Table Of ContentPOETIK DER NOVELLE
HANNELORE SCHLAFFER
POETIK DER NOVELLE
Verlag J. B. Metzler
Stuttgart . Weimar
Die Deutsme Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Sdllaffer, Hannelore:
Poetik der Novelle / Hannelore Sdllaffer. - Stuttgart ; Weimar:
Metzler, 1993
ISBN 978-3-476-00957-9
ISBN 978-3-476-00957-9
ISBN 978-3-476-03505-9 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-03505-9
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© 1993 Springer-Verlag GmbH Deutschland
Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzlersme Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 1993
~
EIN VERLAG DER. SPEKTRUM FACHVERLAGE GMBH
INHALT
Teil I: Die Form und ihre Tradition
Die Niederste der Gattungen - istilo umilissimo 3
Eine Gattung ohne Poetik 3 . Die Vorbilder: Boccaccio und
Cervantes 6 . Implizite Theorie 8 . Die anti-aristotelische Gattung 9·
Parodie des Horaz: Der lasterhafte Leser 11 . Parodie und
Provokation 13 . Der Untergang der Rahmengesellschaft 16
Boccaccio: Die Elemente der Newelle 21
Der Grundriß: Apokalypse und Blasphemie 21 . Die Hand
lungsstruktur: Vergehen und List 25 . Das unerhörte Ereignis: Das
sexuelle Faktum 26 . Parodie der hohen Liebe 28 . Weibliche
Regie 29 . Punktualisierung der Handlung: Das Haus 32 . Novellen
mathematik: ungerade Zahl, serielle Opposition, Sequenz,
Argumentum 36
Boccaccios Nachleben 41
Serielle Opposition 42 . Exkurs: Der Liebhaber als Ehemann 46 .
Sequenz und Argumentum 53
Margarete von Navarra: Das novellistische Ereignis als gesellschaftlicher
Skandal 63
Weibliches Regiment: Sich-Versagen 64 Erweiterung des
Spielplatzes: Der gesellschaftliche Raum 65 . Erzählung und
Rahmen: Skandal und Kasus 68 . Verdrängungen 72 . Entstehung
des Charakters 74
V
Inhalt
Novellenliebe im 19.}ahrhundert 79
Unbegrenzte Stoffwahl 79 . Taktiken der Verdrängung: Verklärung
oder Provokation 82 . Dämonisierung 86 . Die aparte Situation 93 .
Substitute der Weiblichkeit 97
Die zweite Lesart 105
Das Symbol 107 . Die Einmaligkeit des Symbols. Das Signal 110 .
Der Falke 112 . Der hohe Stil 114 . Novelle und Roman 116
Brutalismus 123
Textbeispiele 123 . Der zerstückelte Körper 131 . Die Entstehung des
Brutalismus in Frankreich 133 . Novellensadismus 135 . Die
Rückkehr zur Legende 137 . Exkurs: Masochismus und
Ehebruchsroman 139 . Der Tod als Laster 144
Der Franziskaner 151
Antikatholizismus 151 . Exemplum und Novelle 155 . Die pagane
Gattung 158 . Protest gegen die Novelle: Katholizismus und
Weiblichkeit 160
Das 10. Bum des Decameron 165
Der Kontrapost 165 . Die Novelle der Hochherzigkeit 169 . Die
Novelle der Freundschaft 174 Struktur, Motiv und
Bedeutungswandel 179 . Der dubiose Charakter 181
Die Novelle der Homherzigkeit im 19.}ahrhundert 185
Der Verbrecher aus verlorener Ehre 185 . Parteilichkeit 189
Archaismus 192 . Die Reisenovelle 196
VI
Inhalt
Teil 11: Die Auflösung der Form in neuen Stoffen
Einleitung 203
Die Schauergeschichte 207
Der Tod als allegorischer Mitspieler 207· Exkurs: Die Mäßigung des
Schauers zum Schauder 210· Der Tod als Liebhaber 211 . Substitute
des Todes 216 . Das Wetter als Mitspieler 221
Psychologie und Novelle 225
Fallbeschreibung und Novelle 225 . Exkurs: Übertragung der
Stoffe 228 . Die Novelle als Don-Quijoterie 229 . Monotonie des
Wahnsinns und spannendes Erzählen 234 . Der Schauplatz der
Seele 237
Cervantes: Die heliodorische und die komödiantische Novelle 241
Die heliodorische Novelle 241 . Spott über Boccaccio 244 . Kulisse
und Figur 247 . Die komödiantische Novelle 249
Die physiologische Novelle 253
Die soziale Fallbeschreibung 253 . Die Wiederkehr des dubiosen
Charakters 255 . Spurenlesen und Indizienbeweis 259 . Der Kauz
und der Untergang der Novelle 261
Anti-Novelle 267
Umständlichkeit 267 . Domestikation 270 . Aussparung des
novellistischen Ereignisses 273 . Purgatorium 274 . Legende und
gemischte Form 277
Anmerkungen 283
Verzeichnis der Quellen 317
Register 320
VII
TEIL I
DIE FORM UND IHRE TRADITION
DIE NIEDERSTE DER GATTUNGEN -ISTILO UMILISSIMO
Eine Gattung ohne Poetik
Für die Freunde Heinrich von Kleists war es vor allem dererfolgrei
che Novellenautor, der sich 1811 am Wannsee erschoß. Über die
Ursache seines Todes mutmaßt Brentano in einem Brief an Achim
von Armin: »Überhaupt werden seine Arbeiten oft über die Maßen
geehrt, seine Erzählungen verschlungen. Aber das war ihm nicht
genug; ja Pillel sagte mir, daß sich vom Drama zur Erzählung her
ablassen zu müssen, ihn grenzenlos gedemütigt hat.« [1] Gerade der
Erfolg, den seine Erzählugen beim Publikum hatten, sei für Kleist ein
Mißerfolg gewesen. In der Art und Weise, wie das Publikum das
Werk aufnahm, sieht Brentano den Grund für Kleists unerwartete
Reaktion. Erzählungen, die das Publikum »verschlang«, konnten
nichts anderes sein, als betäubender Zeitvertreib. Für Kleist war, so
schließt Brentano, das Vergnügen seines Publikums der Beweis
dafür, daß er in einer minderwertigen Gattung reüssiert hatte.
Tatsächlich war auch noch um 1800, als, nicht zuletzt durch Kleists
Werk selbst, ein neuer Höhepunkt in der Geschichte der Gattung
erreicht wurde, die Novelle für Autoren und Leser eine belanglose
Unterhaltung am Rande des täglichen Ernstes, die nicht mit den
hohen literarischen genera zu vergleichen war. Brentano konnte in
A. W. Schlegels »Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst« seine
Meinung über die Ursache von Kleists Tod bestätigt finden: »Die
Novelle, als ein poetisches Gegenbild [zur politischen Historie], ist
vielmehr der Erhohlung gewidmet, die Unterhaltung muß in der
Erscheinung oben auf seyn.« [2] Tieck generalisiert die Erfahrung,
die Brentano beschreibt, und überträgt sie auf alle Novellenautoren.
"Wir brauchen jetzt das Wort Novelle für alle, besonders kleineren
3
Die Niederste der Gattungen
Erzählungen; manche Schriftsteller scheinen sogar in diese Benen
nung eine Entschuldigung legen zu wollen, wenn ihnen selbst die
Geschichte, die sie vortragen wollen, nicht bedeutend genug er
scheint.« [3] Noch für Gottfried Keller ist sie eine Gattung, die so
nichtswürdig ist, daß jeder Halbpoet sich darin üben könne: »Mich
beschleicht,« schreibt er an Paul Heyse, »das Gefühl, daß die Novel
liererei zu einer allgemeinen Nivelliererei geworden sei, einer Sint
flut, in der herumzuplätschem kein Vergnügen und bald auch keine
Ehre mehr sei.« [4]
Nun aber ist, und das begriffen die Autoren besser als die Theore
tiker, die Minderwertigkeit kein Defizit der Gattung - sie ist ihr
erstes Stilmerkmal. Der Autor läßt sich bewußt auf sie ein und
vermeidet Ernsthaftigkeit und Belehrung in seinem Werk. »Die Be
lehrung [muß]«, so argumentiert A. W. Schlegel, »sich nur von selbst
einstellen.« [5] Kleist wollte zunächst die Sammlung seiner Novellen
»Moralische Erzählungen« nennen. Mit diesem Titel stellt er sich
zwar in die Tradition der »Contes Moraux« des Marmontel. Gleich
wohl scheint er den Titel nicht nur im Sinne der französischen Auf
klärung benutzt zu haben, um damit Sittengemälde für eine müßige
Leserschaft anzukündigen. Seine Orientierung am Drama legt viel
mehr die Lesart nahe, die etwa durch die Schriften Schillers vorgege
ben war: der »moralischen Anstalt«, zu der das Theater sich neuer
dings erhoben hatte, sollte nun auch eine »moralische Lektüre« im
privaten Raum hinzu gewonnen werden. Ein gedankenloser Genuß
seiner Werke konnte daher in der Tat Kleist ebenso wie der Mißer
folg seiner Dramen darin bestätigen, daß seine Absicht, sich an der
Bildung der Nation zu beteiligen, gescheitert sei.
Mit der Hochschätzung des Dramas bewegt sich Kleist ganz in der
Tradition der genera dicendi. Tragödie und Epos zählten zu den
hohen Gattungen. Die Tragödie vor allem war durch die Tradition
geheiligt und durch die Begründung der Nationaltheater aufs Neue
belebt worden. Kleist mußte also, wie es Brentano vermutete, sein
Scheitern als Dramatiker für das Scheitern als Dichter überhaupt
nehmen. Mit dem Drama hätte er sich einer Ahnenreihe großer
Namen einfügen können, die bis in die Antike hinab reicht. Die Ge
schichte der Novelle hingegen wäre überhaupt erst noch zu schreiben
gewesen. Große Namen kamen in ihr kaum vor. Auch hatte die
Gattung keine antike Legitimation. Boccaccio galt als ihr Begründer,
doch waren seine Person und sein Werk, auch wenn seine Nachfolge
4