Table Of ContentANDRE CHERON
Lehr-
und Handbuch
der Endspiele
Band I
Turm-Endspiele
632 Diagramme
BERLIN-FROHNAU
All Right. Re.erved
Alle Rechte vor.behalten, insbesondere der Obersetzung und übertragung. Nachdruck, auch
auszugsweise, sowie Fotomechanische Wiedergobe r>Ur mit Genehmigung des Verlages.
Druck: Werner Hildebrand, OHG, Berlin N 65
Obersetzung, Berthold Schwarz, Berl;n
Pllnted In Germany Januar 1971
Copyright 1952 by Andre Cheron
Die Verl.agsrechte der deutschsprachigen Ausgabe liegen beim
Siegfried Engelhardt Verlag
Berlin·Frohnou
Zweite verbesserte Auflage 1960
Inholfsverzeiehnis siehe Seite 353
Vorwort des Verfassers
zur zweiten Auflage des ersten Bandes
Der Verfasser hat die vorliegende zweite Auflage des I. Bandesdurch
gesehen, berichtigt und vervollständigt und damit die erste Auflage 1955
in folgenden Punkten verbessert:
1. Die Nummern 118, 375, 392 (die hier die Nr. 392a trägt), 516, 534
sind berichtigt und die Nummern 459 und 482 ersetzt worden; den Grund
dafür habe ich bereits in Band III (Nachträge) angegeben.
2. Ferner sind eine Anmerkung zu NT. 201 (Seite 125, rechts: aucll
2. Kc3 gewinnt) und die NT. 202 berichtigt worden. Außerdem wurden
ersetzt:
Nr.29 von Liburkin (nebenlösig: auch 7. Kc5 gewinnt).
NT. 275M, N, 0, P durch meine neue Nr. 275 M.
Nr.285 von Troitzky. Nebenlösig. Nach 1. Kc4 Ka5 gewinnt auch
2 Tb3 Tel 3. Tg3 Te1t (3..,. e3 4. Kd3) 4. Kd4 Te8 5. KXe4.
Nr.318 von Regedzinsky (unlösbar: auf 5. Kf8 hält Te3 remis).
Nr.387 von Grigorieff (nebenlösig: auch 1. Tg4 gewinnt, 1.... KdG
2. g6 Tf8 3. Tg5 Ke7 4. Ke2 Kf6 5. Tg1 Ke5 6. g7 Tg8 7. Kf3 KXd5
8. Tg6!).
Nr.446 von Rinek (unlösbar: auf 1. a7 hält Th8t remis).
Nr.538 (nebenlösig: auch 5. T17 gewinnt La5 oder Lg3 6. Ke6).·
Dieneue Nr. 256 ersetzt die Anmerkung B, Seite 164 (linke Spalte).
Das Endspiel Tu.r1119.~9.en_clreiverbundene!'3~ll~.r.I1_ist von Nr. 124
bis Nr. 136 fast ganz umgearbeitet worden.
3. Die folgenden Nummern - obgleich korrekt - s.ind hier dureIl
anschaulichere und lehrreichere Studien ersetzt worden: 121, 146, 147.
182,204(ersetzt durch me'ine alte Nr. 203, diese durch meineneueNr. 20:5
ersetzt), 250, 336, 344 (ersetzt durch meine Nr. 341, diese durch eine neue
Nr. 341 von Kasparyan ersetzt), 363, 368, 371, 372, 384,393, 394, 468.
Die Seite 140 ist umgearbeitet worden.
Die Nummern 183, 196, 255, 346, 352, 369, 374, 376 habe ich vervoll
ständigt, dann die neue Nr. 392 und die Anmerkung F (Seite 102) und G
(Seite 112) hinzugefügt.
4. Hier verschwindet das "Register der Endspieltypen", und hier und
da sind einige geringfügige Anderungen gemacht worden (zum Beispiel
in meinem Vorwort 1955, usw.).
Im Band III (Nachträge) vervollständigen 69 neue Turmendspiele den
Band I.
Leysin (Schweiz), im August 1960.
Andre Cheron
3
Zur zweiten Auflage
Im Vorwort zum dritten Band des Endspielwerkes von Cheron wurde darauf
hingewiesen, daß die Bedeutung seiner Arbeit einmal in der überwältigenden
Fülle des gebotenen Materials liegt und darüber hinaus in den entwickelten
Theoremen und Regeln, die man nirgendwo anders findet. Außerdem sind
wissenschaftliche Gründlichkeit und pädagogisches Geschick ein hervorstechen
der Zug des Autors. Der beste Beweis hierfür ist, daß fünf Jahre nach Erscheinen
des ersten Bandes die Herausgabe einer zweiten Auflage erforderlich wird.
Die FIDE-Kommission für Schachkomposition hat im September 1959 auf ihrem
Kongreß in Wiesbaden die hervorragenden Verdienste Cherons gewürdigt,
und ihm den Titel "Internationaler Meister für Schachkomposition" verliehen.
Damit wurde ein Lebenswerk gekrönt, daß, wie der Schachrezensent einer be
deutenden Tageszeitung einmal schrieb, "noch für Generationen von Schach
spielern nach uns eine maßgebende Erkenntnisquelle sein wird". Wir sind über
zeugt, daß die vorliegende zweite Auflage ein gleiches Echo in der Schachwelt
findet, wie es den übrigen Werken Cherons zuteil geworden ist.
Berlin-Frohnau, im September 1960 Herbert Engelhardt
Vorwort des Herausgebers zur ersten Auflage
"Nüchtern bleiben, immer mißtrauen ist der Nerv
der Wissenschaft". Epicharmos
Seit Jahrzehnten fehlt im deutschen Sprachraum ein Endspielwerk, das
weitgehenden Ansprüchen gerecht werden kann. Durch den internationalen
Schachmeister Henry Grob, Zürich, wurde ich auf das 1952 in französischer
Sprache erschienene Werk des in der Schweiz lebenden Autors Andre Cheron:
.Nouveau Traite complet d'Echecs-La fin de partie" aufmerksam gemacht.
Dieses Buch kann in pädagogischer und instruktiver Hinsicht wohl als das
bedeutendste Endspielwerk der Gegenwart angesprochen werden.
Der Verfasser Cheron, der gleicherweise auf dem Gebiet des Partie- und
Problemschachs sachverständig ist, stellt eine für dieses Werk sich besonders
günstig auswirkende Synthese beider Richtungen dar. Er war dreimal Meister
von Frankreich, Biarritz (1926). Chamoni"'<: (1927), Saint-Claude (1929) und auch
auf internationalen Turnieren erfolgreich, so in London (1927) und Den Haag
(1928).
Er hat etwa 100 Probleme komponiert, darunter 54 strategische Miniaturen
und gilt in Frankreich als Vertreter derstrategischen Schule im Problem, in
Deutschland neudeutsche Schule genannt, deren Gründer Kohtz und Kockelkorn
sind. Aus seiner Feder gingen sechs Schachwerke hervor, darunter einige, die
seit Jahren vergriffen sind. Eine Liste dieser Bücher findet der Leser im An
hang dieses Buches auf Seite 352.Die vorliegende deutsche Ausgabe hat gegen
über dem französischen Originalwerk noch einige recht bedeutende Verbesse
rungen erfahren. So hat der Verfasser einiges Material nochmals gesichtet und
neu verwertet unter Verwendung einiger in dieser Ausgabe erstmals erschei
nenden neuen Kompositionen (67 neue Studien, zum Teil Urdrucke). Ferner sind
in der deutschen Ausgabe, im Gegensatz zum Originalwerk, alle Stellungen
in Diagrammen festgehalten, was die Anschaulichkeit des Stoffes erheblich er
leichtert. Ichhoffe, daß diese deutsche Aus-gabe eine seit langer Zeit bestehende
Lücke auf dem Gebiet der Endspiel-Literatur schließen wird.
Berlin-Frohnau, im Mai 1955 Herbert Engelhardt
4
Einleitung
Abkürzungen und Zeichen
Weiß SchwlllZ iDeulSch iabgekürztEnglISchIFrllRzös.!Spanisch Itallen.
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• I i
König i Ir KIng! Rol I Rey; Re
~ --!--~-- ·-D;;~----D Queen i Dum~1 DumaTD~a--
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-1-B~e;T I-p~;;-r~-;-I~~
B
s. bedeutet: schwarz [zum Beispiel: s.Th6 bedeutet schwarzer Turm h6)
w. bedeutet: weiß (zum Beispiel: w.Bb5 bedeutet weißer Bauer b5)
t bedeutet: Schach.
cf bedeutet: Matt (Schachmatt).
X bedeuttol: schlägt
bed·eutet: zieht beliebig (oder: anders)
? bedeutet: schlechterZug, Fehler
bedeutet: sehr guter Zug, feiner Zug
!! bedeutet: .il'us,gezeichneter Zug
(I)
eingeklamme.rte Figuren.
In gewissen Diagrammen von Lehr-Endspielen kann die Stellung eines
Steines verschieden sein, ohne daß das Ergebnis - und zuweilen auch das
Spiel - sich ändert. Um klarzustellen, daß es nur einen Stein dieser Art
auf dem Diagramm gibt, daß e.r aber auf verschiedenen Feldem stehen
kann, haben wir diesen Stein einmal ohne Klammer dargestellt und setzen
ihn auf allen anderen Feldern,aufdenenernochstehenkann, in Klammern.
Beispiele: Diagramm Nr. 192 ist so zu verstehen:
Weiß: Kd4, Te5, Bd5. - Schwarz: Kf7, Ta8 oder Ta7. Es gibt nur
einen schwarzen Turm, der auf a8 oder auf a7 stehen kann.
Nr. 193: Weiß: Kd4, Bd6, Tel oder Te2 ode.r Te3. - Schwarz: Kf7,
Ta8 oderTa7. Es gibt nur einen schwarzen Turm, der auf a8 oder a7, und
nur einen weißen Turm, der auf el, -e2 oder e3 stehen kann.
5
Worterklärungen
Linie Wir bitten den Leser unsere Ausführungen "Die Be··
zeiehnung der FeIderreihen ", Seite 7, zu
lesen.
Reihe Siehe Linie.
Rand Die Gesamtheit der acht Felder, die jeweils eine Seite des
Schachbrettes bilden: die Linien a und h sowie die erste
und achte Reihe.
Zug Ein Spieler ist "am Zuge", wenn er an der Reihe ist zu
ziehen. Er ist im"Nachzuge",wennseinGegneramZugeist.
Zugzwang Ein Spieler ist im Zugzwang, wenn sich folgende drei Be·
dingungen vereinen:
1. er ist am Zuge,
2. er würde keinen Nachteil erleiden, wenn sein Gegner
am Zuge wäre,
3. er muß dadurch, daß er am Zuge ist, einen schlechten
Zug machen, weil er keinen anderen hat.
Stein Allgemeiner Ausdruck für die Figuren und die Bauern.
Figur (oder Offizier). Allgemeiner Ausdruck für König, Dame,
Turm, Läufer und Springer, aber nicht Bauer.
SchwereFigur Dame und Turm.
LeichteFigur Läufer und Springer.
Einzelbauer Bauer, auf dessen benachbarten Senkrechten keine weiteren
derselben Farbe stehen.
Doppelbauern Bauern derselben Farbe, die auf derselben Senkrechten
stehen.
VerbundeneBauern Bauern derselben Farbe, die auf benachbarten Senkrechten
stehen.
Freibauer Bauer, der auf seinem Weg zum Umwandlungsfelde von
einern feindlichen Bauern weder blockiert noch geschlagen
werden kann.
Turmbauer Bauer auf den Linien a und h.
oderRandbauer
Springerbauer Bauer auf den Linien bund g.
Läuferbauer Bauer auf den Linien c und f.
Mittelbauer Bauer auf den Linien d und e.
Königsbauer Bauer auf der Linie e.
Damenbauer Bauer auf der Linie d.
Zerstören Französisch: demolir ~= vernichten. Ein umfassender Be
griff,für denesimDeutschennochkeinenAusdruckgibt.Ge
meint ist damit, daß einKunst- oderLehr-Endspiel,oderein
Problem unlösbar ist; oder daß ein Kunst-Endspiel (nicht
abereinLehr-Endspiel).odereinProblemnebenlösigist.Das
Kunst-Endspiel bzw. das Problem werden also durch Un
lösbarkeit oder Nebenlösbarkeit - als Kunstwerk ge
sehen - zerstört.
Der Engländer gebraucht für dieses "Aufgaben-Zertöppern"
(nach Grasemann) den Ausdruck to cook, was als Slang
("kochen") auch im Deutschen auftaucht. Es wäre eine
dankenswerte Aufgabe für die deutschen Studien- und
Problemkomponisten, sich auf einen terminus technicus
zu einigen, der ebenso umfassend ist wie das französische
.demolir".
6
Die Bezeichnung der Felderreihen
DasSchachspielkenntdreiArtenvon Diagonale für einein sehrägerRichtung
Felderreihen, je nachdem diese in verlaufende Felderfolge (zum Bei
waagerechter, senkrechter oder schrä spiel al bis h81.
ger Richtung verlaufen. Die Benen Als Sammelbezeichnung für
nung dieser drei Arten von Felder alle drei Arten von Felder
reihen geschieht im deutschen Sprach f0 Igen wird der Oberbegriff Linie
gebrauch nicht einheitlich. Die waage benutzt.Esgibtalsosenkrechte,waage
rechte Felderfolge wird zumeist kurz rechte und diagonale Linien.
als Reihe (im engeren Sinne) bezeich
Wir sind mit dem Verfasser der An
net (zum Beispiel siebenteReihe). wäh
sieht, daß diese klare Trennung der
rend Reihe imweiteren Sinne ("Felder
Begriffe dazu beitragen wird, Mißver
reihe") jede Felderfolge in beliebiger
ständnisse von vornherein auszuschlie
Richtung bedeutet. Unter Linie ver
ßen, die sonst beim Studium dieses
stehtman (imengerenSinne) durchweg
Werkes leicht eintreten könnten.
die Senkrechte (zum Beispiel f-Linie);
Welcher Art diese Mißverständnisse
im weiteren Sinne bezeichnet Linie
seinkönnen,seianzweiBeispielenauf
aber gleichfalls jede beliebige "Felder
gezeigt. Unter Dia.gramm Nr. 136 heißt
reihe". So spricht man von Linienräu
es: "Gewinn auf allen Senkrechten".
mung, worunter man keineswegs nl;lr
Hätte man das nach bisheriqem deut
die Räumung einer senkrechten LJille
schen Sprachgebrauch mit "Gewinn auf
versteht,sondernauchdieFreimachung
allen Linien" übersetzt. wäre unklar
einer Waagerechten oder Diagonalen.
geblieben, ob nicht"Gewinnsowohlauf
Um eine solche Mehrdeutigkeit zu
allen Senkrechten als auch auf allen
vermeiden,wendenwiraufWunschdes
Waagerechten" gemeint war, Erst die
Verfassers in der vorliegenden deut
präzise Bezeichnung "Gewinn aufallen
schen Ausgabe seines Werkes die im
Senkrechten" beseitigt diese Unklar
französischen Sprachgebrauch üblichen
heit.
eindeutigen Bezeichnungen in wört
Den Cheronschen Hauptgrundsatz
licher deutscher lJbersetzung an. Es
der "drei Linien" im Endspiel Turm
sind dies:
undBauergegenTurm (sieheSeite 101)
Senkrechte für eineinsenkrechterRich könnte man ohne obige Sprach
tung verlaufende Felderfolge (zum regelung leicht im engeren Sinne als
Beispiel a- Linie al bis a8). Grundsatz der "drei Senkrechten" auf
fassen, Hier istder Begriff .Linie" aber
Waagerechte (oder Reihe) für eine in in etwas eingeschränktem Sinne als
waagerechter Richtung verlaufende Senkrechte und Waagerechte (nicht
Felderfolge (zum Beispiel achte aber Diagonale) gemeint, worauf be
Reihe a8 bis h8). sonders hingewiesen sei.
Quellenangaben zu Cheron's Studien
Cheron (1923) bedeutet: zum ersten komponiert, aber zum ersten Mal v~r~
Mal veröffentlicht in Cheron: La fin öffentlicht in: Cheron: Nouveau TraIte
de partie une tour et un pion contre complet d'echecs, La fin de partie (de.r
une tour (1923). 1952 erschienenen französischen On
ginalfassung der vorliegenden deut
Cheron (1926) bedeutet: zum ersten
schen UbeJsetzung),
Mal veröffentlicht in: Cheron: Traite
Die Nummern 63, 64, 117, 168, 18ge,
complet d'echecs (Brüssel 1927).
194, 215, 217 und 218 (korrigierte Lö
Cheron (1944) ..• bis (1952) bedeu sungen). sind Urdrucke der deut
tet: im Jahr 1944 '" (bzw. bis 1952) schen Auflage 1955.
7
Vorwort des Verfassers
liber den Wert des Endspiel-Studiums
.Um sich im Schach zu vervollkommnen.
muß man vor allen Dingen Endspiele studieren."
Capablaneo
Schon 1921 schrieb Weltmeister Capablanca in seinem "Ch ess
Fun d am entals" auf Seite 108:
"Wäre ich im Endspiel schwach gewesen, würde die Partie wahr
scheinlich remis geworden sein, und meine vorhergehenden An
strengungen wären alIe vergeblich gewesen. Betrüblicherweise ist
dies bei der großen Masse der Schachspieler sehr oft der FalI,
sie sind im Endspiel schwach. Selbst erstklassige Meister bilden hier
zuweilen keine Ausnahme. Nebenbei möchte ich auf die Tatsache
hinweisen, daß die Weltmeister der letzten 60 Jahre: Morphy, Stei
nitz, Dr. Emanuel Lasker, außerordentlich stark im Endspiel waren.
So lange sie ihren Titel behaupteten, war ihnen in dieser Parliephase
keiner überlegen."
Niemand wird in Abrede stelIen, daß das Gleiche für Capablanca
gilt, und daß das Hauptgeheimnis seiner Stärke in der Korrektheit
von Urteil und Führung im Endspiel lag.
Kurze Zeit vor seinem Tode (1942) in Vorträgen über den ameri
kanischen Rundfunk kam er zum letzten Male auf diesen Rat zurück,
und es ist wie sein schachliches Testament:
"Mein Freund widmete dem Studium der Eröffnungen viel Zeit und
Energie. Sehr oft fragte er mich nach meiner Meinung über diese
oder jene Variante, und zu seiner großen Uberraschung erwiderte
ich fast immer: "Ich kenne sie nicht." Worauf er ausrief: "Aber,
kurz gesagt, wie helfen Sie Sich heraus, wenn man eine solche
Variante mit Ihnen spielt?", und ich antwortete ihm: ,,90% der Buch
varianten taugen nicht viel, denn sie sind irrig, oder sie gehen von
einer Grundlage aus, die ich für falsch halte. Lassen Sie doch die
Eröffnungen in Ruhe und widmen Sie diese ganze Zeit den End
spielen. Sie werden sehen, daß Sie auf die Dauer mehr Nutzen
davon haben."
Als das geschah war Capablanca erst 20Jahre alt. Sein ältererFreund
hielt diesen Rat für eine der liebenswerten Paradoxe der Jugend, be
folgte ihn nicht und machte auch nie Fortschritte.
Capablanca dagegen ...
Was also nützt dem Spieler, der sich nur für Parlieschach interessiert,
und dessen einziges Ziel es ist, in Turnieren zu gewinnen. das Studium
von Endspielen?
8
Es hat zwei Vorteile: einen direkten und einen indirekten.
Betrachten wir zuerst den direkten Nutzen:
Es ist eine Binsenwahrheit, daß - wenn man zu Beginn der Partie
oder im Mittelspiel einen Bauern gewinnt und man es nicht versteht,
den Mehrbauern im Endspiel zur Dame zu führen - man Gefahr läuft,
den Bauerngewinn nicht auswerten zu können.
Der Zw eck der Ends pie1th e 0 r ie ist es ja gerade,
den Spieler erst einmal zu lehren, wie er leicht, schnell und sicher
erkennen kann, ob eine Endspielstellung gewonnen oder remis ist,
und ihm dann zu zeigen, wie er dieses Ergebnis durch genaue End
spielführung erzwingen kann.
Zweifellos möchten gewisse Spieler einwenden, daß es keines vor
herigen Studiums bedürfe, um z. B. ein so einfaches Endspiel wie Turm
und Bauer gegen Turm richtig beurteilen und spielen zu können.
Ein schwerer Irrtum! Das Material ist wohl einfach, nicht aber die
Lösung!
Blällem wh einmal in dem vorliegenden ersten Band.
In NI. 255, einer Stellung aus dem Weltmeisterschaflskampf 1935,
konnte Weltmeister Aljechin durch 1. a5-a61 gewinnen, beging aber
den entscheidenden Fehler 1. Ta7-h7? Woraufhin Weltmeister Euwe
durch 1.... Tb1-a1! hälle remis halten können, aber seinerseits den
entscheidenden Fehler 1. ... Tb1-c1t? machte und verlor.
In NI. 399 verlor Weltmeister DI. Emanuel Lasker in einer Remis
stellung. Ebenso Bogoljubow in Nr. 79 und Kostitsch in der teuflischen
NI. 395.
Reshevsky konnte in Nr. 396 gegen Aljechin nicht gewinnen. Ebenso
verstanden Maroczy in NI. 406 und Bogoljubow in den Nm. 138 und 404
nicht zu gewinnen.
In NI. 320 hat Tarrasch eine Remisstellung. Und was spielt er? Er
spielt gar nichts: er gibt auf!
In Nr. 321 erreicht Bogoljubow durch einen entscheidenden Fehler
von Thomas Gewinnstellung. Was spielt er? Nichts: er bietet remis und
Thomas nimmt an!
Ich weiß nicht mehr, wer, aber irgendein berühmter Pianist sagte
einmal sehr humorvoll, eine Sonate mache man nur mit seinen falschen
Noten!
Könnte ein Spieler nur alle die halben Punkte fiir sich buchen, di~
in der Welt durch ungenügende Kenntnis der Endspiele verloren gehen,
ich glaube, seine Trophäensammlung wäre unübertreiibar!
Eine Fortsetzung dieser berühmten Fehlerbeispiele findet man in
Band Hund HI. Man könnte noch mehr anführen, aber diese genügen
reichlich, um die direk te Nützlichkeit des Studiums von Endspielen
überzeugend zu bewejsen.
Sein indir e k te r Nutzen ist nicht weniger wichtig: es schult den
Spieler, weit und richtig vorauszusehen, esbereichertseine Vorstellungs
kraft mit neuen und ungeahnten Kunstgriffen, es enthüllt ihm die ver
borgenen Hilfsmittel und die umfassende Macht der Steine. Und der
größte Vorteil ist, daß alle diese Fortschritte nicht unter Langeweile
9