind, soll
Gesetzes wurde zu einem entscheidenden Faktor im den massiven Mitglieder- und Abgeordnetenschwund
Machtkampf zwischen dem Präsidenten und der Re- auf der lokalen Ebene stoppen. Das Gesetz
gierungskoalition und wurde als eines der Hauptinstru- über die Opposition soll dem Block als größter
mente angesehen, um die konstitutionellen Rechte der Oppositionspartei neu Gestaltungsmöglichkeiten im
jeweiligen Seite zu verbessern. Parlament geben.
Gleichzeitig herrscht nach wie vor Unsicherheit Timoschenkos zynisches Geschäft mit der Partei
über die Gesetzesmäßigkeit der „Politreform“ an sich. der Regionen versetzte Juschtschenkos Position einen
Juschtschenko suchte weiterhin nach Mitteln, um sie ziemlichen Schlag, kann aber auch dazu führen, dass
zu revidieren, während die Regierungskoalition als eine Timoschenko in großem Maße an Glaubwürdigkeit
ihrer ersten Maßnahmen ein Gesetz von äußerst zwei- verliert. Daraufhin fällte der Präsident die gesetzlich
felhafter Legalität annahm, das dem Verfassungsgericht fragwürdige Entscheidung, das Gesetz ein zweites
ein Urteil über die Verfassungsmäßigkeit der Mal an das Parlament zurück zu verweisen. Nach ei-
Verfassungsänderungen vom Dezember 2004 verbot. nigem Zögern beschloss die Koalition, das Gesetz mit
Daher versuchten sowohl die Regierung als auch der der Unterschrift des Parlamentspräsidenten Oleksandr
Präsident, ihre konstitutionellen Rechte auf Kosten Moroz in Kraft treten zu lassen, was durch die
des anderen zu erweitern, indem jede Seite ihren ei- Verfassungsänderungen gestattet wurde. Das Gesetz
genen Gesetzesvorschlag „Über das Ministerkabinett“ wurde offi ziell am 2. Februar 2007 veröff entlicht und
formulierte, um Vorteile aus den weißen Flecken in war somit das erste Gesetz, das ohne die Unterschrift
der existierenden Verfassung zu ziehen. des Präsidenten in Kraft trat. Juschtschenko focht
Beide Gesetzesvorschläge wurden ausdrücklich das Gesetz vor dem Verfassungsgericht an, um diesen
auf die gegenwärtigen Amtsinhaber und Umstände ist es aber seit seiner Neukonstituierung im August
zugeschnitten, mit dem Ziel, ihnen einen Vorteil im ziemlich still gewesen, und er wird sich, mit seiner
Machtkampf zu verschaff en. Viele Teilnehmer und mangelnden Erfahrung, kaum in den Streit zwischen
Beobachter sagten einen Kompromiss vorher, bei dem Präsident und Parlament einmischen.
zwar der Regierungsvorschlag die Grundlage des neu- Das Inkrafttreten des Gesetzes stellt einen
en Gesetzes darstellen würde, aber einige Vorschläge überraschenden Präzedenzfall dar, provozierte
des Präsidenten einbezogen würden, um sicherzustel- Kommentatoren dazu, von Krieg zwischen und in-
len, dass er das Gesetz unterschriebe. Die Regierung nerhalb der Regierungsgewalten zu sprechen und
war sich aber sicher, eine Reihe von Optionen zu ha- gab Timoschenkos Wunsch für vorzeitige Wahlen
ben, um ihre Präferenzen so weit wie möglich durch- Auftrieb. Innerhalb weniger Tage hatte sich aber das
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Karussell der politischen Allianzen erneut gedreht, Verhalten rational, bringt aber auch die Kluft zwischen
und am 5. Februar unterschrieb Timoschenko zu- Politikern und den Interessen ihrer Wähler zum Aus-
sammen mit Unsere Ukraine eine Erklärung über druck, da Politiker sich anscheinend problemlos mit
koordinierte Opposition im Parlament. Diese be- den erklärten Feinden von Gestern verbündeten.
inhaltet auch die Verpfl ichtung, gemeinsam für die Solche Aktionen sind auch dazu geeignet, politi-
Revidierung der Politreform zu arbeiten, während sche und institutionelle Unsicherheit neu entstehen
die Regierungskoalition schon eine Änderung des zu lassen. Wie Robinson (2000: 4–7) in Hinblick auf
Gesetzes diskutierte, um einige der Vorschläge des Jelzins Russland anmerkte, ist die Krux des Problems
Präsidenten einzubeziehen. die Schwäche formaler staatlicher Regeln, die in-
stabil und Veränderungen gemäß den Launen von
Resümee Politikern unterworfen sind. Diese Schwäche (re-)pro-
Die unklare konstitutionelle und politische Lage duziert Instabilität, da es den Regeln nach Ansicht der
seit der Verabschiedung der Politreform hat dazu rivalisierenden politischen Eliten an Legitimität man-
geführt, dass politische Akteure kurzfristige Taktiken gelt. Diese Eliten haben somit wenig Anreize, sich
benutzen, um Macht zu erlangen und vor allem, um an formale Regeln zu halten, da sie nicht sicher sein
ihr politisches Überleben zu sichern. Alle Akteure ver- können, dass ihre Rivalen sich auch an diese Regeln
suchten so, mit den Regeln zu spielen, um ihre eigene halten werden und dass diese Regeln auch in Zukunft
Position im zukünftigen politischen Spiel zu verbes- wichtig sein wird. Unter solchen Umständen ist daher
sern, statt sich an die Regeln zu halten. Dies erzeugte Unsicherheit das einzig Sichere.
Bündnisse, die sich schnell änderten und auf situa- Übersetzung aus dem Englischen:
tionsbedingt wechselnden gemeinsamen Interessen Matthias Neumann
basierten. Unter den gegebenen Umständen ist dieses
Über die Autorin
Sarah Whitmore ist Senior Lecturer in Politics an der Oxford Brookes Universität, Oxford, Großbritannien.
Im Text zitierte Literatur:
Neil Robinson (2000), ‘Introduction: Institutions and Political Change in Russia’, in Neil Robinson (Hg.), Institutions
and Political Change in Russia, Basingstoke: Macmillan, S. 1–10.
Dokumentation
Zentrale Bestimmungen des neuen Gesetzes „Über das Ministerkabinett“
• Wenn der Präsident den Kandidaten für das Ministerpräsidentenamt, der von der Koalition der Parlamentsfraktionen
bestimmt wird, innerhalb von 15 Tagen nicht akzeptiert, kann die Koalition den Ministerpräsidenten ohne
Zustimmung des Präsidenten ernennen.
• Der Präsident ernennt den Verteidigungs- und den Außenminister nur auf den Vorschlag der Regierungskoalition
hin. Wenn der Präsident sich weigert, Kandidaten vorzuschlagen, werden diese Minister vom Parlament er-
nannt.
• Die Regierung verwaltet das Staatseigentum. Dies bedeutet, dass der Fond für Staatsvermögen, der unter der
Kontrolle des Präsidenten stand, in die Kompetenz der Regierung überführt werden sollte.
• Das Ministerkabinett wird als legitimiert angesehen, sobald zwei Drittel seiner Mitglieder den Amtseid abgelegt
haben.
• Präsidialerlasse müssen vom Ministerpräsidenten und dem Minister des jeweiligen Geschäftsbereiches gegen-
gezeichnet werden und können mit Kommentaren an den Präsidenten zurückverwiesen werden.
Quelle: Ukrainska Prawda, www.pravda.com.ua., 15. Januar 2007
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Analyse
Ukrainisch – Russisch: Sprachen, Sprachgebrauch, Sprachenkonfl ikte in der
Ukraine
Gerhard Simon, Universität zu Köln
Zusammenfassung
Die Volkszählung von 2001 zeigt einen Anstieg des ukrainischen und entsprechend einen Rückgang des rus-
sischen und russischsprachigen Bevölkerungsanteils seit 1989. Verbreitung und Ansehen der ukrainischen
Sprache haben zugenommen. Dennoch hat das Russische im Osten und Süden des Landes im öff entlichen
Raum eine beherrschende Stellung behalten. Besonders weitgehend ist die Ukrainisierung des Bildungs-
wesens fortgeschritten. In den Massenmedien und der Popkultur überwiegt dagegen das Russische. In den
vergangenen 15 Jahren ist es nicht zu Dauerkonfl ikten in der Sprachenfrage gekommen, aber es gibt ein
latentes Konfl iktpotenzial. Zwar reagiert die Bevölkerung in weiten Teilen des Landes gelassen im Sprachen-
streit, aber insbesondere im Osten und Süden sind die postsowjetischen Eliten in Krisensituationen in der
Lage, die Sprachenfrage für die eigenen politischen Belange zu instrumentalisieren.
Einleitung vereinigt worden war, als ausgeschlossen. Die
Die Ukraine ist ein zweisprachiges Land, viele, aber Westukraine war nach der Vernichtung der jüdischen
durchaus nicht alle Menschen beherrschen so- Bevölkerung während des Holocaust und nach der
wohl die ukrainische als auch die russische Sprache. Der Aussiedlung der Polen weitgehend ethnisch und
Sprachgebrauch ist innerhalb des Landes außerordentlich sprachlich homogen ukrainisch. Dagegen zogen mit
unterschiedlich; im Osten und Süden hat das Russische, der fortschreitenden Industrialisierung seit den 1930er
im Westen das Ukrainische eine beherrschende Stellung. Jahren Hunderttausende von Russen in die östlichen
In der Zentralukraine mit Kiew sind beide Sprachen etwa und zentralen Regionen der Ukraine und verstärkten
gleich präsent, wobei hinsichtlich der funktionalen Ebe- die ohnehin vorhandene russische sprachliche und
nen im Sprachgebrauch vielfache Unterschiede bestehen. kulturelle Prägung, vor allem der Städte. Die jahrhun-
Eindeutige Grenzen gibt es weder territorial noch funk- dertelange Zugehörigkeit zum Russischen Reich, die
tional. Neben dem Ukrainischen und Russischen haben massive Zuwanderung von Russen in sowjetischer Zeit
andere Sprachen im öff entlichen Raum nur lokal be- und die russifi zierende Sprachenpolitik in spätsowjeti-
grenzte Bedeutung, wie das Rumänische in der Bukowina scher Zeit haben dazu geführt, dass im Osten, Süden
oder das Krimtatarische auf der Krim. und in der Zentralukraine für Millionen von eth-
nischen Ukrainern das Russische die Muttersprache
Historischer Hintergrund ist. Bei der Volkszählung im Dezember 2001 gaben
Historische Entwicklungen und Sprachenpolitik von den 37,54 Millionen Ukrainern 5,54 Millionen
haben seit dem 19. Jahrhundert immer wieder zu Russisch als ihre Muttersprache an.
massiven Verschiebungen im Sprachgebrauch geführt. In Obwohl nur 17,3% der Bevölkerung ethnische
jenen Teilen der Ukraine, die bis 1918 zum Russischen Russen sind, erklären so gemäß dem soziologischen
Reich gehörten, versuchte die zarische Regierung mit Monitoring des Instituts für Soziologie der Nationalen
großem Nachdruck das Russische im öff entlichen Raum Akademie der Wissenschaften der Ukraine 34%
durchzusetzen. Das Jahrzehnt nach dem Sieg der Bolsche- der ukrainischen Bevölkerung, Russisch sei ihre
wiki im Bürgerkrieg war geprägt durch die Umkehrung Muttersprache. 64% bezeichneten Ukrainisch als ihre
dieser Politik: In der Zeit der Korenizacija (Einwurzelung) Muttersprache. (Siehe Grafi ken 1 und 2 auf Seite 12)
förderten die Bolschewiki das Ukrainische im öff entlichen Wir haben also davon auszugehen, dass knapp zwei
Raum und drängten das Russische zurück. Seit den frühen Drittel der Bevölkerung ukrainophon, etwas mehr als
1930er Jahren erlahmte diese Politik der Ukrainisierung ein Drittel russophon sind. Dabei war der Anteil der
und verkehrte sich immer mehr in ihr Gegenteil bis zur Russophonen im vergangenen Jahrzehnt leicht rück-
aggressiven Sprachenpolitik in der Breshnew-Zeit, die das läufi g, der Anteil der Ukrainophonen wuchs gering-
Ziel verfolgte, das Russische im Bildungswesen nach und fügig, wie die Grafi ken 3 und 4 zeigen.
nach als einzige Unterrichtssprache durchzusetzen. Dies ist eine Folge der Sprachenpolitik in der seit
Das erwies sich in der Westukraine, die erst im 1991 unabhängigen Ukraine. Noch vor der Ausrufung
Zuge des Zweiten Weltkriegs mit der Sowjetukraine der Unabhängigkeit erklärte das Sprachengesetz
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vom 28. Oktober 1989 Ukrainisch zur einzigen Imperiums, als sozialer Aufstieg und Assimilation
Staatssprache auf dem Territorium der zunächst noch auf dem Territorium der Ukraine über die russische,
zur Sowjetunion gehörenden Ukraine und verkehrte keineswegs über die ukrainische Sprache führten.
damit die sowjetische Sprachenpolitik der zurücklie- Die Ukrainer mit russischer Muttersprache leben
genden Jahrzehnte ins Gegenteil. Die Zurückweisung ganz überwiegend im Osten und Süden des Landes,
der russifi zierenden Sprachenpolitik durch die neuen im Westen ist ihre Zahl verschwindend gering. So
nationalen postkommunistischen Eliten in vielen bezeichneten 59% der Ukrainer im Gebiet Donezk,
Unionsrepubliken und nachmaligen neuen unabhän- 26% im Gebiet Charkiw, 28% im Gebiet Odesa, aber
gigen Staaten hat bei der Demontage der Sowjetunion nur 0,4% im Gebiet Lemberg das Russische als ihre
eine wichtige Rolle gespielt, weil hierin ein erhebliches Muttersprache.
Mobilisierungspotenzial für die Unabhängigkeit und Neben der Muttersprache wurde 2001 ebenso wie
gegen den sowjetischen Zentralismus steckte. früher bei den sowjetischen Volkszählungen nach der
Beherrschung anderer Sprachen gefragt. Auf diese
Nationalität und Sprachkompetenz Weise gibt die Volkszählung Auskunft darüber, wie
Die Ergebnisse der Volkszählung vom Dezember viele Russen in der Ukraine das Ukrainische beherr-
2001 dokumentieren die nationale Zusammen- schen und wie viele Ukrainer das Russische. Von den
setzung der Bevölkerung und die Sprachensituation 8,3 Millionen Russen gaben 55% an, das Ukrainische
zehn Jahre nach der Erklärung der Unabhängigkeit. frei zu beherrschen. Umgekehrt sagten von den 37,5
Sie erlauben auch Vergleiche mit der letzten Volks- Millionen Ukrainern 43%, sie könnten sich frei
zählung in sowjetischer Zeit, die 1989 stattfand. Die auf Russisch ausdrücken. Addiert man also bei den
Gesamtbevölkerung des Landes verminderte sich von Ukrainern die Menschen mit russischer Muttersprache
51,5 Millionen auf 48,5 Millionen. In der nationalen und diejenigen, die frei die russische Sprache beherr-
Zusammensetzung ergaben sich deutliche Verschie- schen, zeigt sich, dass 58% der ethnisch ukrainischen
bungen zugunsten der Ukrainer, deren Anteil an der Bevölkerung ohne Schwierigkeiten in russischer
Bevölkerung von 73% auf 78% anstieg; der Anteil der Sprache kommunizieren können. Zu einem ähn-
ethnischen Russen fi el entsprechend von 22% 1989 lichen Ergebnis kommt man bei den Russen hinsicht-
auf 17% im Jahr 2001. Dies dürfte teilweise durch lich ihrer Sprachkompetenz im Ukrainischen: 59%
ein negatives Migrationssaldo, zum Teil aber auch da- der ethnischen Russen im Land können sich frei auf
durch zu erklären sein, dass manche Personen mit einer Ukrainisch ausdrücken.
labilen ethnischen Identität sich jeweils für die Ethnie Dies erscheint auf den ersten Blick und gewiss
entschieden, die das höhere Prestige besaß. 1989 wa- im internationalen Vergleich als ein hoher Grad an
ren das die Russen und 2001 die Ukrainer. Schließ- Zweisprachigkeit. Aber es bedeutet auch, dass mehr
lich muss bei Volkszählungen weder die ethnische Zu- als 40% der ethnischen Russen und Ukrainer die
gehörigkeit noch die Sprachkompetenz nachgewiesen Sprache des anderen nicht frei und ungezwungen
werden. Registriert wird die Selbsteinschätzung. Wie verwenden können. Daraus folgt gewiss keine totale
schon 1989 stellen auch 2001 unter allen ukrainischen Sprachlosigkeit miteinander, denn neben der freien
Regionen lediglich auf der Krim die Russen die Bevöl- Beherrschung einer anderen Sprache gibt es viele
kerungsmehrheit. Die am stärksten ethnisch russisch Abstufungen der Kommunikationsmöglichkeit. Aber
geprägte Großstadt ist Sewastopol auf der Krim, wo die manchmal geäußerte Behauptung, es gebe ei-
2001 der russische Bevölkerungsanteil 72% gegenüber gentlich kein Konfl iktpotential in der Sprachenfrage,
einem ukrainischen Anteil von 22% betrug. denn alle könnten miteinander frei kommunizieren,
Es war schon davon die Rede, dass in der Ukraine triff t nicht zu.
ethnische Zugehörigkeit und Sprachverhalten in vielen Wie nicht anders zu erwarten, bestehen auch
Teilen des Landes weit auseinander klaff en. 85% der hinsichtlich der Beherrschung der Sprache des
Ukrainer sagten, Ukrainisch sei ihre Muttersprache, anderen gravierende regionale Unterschiede. Im
15% nannten das Russische als ihre Muttersprache. Gebiet Donezk beherrschen von den 1,8 Millionen
Bei den Russen gaben dagegen 96% die Sprache ihrer Russen 55% das Ukrainische, mit anderen Worten,
Ethnie als Muttersprache an, 4% das Ukrainische. fast die Hälfte der russischen Bevölkerung gibt an,
Außer den Russen sind auch zahlreiche andere eth- nicht frei auf ukrainisch kommunizieren zu können.
nische Minderheiten in der Ukraine überwiegend Umgekehrt sagen von den 2,7 Millionen Ukrainern
russophon, so z. B. 63% der 276.000 Belorussen, 83% im Gebiet Donezk 90% Russisch sei entweder ihre
der 104.000 Juden, 89% der 92.000 Griechen und Muttersprache (59%) oder sie beherrschten es frei
65% der 33.000 Deutschen. Dies ist das Erbe des (31%). Daraus ergibt sich ein durchgehend russisch-
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sprachiger Kommunikationsraum. Spiegelbildlich derjenigen, die angeben, zu Hause überwiegend
stellt sich die Sprachensituation im Gebiet Lemberg Russisch zu sprechen, während ein erheblicher Teil
dar. Von den 2,5 Millionen Ukrainern beherrschen (mehr als 20%) der ukrainischen Muttersprachler
18% das Russische, mit anderen Worten über 80% im Alltag auch das Russische gebraucht. Vielleicht
können sich nicht frei in der russischen Sprache bewe- ist es ein Erbe der imperialen Vergangenheit, dass
gen. Von den 93 000 Russen im Gebiet Lemberg sagen Ukrainischsprecher im Alltag viel eher bereit sind
89% das Ukrainische sei entweder ihre Muttersprache zum Russischen zu wechseln als umgekehrt. Auch
(12%) oder sie beherrschten die ukrainische Sprache statistische Untersuchungen unter Schülern und
(77%). Es zeigt sich, dass im Gebiet Lemberg ein Studenten in Kiew bestätigen, dass die Bereitschaft
durchgehend ukrainischer Kommunikationsraum zum Sprachwechsel bei Personen mit ukrainischer
besteht. Muttersprache weit größer ist als bei Jugendlichen mit
Eine recht ausgeprägte Zweisprachigkeit und da- russischer Muttersprache.
mit eine Mittelposition weist die Volkszählung für die
Stadt Kiew aus. Von den 2,1 Millionen Ukrainern Sprachengesetz und Sprachenprestige
beherrschen 58% das Russische, für weitere 14% ist Das Sprachengesetz vom 28. Oktober 1989, das auf
es die Muttersprache, so dass 72% der ukrainischen dem Höhepunkt der Perestroika in der Sowjet-
Bewohner von Kiew angeben, auf Russisch frei zu union das Ukrainische zur einzigen Staatssprache auf
kommunizieren. Von den 337 000 Russen in der Stadt dem Territorium der Ukrainischen SSR erklärte, gilt
können 71% in ukrainischer Sprache kommunizieren, bis heute mit geringfügigen Änderungen aus dem
für 8% ist das Ukrainische die Muttersprache, so Jahr 1995 fort. Die Verfassung von 1996 bestätigte in
dass insgesamt 79% der russischen Bevölkerung des Artikel 10 die Bestimmungen über die Staatssprache.
Ukrainischen mächtig sind. Dabei schließt das Sprachengesetz keinesfalls das Rus-
Die Wirklichkeit ist noch weit komplizierter als sische aus dem öff entlichen Leben aus. Es legt vielmehr
diese Zahlen ohnehin vermuten lassen, denn weder fest, dass in staatlichen Organen einschließlich des Jus-
die Sprachen noch der Sprachgebrauch sind so klar tizwesens, in Organisationen, im Bildungswesen und
voneinander abgegrenzt wie die Volkszählungsdaten in der Wirtschaft neben dem Ukrainischen auch das
auf den ersten Blick nahe legen. Außerdem sind Russische („die Sprachen der anderen Nationalitäten“
zahlreiche Mischformen des Ukrainischen und in der Formulierung des Gesetzes) Verwendung fi ndet
Russischen entstanden, die als Surshik bezeichnet in Territorien, in denen die Russen die Bevölkerungs-
werden, des weiteren bestehen erhebliche dialektische mehrheit bilden.
Unterschiede innerhalb des Ukrainischen zwischen Seit 1994 haben einige Gebiete (Donezk, Luhansk)
den verschiedenen Landesteilen. Vor allem aber gibt und Großstädte des Ostens und Südens (u.a. Odesa,
es eine große Zahl von Menschen, die sich weder Mykolajiw) das Russische faktisch als „offi zielle Sprache“
ethnisch noch hinsichtlich des Sprachgebrauchs ein- oder „zweite Staatssprache“ eingeführt, obgleich dies
deutig dem Ukrainischen oder Russischen zuordnen dem Sprachengesetz widerspricht. In der Autonomen
lassen oder zugeordnet werden wollen. Republik Krim galten bis zur neuen Krimverfassung
Einen Eindruck davon vermitteln die Antworten 1998 das Russische, Ukrainische und Krimtatarische als
auf die Frage: „Welche Sprache sprechen Sie normaler- Staatssprachen. Der amtliche Schriftverkehr innerhalb
weise zu Hause?“ (siehe auch Grafi k 3 auf Seite 12). der Regionen erfolgt in der Zentral- und Westukraine
29% der in der ganzen Ukraine repräsentativ Befragten sowie mit Kiew als Landeshauptstadt auf Ukrainisch,
gaben 1994 an, Ukrainisch und Russisch neben- im Osten und Süden des Landes auf Russisch. Beamte
einander zu gebrauchen. Dieser Anteil fi el auf 22% sind laut Sprachengesetz verpfl ichtet, beide Sprachen
im Jahr 2005. Im Jahr nach der Orangen Revolution zu kennen. Diese Vorschrift ist jedoch wie die meisten
sagten 42% der Menschen, das Ukrainische sei ge- anderen Sprachenbestimmungen nicht mit Kontrollen
wöhnlich ihre Umgangssprache zu Hause, für 36% und Sanktionen bewehrt. Die Nichteinhaltung der
war es das Russische. Interessanterweise ist in beiden Sprachenvorschriften wird nicht mit Strafen bedroht.
Fällen dieser Anteil im zurückliegenden Jahrzehnt zu Damit sind dem Staat bei der Ukrainisierung enge Grenzen
Lasten des gleichzeitigen Sprachgebrauchs gestiegen. gesetzt. Hierin unterscheidet sich die Sprachenpolitik
Ein Vergleich mit den Angaben zur Muttersprache in der Ukraine deutlich von der postkommunistischen
(siehe Grafi k 4 auf Seite 13) legt nahe, dass die Sprachenpolitik in Estland oder Lettland, aber auch
Russophonen stärker an ihrer Sprache festhalten als von der Ukrainisierung in den 1920er Jahren, als die
die Ukrainophonen. Denn der Anteil der russischen Sowjetorgane auch mit rigorosen Disziplinarmaßnahmen
Muttersprachler entspricht weitgehend dem Anteil das Russische in der Ukraine zurückdrängten.
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Das Russische ist also im öff entlichen Raum prä- weisen. Überall ist der Prozentanteil der Kinder, die
sent und hat im Osten und Süden eine beherrschende ukrainische Kindergärten und Schulen besuchen, im
Stellung. Insoweit kann von einer Diskriminierung vergangenen Jahrzehnt zum Teil drastisch gestiegen.
der russischen Sprache, wie vielfach von russischer Dies ist eine Investition in und für die Zukunft. Sollte
Seite in der Ukraine und in Russland behauptet und das neue Gewicht der ukrainischen Sprache auf dem
beklagt wird, keine Rede sein. Andererseits haben sich jetzigen Niveau für einige Jahrzehnte erhalten bleiben,
seit sowjetischer Zeit tief greifende Veränderungen würde das Ukrainische wohl die beherrschende Spra-
vollzogen: Ansehen und Verbreitung der ukrainischen che im Land werden, ohne dass das Russische deshalb
Sprache haben deutlich zugenommen und nehmen aus dem öff entlichen Raum verschwindet. Der Pro-
weiter zu. Während in sowjetischer Zeit eine Karriere zentanteil der Kinder in allgemein bildenden Schulen
und sozialer Aufstieg ohne gute Russischkenntnisse mit ukrainischer Unterrichtssprache entsprach 2005
ausgeschlossen waren, gilt jetzt das Umgekehrte. mit 78% ziemlich genau dem Anteil der Ukrainer an
Ohne die Beherrschung der ukrainischen Sprache der Gesamtbevölkerung.
kann man – abgesehen von einigen Gebieten im Allerdings zeigt ein Blick in die Regionen, dass
Osten und auf der Krim – keine Karriere mehr ma- wie meist die Verhältnisse höchst unterschiedlich
chen. Während in sowjetischer Zeit das Erfordernis sind. In vielen Regionen des Ostens und Südens ist
der Bilingualität (Muttersprache und Russisch) für das Russische als Unterrichtssprache in den Schulen
die Ukrainer galt, besteht diese Forderung also heute nach wie vor stärker präsent als es dem Anteil der
für die ethnischen Russen und russophonen Ukrainer. ethnischen Russen entspricht, in der Zentralukraine
Diese Umkehr des Erfordernisses der Bilingualität, und im Westen sind die Verhältnisse umgekehrt. Auf
das jetzt an die Russen statt wie früher an die Ukrainer der Krim besuchen nur 5% der Schüler ukrainische
gestellt wird, erscheint einem Teil der Betroff enen als Schulen, obwohl der Anteil der Ukrainer an der
Diskriminierung. Bevölkerung fast fünfmal so groß ist. Für das Gebiet
Die Sprache ist wie stets ein wesentlicher Marker Donezk lauten die entsprechenden Zahlen 29% und
der nationalen Identität. Deshalb kann der neue 38%. Umgekehrt, im Gebiet und in der Stadt Kiew
ukrainische Staat nicht auf Sprachenpolitik und die mit 6% bzw. 13% Russen besuchen nur 1% bzw. 4%
Förderung der ukrainischen Sprache verzichten. Die der Schüler russischsprachige Schulen. So wirkt das
Sprachenpolitik war insgesamt ausgesprochen ge- allgemein bildenden Schulwesen in manchen Teilen
mäßigt. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass so- des Ostens und Südens nach wie vor russifi zierend,
wohl die Lobbyisten des Russischen als auch die einer im Zentrum und im Westen dagegen ukrainisie-
rascheren Ukrainisierung heftige Kritik an ihr üben. rend. In manchen Gebieten zwischen dem Zentrum
Muss man ukrainisch sprechen, um ein ukrainischer und dem Osten entspricht die Zahl der Schüler in
Patriot zu sein? Keineswegs. Auch viele russisch spre- ukrainischen und russischen Schulen in etwa dem
chende Ukrainer und ethnische Russen identifi zieren jeweiligen Anteil an der Bevölkerung, so in den
sich zunehmend mit dem neuen Staat und sehen sich Gebieten Mykolajiw, Charkiw und Dnipropetrowsk.
als dessen Bürger. Es gibt in der Ukraine keinen pro- Während das Ukrainische in den Schulen mit rus-
russischen Separatismus, allerdings existiert im Osten sischer Unterrichtssprache Pfl ichtfach ist, gilt das
und Süden eine Sowjetnostalgie. Das hat sich wäh- umgekehrt nicht. Deshalb gibt es im Westen viele
rend der Orangen Revolution gezeigt, als autonomis- Schulen, in denen Russisch gar nicht oder auf einem
tische und potenziell separatistische Aktionen nach recht niedrigen Niveau unterrichtet wird. Grafi k 6
wenigen Tagen zusammenbrachen. Auf dem Majdan auf Seite 17 macht deutlich, dass drei Viertel der
wurde zwar überwiegend von der Rednertribüne her Menschen in der Ukraine Russischunterricht an den
ukrainisch gesprochen, aber Juschtschenko hat sich Sekundarschulen wünschen, allerdings ist der Wunsch
demonstrativ auch in russischer Sprache an die Menge nach Englischunterricht noch populärer.
gewandt. Auseinandersetzungen und Konfl ikte um Noch stärker als im allgemein bildenden
die Sprache werden dadurch gemildert, dass eine Schulwesen hat sich die ukrainische Sprache im ver-
Gleichsetzung von Sprachgebrauch und nationaler gangenen Jahrzehnt in den Kindergärten und an den
Identifi zierung an der Wirklichkeit vorbei geht. Hochschulen durchgesetzt. 82% der Studenten studier-
ten 2005 in ukrainischer Sprache und 84% der Kinder
Die Ukrainisierung des Bildungswesens besuchten ukrainischsprachige Kindergärten, damit
Die mit Abstand größten Erfolge der Ukrainisie- liegen diese Zahlen leicht über dem Bevölkerungsanteil
rung sind im Bildungswesen zu verzeichnen, der Ukrainer. Die für das Schulwesen gemachten
wie die Tabellen 1 bis 3 auf den Seiten 14 bis 16 aus- grundsätzlichen Beobachtungen gelten auch für die
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Hochschulen: Im Osten und Süden (Krim, Donezk) Produktionen aus Hollywood machen etwa 90% der
ist der Anteil der in Russisch Studierenden größer in der Ukraine gezeigten Kinofi lme aus.
als der russische Bevölkerungsanteil; im Zentrum Auch im Radio und Fernsehen dominiert das
(Gebiet und Stadt Kiew) ist dagegen der Anteil der Russische nach wie vor. Nach einer Untersuchung
Studierenden mit ukrainischer Studiensprache größer der OSZE im Jahr 2000 wurden fast zwei Drittel
als der ukrainische Bevölkerungsanteil. In manchen der gesamten TV- und Radiosendezeit in russischer
Gebieten dazwischen (Dnipropetrowsk, Charkiw) Sprache ausgestrahlt. Dabei überwog das Ukrainische
entsprechen die Zahlen einander. in den staatlichen und das Russische in den privaten
Bei den Kindergärten ist in der Regel der Anteil Sendeanstalten.
der Kinder, die ukrainischsprachige Einrichtungen
besuchen, größer als der Anteil der Ukrainer an der Konfl ikte und Konfl iktpotenzial
Bevölkerung des Gebietes. Mit anderen Worten, Konfl ikte um Sprachen bergen stets ein erhebliches
die Vorschuleinrichtungen wirken ukrainisierend. Mobilisierungspotenzial in sich, weil im Prinzip
Ausnahmen sind die Krim und das Gebiet Luhansk. jedermann davon betroff en ist. Umso bemerkens-
In der gesamten westlichen Ukraine, aber auch in werter ist es, dass sich die Auseinandersetzungen in der
Stadt und Gebiet Kiew gibt es faktisch keine russisch- Ukraine in den vergangenen 15 Jahren insgesamt in
sprachigen Kindergärten mehr. Grenzen gehalten haben. Zu Gewalttätigkeiten ist es
nicht gekommen. Der wichtigste Grund dafür dürfte
Die Massenmedien sein, dass die Ukrainer die Distanz zwischen sich und
In deutlichem Kontrast zum Bildungswesen hat das den Russen als gering einschätzen. Das soziologische
Russische nach wie vor eine starke, teilweise beherr- Monitoring durch das Kiewer Institut für Soziologie
schende Stellung in den Massenmedien und in der zeigt für den Zeitraum 1994–2005 durchgängig die
Pop- und Massenkultur. Dafür gibt es vor allem zwei geringste Distanz der Ukrainer zu den Russen (nach
Gründe: der Bogardus Skala) im Vergleich zu zahlreichen Völ-
1. Die Einwirkungsmöglichkeiten des Staates in kern Osteuropas und der Welt. Das entschärft den
diesen Bereichen sind begrenzt, weil vielfach privates Sprachenstreit, der off enbar als ein Streit zwischen zwei
Kapital nach Marktgesichtspunkten entscheidet. Weil Sprachen wahrgenommen wird, die im Prinzip beide
russische Bücher, Zeitungen und Fernsehprogramme ein autochthones Lebensrecht im Land haben.
auch von Ukrainophonen gelesen und gesehen werden, Der überwiegende Teil der Menschen steht der
ist der Markt dafür größer als für Produkte in ukrai- Sprachenfrage leidenschaftslos gegenüber. Viele
nischer Sprache, die von Russophonen eher zögernd Zweisprachige, die ja die Bevölkerungsmehrheit bil-
angenommen werden. den, sehen gar keinen Sprachenkonfl ikt oder spielen
2. Sowohl gedruckte wie auch elektronische ihn herunter. Zur Gelassenheit trägt wohl auch die
Produkte werden preisgünstig aus Russland eingeführt. Überzeugung der Ukrainophonen bei, dass die Zeit
Das gilt insbesondere für den Buch- und Filmmarkt für die ukrainische Sprache arbeitet. Eben diese
und hier vor allem für Unterhaltungsliteratur, von der Einschätzung führt auf der andern Seite immer wie-
Millionen Exemplare auf dem ukrainischen Markt der zu gereizten Reaktionen der Russophonen, die
vertrieben werden. sich langfristig bedroht sehen. Insgesamt ist eine nicht
Übersetzungen aus Fremdsprachen ins Ukrainische überwältigende aber stabile Mehrheit für einen offi -
verursachen erheblich mehr Kosten pro Exemplar als ziellen Status der russischen Sprache, wie Grafi k 7 auf
ins Russische, weil der russischsprachige Markt eben Seite 17 zeigt.
viel größer ist. Die ca. 800 privaten Verlage in der Zwar war die Sprachenfrage in den vergangenen
Ukraine publizieren überwiegend russischsprachige 15 Jahren kein Dauerthema in den innenpoliti-
Produkte. Auch bei Zeitschriften und Zeitungen schen Auseinandersetzungen, aber in Krisenzeiten
hat das Russische eine führende Position. Nur 23% haben die politischen Eliten das Th ema genutzt,
der verkauften Zeitschriftenexemplare und 27% der um ihre Anhänger zu mobilisieren. Das geschah
verkauften Zeitungen erschienen im Jahr 2000 in 1994, als die Streiks schließlich zu vorgezogenen
ukrainischer Sprache. Zwar stieg die Zahl der ukrai- Präsidentschaftswahlen führten, und 2004–2006
nischen Zeitungstitel seit 1990, aber zugleich sank ihr während der Orangen Revolution und der nach-
Aufl agenanteil im Vergleich zu den russischsprachigen folgenden anti-orangen Reaktion. Mobilisierung und
Zeitungen. Auch der weit überwiegende Teil der aus- Instrumentalisierung der Sprachenfrage gingen von
ländischen Filme, die in ukrainischen Kinos gezeigt den anti-orangen russophonen Kräften im Osten
werden, läuft in russischer Synchronisation. Die und Süden des Landes aus. Während des Präsident
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