Table Of ContentChristiane Schmerl · Stefanie Soine
Marlene Stein-Hilbers et al.
Sexuelle Szenen
Inszenierungen von Geschlecht und
Sexualität in modernen Gesellschaften
Sexuelle Szenen
Christiane Schmerl
Stefanie Soine
Marlene Stein-Hilbers
Birgitta Wrede (Hrsg.)
Sexuelle Szenen
Inszenierungen von Geschlecht und
Sexualität in modernen Gesellschaften
Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2000
Gedruckt auf säurefreiem und alterungs beständigem Papier.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
ISBN 978-3-8100-2893-8 ISBN 978-3-663-11357-7 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-663-11357-7
© 2000 Springer Fachmedien Wiesbaden
Ursprünglich erschienen bei Leske + Budrich, Opladen 2000
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Vorwort
Der vorliegende Band geht in seiner Entstehung auf zwei Veranstaltungen
des Interdisziplinären Frauenforschungs-Zentrums (IFF) zurück, die unter
den Titeln "Sexualität, Identität und Begehren im Kontext kultureller Zwei
geschlechtlichkeit" und "Von der Perversion zum Lebensstil: zum kulturellen
Wandel von Sexualität" als Ringvorlesungen an der Universität Bielefeld im
Sommersemester 1998 und 1999 durchgeführt wurden.
Die Konzeption dieser Veranstaltungen wie auch die Idee zu diesem Buch
über den aktuellen Stand der interdisziplinären Debatte über menschliche
Sexualität, das feministische und sexualwissenschaftliche Perspektiven zu
sammenführt, ging maßgeblich auf unsere Kollegin Marlene Stein-Hilbers
zurück. Sie hat die gemeinsame Planungsphase und die ersten Realisierungs
Schritte noch bis zum Juni 1999 mitgetragen. In der Zeit ihrer schweren
Krankheit und nach ihrem tragischen Tod haben wir das gemeinsame Projekt
weiter geführt ~ zuerst in der Hoffnung, daß sie das Erscheinen unseres ge
meinsamen Produkts noch erleben kann, danach vor allem in dem Bestreben,
es in ihrem Sinne so perfekt wie möglich abzuschließen.
Unser Startpunkt für dieses Buch war die Verwunderung, daß die feministi
sche Geschlechterdebatte ~ angestoßen in den 70er Jahren des abgelaufenen
Jahrhunderts durch Wissenschaftskritik und geschlechtsspezifische Sozialisa
tionsforschung, weitergeführt in den 80ern durch eine wahrhafte Explosion
an Empirie- und Theoriebildung in den feministischen Humanwissenschaf
ten, in den 90ern irritiert und reflektiert durch den Vorwurf der ,Reifizie
rung' eben dieser Geschlechterverhältnisse ~, daß sich diese Debatte um das
sexuelle Geschlechterverhältnis und seine gesellschaftlichen Konsequenzen
kaum gekümmert hatte. Mit Ausnahme von Vergewaltigung, Mißbrauch und
Pornographie waren die Implikationen der sogenannten ,normalen' Sexuali
tät in ihrer Bedeutung für das gesellschaftliche Verhältnis der Geschlechter
zueinander kaum thematisiert worden. Für eine solche Fragestellung lagen
aber im angloamerikanischen Bereich schon seit Anfang der 70er Jahre (!) ~
also bereits vor Foucault ~ wichtige analytische Werkzeuge bereit: die Er
kenntnisse über die Kulturabhängigkeit wie auch über die Kulturbedürftigkeit
der menschlichen Sexualität, die das zuvor gefeierte ,revolutionäre' Trieb
modell einer zu entdeckenden und zu befreienden ,eigentlichen' Sexualität
ad absurdum führte.
Wir haben uns also gewundert, daß die Sexualitätsdebatten innerhalb des
feministischen Spektrums davon bisher so wenig fruchtbaren Gebrauch ge
macht hatten und wollten die bisherige Diskussion um dieses wichtige Spek
trum erweitern.
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Wir hoffen, daß uns dies mit dem vorliegenden Band einen kleinen
Schritt weit gelungen ist und sind sicher, daß wir dies in voller Übereinstim
mung mit den Absichten und Wünschen von Marlene Stein-Hilbers realisie
ren konnten.
Im Namen aller Herausgeberinnen
Christiane Schmerl
Inhalt
Marlene Stein-Hilbers, Stefanie Soine & Birgitta Wrede
Einleitung: Sexualität und Geschlecht im Kontext
kultureller Zweigeschlechtlichkeit 9
I Annäherungen an Sexualität: Vom 19. zum 21. Jahrhundert
Birgitta Wrede
Was ist Sexualität?
Sexualität als Natur, als Kultur und als Diskursprodukt 25
Pat Caplan
Kulturen konstruieren Sexualitäten 44
William Simon & lohn H. Gagnon
Wie funktionieren sexuelle Skripte? 70
II Die wissenschaftliche Expansion des männlichen Triebmodells
Margaretlackson
Sexual wissenschaften und die Universalisierung männlicher Sexualität.
Von Ellis über Kinsey zu Masters & Johnson 99
Barbara Renchkovsky Ashley & David Ashley
Sexualität als Gewalt.
Der pornographische Körper als Waffe gegen Intimität 116
Christiane Schmerl
Phallus in Wonderland.
Bemerkungen über die kulturelle Konstruktion ,Sex = Natur' 139
III Sexualität, Identität und Macht
leffrey Weeks
Fragen der Identität 163
Cornelia Ott
Zum Verhältnis von Geschlecht und Sexualität unter
machttheoretischen Gesichtspunkten 183
Stefanie Soine
Was hat "lesbische Identität" mit Frausein und Sexualität zu tun? 194
IV Sexuelle Lebensstile in der Postmoderne
Volkmar Sigusch
Vom König Sex zum Selfsex.
Über gegenwärtige Transformationen der kulturellen
Geschlechts- und Sexual formen 229
Frank Früchtel & Christian Stahl
Zwei plus X - postmoderne Partnerschaftsmodelle? 250
Gunter Schmidt
Spätmoderne Sexualverhältnisse 268
Quellen 280
Die Autorinnen und Autoren 281
Einleitung: Sexualität, Identität und Begehren
im Kontext kultureller Zweigeschlechtlichkeit'
Marlene Stein-Hilbers, Stefanie Soine & Birgitta Wrede
Wir gehen in unserem Alltagsbewußtsein nahezu selbstverständlich davon
aus, daß Menschen sexuell handeln und erleben können. Wir nehmen an,
diese Fähigkeit sei ihnen quasi, von Natur aus' mitgegeben. Daran knüpft
sich die Vorstellung, Sexualität diene der Fortpflanzung und sei ein zur
natürlichen Ausstattung von Menschen gehörendes Grundbedürfnis.
Zwar gehört Fortpflanzung universell zu menschlichen Gemeinschaften.
Empirisch betrachtet läßt sich jedoch eine breite Palette verschiedenster se
xueller Ausdrucksformen, Orientierungen und Körperbesetzungen beobach
ten. Das sexuelle Verhalten und Erleben ist in höchst unterschiedlicher Weise
in das soziale Leben eingebunden und erfüllt vielerlei Funktionen. In der
individuellen Lebensgeschichte ist die generative Funktion von Sexualität
heute eher marginal gegenüber ihrer psychischen, sozialen und emotionalen
Bedeutung.
Sexuell sein zu können, ist Menschen auch durchaus nicht qua Biologie
mitgegeben, sondern muß individuell und interaktiv entwickelt werden. Wir
entwickeln uns in lebenslangen Prozessen zu sexuell empfindenden und
handelnden Personen. Diese Prozesse sind aufs engste mit sozialen Vorgän
gen verbunden, durch die in bestehenden Gesellschaften Menschen zu Män
nern oder Frauen werden und aktiv an den sozialen Praktiken teilhaben, in
denen sich Gesellschaften selbst produzieren und verändern (Bilden 1991).
Diese Praktiken unterliegen einer spezifischen Geschichtsgebundenheit und
entfalten ihre Bedeutung in kulturell variablen Kontexten. Sie beziehen sich
auf ein gesellschaftlich gesteuertes und reguliertes System von Erlebens- und
Verhaltensweisen, die ein soziales Konstrukt umschreiben, das wir, Sexuali
tät' nennen. Dieses Konstrukt und damit unsere Vorstellungen über Sexuali
tät sowie unser sexuelles Erleben unterliegen einem beständigen historischen
und kulturellen Wandel.
1. Sexualität als soziales Konstrukt
Wohl gibt es eine biologische Fundierung von Sexualität, und alle Erfahrun
gen von Sexualität bedürfen eines biologischen Substrats: eines Systems
anatomischer, neuronaler, hormoneller und physiologischer Bedingungen,
um Sexualität überhaupt erleben und sexuell handeln zu können.
* Dieser Text ist die überarbeitete und ergänzte Fassung des Beitrags, den Marlene Stein
Hilbers als Einleitung vorbereitet hatte.
10 Marlene Stein-Hilbers, Ste(anie Soine & Birgitta Wrede
Aber körperliche (und psychische) Zustände und Prozesse können nicht
,an sich' und ,für sich', gleichsam naturwüchsig erfahren werden (Duden
1987; Honegger 1991; Laqueur 1992). Den Körper wahrnehmen, bezeichnen
und Körpererfahrungen mitteilen: all dies können wir nur innerhalb symboli
scher Ordnungen, vor allem durch Sprache. Dieser soziokulturelle Sinnhori
zont wiederum ist diskursiv erzeugt; dies impliziert, daß auch unsere Körper
empfindungen und -erlebnisse durch kulturell kontingente Wissenssysteme
strukturiert werden. Das Wissen über den Körper ist ebenso wie ein subjektiv
empfundener Körperzustand eingebunden in ein zeitgeschichtliches Körper
wissen und steht damit in einem verleiblichten kulturell spezifischen Zu
sammenhang (Lindemann 1993). Innerhalb verschiedener Epochen, Regio
nen, Sozialstrukturen, Altersgruppen etc. kann sich dieses Körperwissen in
sehr unterschiedlicher Weise ausdifferenzieren.
In. besonders starkem Maße kann dies für alle Handlungen, Verhaltens
weisen, Motivationen und Gefühle ausgesagt werden, die wir heute als ,se
xuell' beschreiben. Eine Handlung - Z.B. ein Kuß auf den Mund - ist nicht
per se als sexuell oder erotisch einzustufen, sondern hat in verschiedenen
sozialen Umfeldern und Situationen eine divergierende Bedeutung. Um eine
Geste expressiv im Kontext einer sexuellen Interaktion zu verwenden, müs
sen die Subjekte die Relevanz dieser Handlung erlernt haben und auch bei
anderen als konsensfähig voraussetzen. Sexuelle Körperempfindungen - z.B.
eine genital lustvolle körperliche Erregung - kann durch kulturell sehr unter
schiedliche Praktiken und Phantasien hervorgerufen werden. Selbst ein rela
tiv offensichtliches sexuelles Phänomen, wie beispielsweise ein Orgasmus
und der mit ihm erfahrene Genuß, wird in dem Kontext interpretiert, aus dem
die spezifische Handlung erwächst und durch die persönliche Bedeutung
determiniert, die ihr beigemessen wird (Sirnon 1990).
Sexuelle Erfahrungen, Betätigungen und Präferenzen unterliegen somit
in höchstem Maße kulturellen Einflüssen. Intra- und interkulturell ist ein
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großes und variables Spektrum von als sexuell definierten Verhaltensweisen
und -normen zu beobachten. Alle Gesellschaften kreieren, verbreiten und
bestätigen kulturelle Szenarien, die paradigmatisch verdeutlichen, in welcher
Weise Sexualität erlebt und realisiert werden sollte (vgl. Simon & Gagnon in
diesem Band). Sie müssen als interpersonelle Skripts eingekörpert und dem
entsprechend expressiv verwandt werden, um einen sexuellen Austausch zu
ermöglichen. Intrapsychisch werden sexuelle Motivation, sexuelle Erregung
und das sexuelle Erleben in entsprechender Weise organisiert; auch die Her
ausbildung sexueller Identitäten unterliegt somit sozialen Praktiken. Die Art
und Weise, in der wir zu sexuell handelnden und uns selbst als sexuell emp
findende Individuen werden, ist durch hegemoniale Konzeptionen von Se
xualität bestimmt, innerhalb derer wir unsere sexuelle Identität entwickeln.
Menschen erleben und beschreiben sich im Kontext der gesellschaftlich vor
herrschenden Bedeutungen von Sexualität und gestalten damit zugleich Se
xualität. In diesem Sinne stellt Sexualität ein Konstrukt dar, das individuell